Der Rücktritt Stanislaw Wielgus’ vom Amt des Warschauer Erzbischofs hat ein Schlaglicht auf die tiefe Krise der katholischen Kirche in Polen geworfen. Dieses Bollwerk der Reaktion, das maßgeblich dazu beigetragen hat, die Massenopposition gegen das stalinistische Regime ins Fahrwasser der kapitalistischen Restauration zu lenken, verliert zunehmend an Einfluss.
Wielgus war am 7. Januar unmittelbar vor seiner feierlichen Amtseinführung zurückgetreten, nachdem in den Tagen zuvor Akten veröffentlicht worden waren, die eine enge Zusammenarbeit des Kirchenmannes mit der polnischen Staatssicherheit beweisen.
Das Regime der Gebrüder Kaczynski ist in der Wielgus-Affäre tief gespalten. Teile des national-konservativen Regierungslagers - die Partei Samoobrona des stellvertretenden Ministerpräsidenten Andrzej Lepper, der nationalkatholische Rundfunksender "Radio Maryja" und der Primas der katholischen Kirche, Kardinal Jozef Glemp - verteidigen Wielgus trotz seiner Spitzeltätigkeit für den stalinistischen Geheimdienst. Andere national-konservative Kreise - wie die radikal antikommunistische Zeitung Gazeta Polska, die Beweise über Wielgus’ Spitzeltätigkeit veröffentlichte - greifen ihn vehement an.
Den Kaczynskis selbst kommt die Entlarvung des hohen katholischen Würdenträgers in hohem Maße ungelegen. Weil sie ihre sozialen Versprechungen nicht erfüllen können und in wachsendem Maße unpopulär sind, setzen sie verstärkt auf die abgenutzte Karte des Antikommunismus. Die sogenannte "Lustration" - die "Durchleuchtung" aller Personen, die öffentliche Ämter bekleiden, auf eine mögliche Geheimdienstvergangenheit - bildet einen zentralen Punkt ihres Regierungsprogramms. Die Entlarvung eines hohen katholischen Würdenträgers als Spitzel der polnischen Stasi macht den beiden bigotten Katholiken nun einen Strich durch die Rechnung.
Dabei ist Wielgus nur die Spitze des Eisbergs. Das Institut für das nationale Gedenken (IPN) in Warschau, das die Geheimdienstakten verwaltet, geht davon aus, dass 10 bis 15 Prozent aller polnischen Priester in Kontakt zum Inlandsgeheimdienst (SB) standen. Andere Schätzungen sind noch weit höher.
Die polnische Zeitung Dziennik berichtet über Unterlagen, laut denen der Geheimdienst in höchste Kirchenkreise vorgedrungen sei und sogar Einfluss auf die Wahl des Primas zu nehmen versuchte. In den Geheimdienstmaterialien seien die Pseudonyme von zwölf Bischöfen aufgelistet, die Ende der 70er-Jahre über Interna der Bischofskonferenz berichtet haben sollen.
Stalinistisches Regime und katholischer Klerus
Diese Zahlen machen deutlich, dass es sich bei Wielgus und anderen Geheimdienstinformanten nicht um vereinzelte schwarze Schafe handelt. Trotz den zum Teil heftigen Konflikten zwischen katholischem Klerus und stalinistischem Regime stimmten beide in einer grundlegenden Frage überein: Beide fürchteten eine revolutionäre Bewegung, in der die Interessen der Bevölkerung unverfälschten Ausdruck gefunden hätten.
Das stalinistische Regime empfand die großen Streikbewegungen von 1956, 1970, 1976 und 1980 zu Recht als Bedrohung seiner Herrschaft. Die katholische Kirche, die auf eine jahrhundertealte Tradition der Verteidigung von Herrschaft und Eigentum zurückblickt, dient seit der russischen Oktoberrevolution von 1917 weltweit als Bastion des Antikommunismus. Nicht zufällig unterstützte sie im Spanischen Bürgerkrieg Franco-Faschisten.
Als sich 1980 zehn Millionen polnische Arbeiter zur Gewerkschaft Solidarnosc zusammenschlossen, nutzte die Kirche ihren Einfluss in dem traditionell katholischen Land, um die fortschrittlicheren Elemente zu isolieren und die Bewegung in eine nationalistische Sackgasse zu lenken. Mit ihrer langen Erfahrung als Verteidigerin von Macht und Ordnung war sie sich bewusst, dass man sich einer solchen Massenbewegung nicht einfach passiv entgegenstellen kann, sondern sie aktiv beeinflussen muss, um ihr die Spitze zu brechen.
Der zwei Jahre zuvor ernannte polnische Papst spielte dabei eine höchst aktive Rolle. Schon 1980 lud er eine Solidarnosc-Delegation zur Audienz in den Vatikan ein. Papst Wojtyla arbeitete dabei eng mit dem amerikanischen Geheimdienst zusammen und organisierte über verschiedene Kanäle mindestens 50 Millionen Dollar Unterstützung für die Gewerkschaft. Das massive Eingreifen des Vatikans trug maßgeblich dazu bei, dass fortschrittliche Ansätze innerhalb der Solidarnosc an den Rand gedrängt wurden und der klerikal-nationale Flügel um Lech Walesa dominieren konnte.
Die von der Kirche beeinflussten Berater und Führer von Solidarnosc waren im Folgenden bemüht, eine offene Konfrontation mit dem Regime zu verhindern. Je heftiger die Konfrontationen mit der Regierung wurden, desto mehr entwickelte sich die Solidarnosc-Führung zur Feuerwehr, die die Arbeiter zügelte. Als General Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht ausrief, Tausende Arbeiter einsperren und Dutzende erschießen ließ, blieb die Gewerkschaft völlig gelähmt.
Jozef Glemp, schon damals Primas der polnischen Kirche, betrachtete es als seine wichtigste Aufgabe, die Ordnung aufrecht zu erhalten. In seiner Weihnachtsbotschaft im Jahr 1982 mahnte er, "die Wunden, die das letzte Jahr geschlagen hat, zum Weihnachtsfest nicht wieder aufzureißen". Er verurteilte zwar gewisse Maßnahmen des Regimes, diese würden aber vor allem von lokalen Behörden angeordnet, die nicht im Einklang mit dem Willen der Zentralmacht stünden. "Niedergeschlagenheit und Apathie, Leidenschaft und Verzweiflung sind gefährliche Zustände der Seele," warnte er mögliche Heißsporne. "Auf so schwankenden inneren Haltungen kann man schwer eine gesellschaftliche Ordnung aufbauen."
Papst Wojtyla unternahm 1983 und 1987 zwei "Pilgerreisen" in sein Heimatland und traf sich beide Male mit Militärmachthaber Jaruzelski. Dabei soll es zwar teilweise recht heftig zugegangen sein. Doch auch dem Papst ging es in erster Linie darum, eine revolutionäre Entwicklung zu unterbinden und die Weichen in Richtung kapitalistische Restauration zu stellen.
Es ist bezeichnend für die Beziehung des Papsts zum General, dass er ihn auch nach der Wende, als er längst keine offiziellen Funktionen mehr ausübte, im Vatikan empfing. Noch im Januar 2002 gewährte Papst Wojtyla dem Privatmann Jaruzelski eine zweieinhalbstündige Audienz.
Und im Januar vergangenen Jahre meldete Radio Vatikan: "Der letzte kommunistische Präsident Polens, General Wojciech Jaruzelski, wird im Seligsprechungsprozess für Papst Johannes Paul II. als Zeuge aussagen. ... Beim diözesanen Seligsprechungs-Verfahren für Johannes Paul im Erzbistum Krakau soll Jaruzelski, der 1981 das Kriegsrecht verhängt hatte, vor allem zum politischen Profil von Papst Wojtyla aussagen."
Dass der ehemalige Putschgeneral als Kronzeuge auftritt, um Papst Wojtyla in den Heiligenstand zu verhelfen, sagt mehr über die tatsächliche Beziehung zwischen Stalinismus und Kirche aus, als alle offiziellen Mythen über den angeblichen kirchlichen Widerstand.
Wielgus als Spitzel
Da ist es nur logisch, dass viele Kirchenmänner noch einen Schritt weiter gingen und dem stalinistischen Geheimdienst als Spitzel dienten. Wojtylas Nachfolger Ratzinger zumindest scheint die diesbezügliche Vergangenheit des Warschauer Erzbischofs nicht gestört zu haben.
Wielgus versicherte in seiner Rücktrittsrede, er habe den Vatikan informiert: "Ich habe dem Heiligen Vater und den entsprechenden Vatikanischen Behörden auch meinen Lebensweg geschildert, einschließlich des Teils meiner Vergangenheit, die meine Verstrickung bei den Kontakten mit den damaligen Sicherheitsbehörden betrifft, die in einem der Kirche feindlich gesinnten Staat unter totalitären Bedingungen aktiv waren."
Von vatikanischer Seite wird dies zwar bestritten. Aber entsprechende Vorwürfe gegen Wielgus waren seit längerem bekannt. Die Kirche hat bisher allerdings eine Aufarbeitung der Archive weitgehend unterbunden.
Wielgus log dreist und bestritt jedes Zusammentreffen mit dem stalinistischen Geheimdienst, bis die veröffentlichten Dokumente das Gegenteil bewiesen. Unter ihnen befindet sich die schriftliche Erklärung, mit der sich Wielgus zu Beginn der 70er Jahre verpflichtete, während eines Auslandsstudiums in München die dortige Exilgemeinde und insbesondere die polnische Redaktion des Radiosenders "Freies Europa" zu observieren.
In den folgenden fünf Jahren soll er sich etwa fünfzig Mal mit dem Geheimdienst getroffen haben. Laut einem Geheimdienstbericht soll er an der Katholischen Universität Lublin weitere möglich Spitzel ausfindig gemacht, Profile von Priestern und Wissenschaftlern erstellt und ein Stimmungsbild des Lehrpersonals während der politischen Krisen von 1968 und 1970 abgegeben haben.
Wielgus selbst bestreitet zwar, durch seine Tätigkeit jemandem geschadet zu haben, ist aber angesichts seiner vorherigen Behauptung, niemals in Kontakt mit dem Geheimdienst getreten zu sein, kaum mehr glaubwürdig.
Nur einen Tag nach Wielgus Abschied trat noch ein weiterer ranghoher Geistlicher wegen Geheimdienstkontakten zurück. Der Prälat der Wawel-Kathedrale in Krakau, Janusz Bielansk, bot Kardinal Stanislaw Dziwisz seinen Rücktritt an, den dieser umgehend annahm.
Die Newsweek Polska berichtete außerdem, dass zahlreiche Geistliche aus dem Umfeld des Krakauer Kardinals Dziwisz massiv zu einer Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst gedrängt worden seien. Dziwisz war zunächst Kaplan von Karol Wojtyla und nach dessen Wahl zum Papst sein persönlicher Assistent.
Diese Veröffentlichungen zogen heftige Reaktionen nach sich. Viele Zeitungen traten für eine gründliche Durchleuchtung der Kirchengeschichte ein. Gleichzeitig gab es massiven Protest gegen ein solches Vorgehen. So verteidigte Kardinal Glemp Wielgus mit den Worten: "Auch der Apostel Petrus machte Fehler. Er verleugnete Jesus, und trotzdem führte er als erster das Christentum an."
Sogar Regierungschef Jaroslaw Kaczynski, sonst ein heftiger Befürworter der Entlarvung stalinistischer Spitzel, ruderte zurück und nahm Wielgus in Schutz: "Es darf nicht sein, dass die Schuld der Henker von der Schuld derer zugedeckt wird, die Böses getan haben und gebrochen wurden, aber doch Opfer waren."
Die polnische Bischofskonferenz versprach, alle Geheimdienstunterlagen über Bischöfe durcharbeiten zu lassen. Die Ergebnisse der Untersuchung sollen allerdings nicht der Öffentlichkeit, sondern lediglich dem Papst zugänglich gemacht werden.
Die Wielgus-Affäre ist ein Symptom für die Krise der katholischen Kirche in Polen. Ihre Verquickung mit den rechtesten politischen Kreisen und die katastrophalen sozialen Folgen der Einführung des Kapitalismus haben die Kirche in den Augen vieler Polen diskreditiert. In einem Land, in dem 95 Prozent er Bevölkerung katholisch getauft sind, laufen ihr die Gläubigen rasch davon. Gingen vor zwanzig Jahren noch über 80 Prozent der Warschauer regelmäßig zur Sonntagsmesse, sind es heute weniger als ein Drittel. Ihren Einfluss halten konnte die Kirche lediglich in den rückständigen ländlichen Gebieten Ostpolens.
Drei Jahrzehnte lang war die katholische Kirche in Polen ein wichtiges Bollwerk gegen jede fortschrittliche gesellschaftliche Entwicklung. Die heutigen Regierungsparteien - allen voran die PiS der Kaczynski-Brüder und "Liga Polnischer Familien" (LPR) - stützen sich auf religiöse Vorurteile und Rückständigkeit, um ein brutales Programm gegen die Bevölkerung durchzusetzen. Mit der Krise der Kirche gerät das gesamte polnische Nachwende-Regime ins Wanken. So gesehen hat Regierungschef Kaczynski recht, wenn er sagt, die derzeitige Krise der katholischen Kirche Polens sei auch eine "nationale Krise".