Am 15. Februar letzten Jahres hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe das noch von der alten, rot-grünen Bundesregierung eingeführte "Luftsicherheitsgesetz" für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Das Gesetz sollte den Verteidigungsminister ermächtigen, den Abschuss von zivilen Passagierflugzeugen anzuordnen, wenn "nach den Umständen davon auszugehen ist", dass das Flugzeug "gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll".
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat auf dieses Urteil reagiert, indem er eine Verfassungsänderung vorschlägt, die sehr viel weiter geht. Sie soll nicht nur den Abschuss von Zivilflugzeugen im Falle eines vermuteten Terroranschlags erlauben, sondern die Regierung ermächtigen, die Bundeswehr im Innern gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen.
Schäuble will Artikel 87a Absatz 2 des Grundgesetzes (GG) dahingehend erweitern, dass die Streitkräfte nicht nur zur Landesverteidigung, sondern auch "zur unmittelbaren Abwehr eines sonstigen Angriffs auf die Grundlagen des Gemeinwesens" eingesetzt werden können.
In einem derartigen Quasi-Verteidigungsfall, so die Argumentation des Innenministers, gälten dann die Regeln des Kriegsvölkerrechts. Diese erlauben militärische Angriffe auf Zivilisten. Derartige Angriffe sind nur dann verboten, wenn sie "in keinem Verhältnis zu erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteilen stehen".
Die Begründung, mit der das höchste Gericht das Luftsicherheitsgesetz kassiert hatte, würde auf diese Weise ausgehebelt. Das BVerfG hatte sein Urteil auf Artikel 1 des Grundgesetzes gestützt, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt. Die Opferung unschuldiger Leben, um andere zu retten, sei mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren, hatte das Gericht erklärt. Menschenleben dürften nicht instrumentalisiert und gegeneinander aufgerechnet werden,
Schäuble reagiert darauf, indem er - wie die Bush-Regierung in den USA - Terroranschläge und andere "Angriffe auf die Grundlage des Gemeinwesens" zum Kriegsfall erklärt. Die Unterscheidungen zwischen einem völkerrechtlichen Angriff und innerstaatlichen Verbrechen, zwischen Kombattanten und Kriminellen, zwischen Krieg und Frieden werden aufgehoben. Es handle sich, so Schäuble, um "überkommene Begriffe". Die Menschenwürdegarantie sei in "extremen Notstandssituationen immanent beschränkt".
Die Formulierung "Angriffe auf die Grundlage des Gemeinwesens" ist derart schwammig, dass sie sich nach Belieben dehnen lässt. Schäuble beschwört zwar permanent das Szenario der Terroranschläge vom 11. September 2001, als Terroristen mit vollbesetzten Passagierflugzeugen in zwei besetzte Bürotürme flogen. In dem jetzigen Vorschlag zur Verfassungsänderung tauchen aber weder Flugzeuge noch das Wort Terrorismus auf. Unter einem "sonstigen Angriff auf die Grundlagen des Gemeinwesens" können ebenso gut große Protestbewegungen oder ein Generalstreik verstanden werden.
Schäuble selbst hat am 5. Januar in einem ausführlichen Beitrag für den Berliner Tagesspiegel deutlich gemacht, dass es ihm nicht in erster Linie um die Gefahrenabwehr, um den Schutz der Bürger geht, sondern um die Verteidigung des Staates. Die von ihm angestrebte Regelung sei "dem Bereich des Politischen zuzuordnen," schreibt er. "Bei der Gefahrenabwehr geht es um den Schutz individueller Rechtsgüter. Die Grundlagen des Gemeinwesens sind demgegenüber ein kollektives Schutzgut. Ist der Staat als Ganzes bedroht, ist er berechtigt, seine Existenz zu verteidigen und das Erforderliche zu tun, um das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf seinen Zusammenbruch zielen."
Bezeichnenderweise beruft sich Schäuble auf Thomas Hobbes und dessen Werk Leviathan von 1651 als "Ausgangspunkt modernen Staatsdenkens". Hobbes’ Leviathan, geschrieben unmittelbar nach dem englischen Bürgerkrieg, stand für den absolutistischen Staat, an den das Individuum all seine Rechte abgibt, indem es auf seine Freiheit verzichtet. Aufgabe des allmächtigen Leviathans ist es laut Hobbes, den "Behemoth" mit allen Mitteln zu bekämpfen. Der Behemoth stand für die Revolution.
Nach dieser Logik kann jedes Grundrecht, jeder Schutz des Individuums beseitigt werden, wenn die Regierung es für notwendig erachtet, "das Erforderliche zu tun" um den Staat zu verteidigen. Schäuble war bereits früher dafür eingetreten, zur Terrorabwehr Informationen zu nutzen, die vermutlich durch Folter in anderen Staaten erlangt wurden.
Der Innenminister begründet seine Angriffe auf demokratische Grundrechte damit, dass der "neue Terrorismus" eine völlig neue Infrastruktur geschaffen habe und sich "gegen die Gesellschaft insgesamt" richte.
Des weiteren führt er die UNO-Resolution 1368 an, die die Anschläge vom 11. September als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wertete und angegriffenen Staaten das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung zusprach. Bei dieser Resolution handelte es sich um eine - sehr zweifelhafte - völkerrechtliche Legitimation für den Krieg gegen Afghanistan, dessen Taliban-Regierung die Al Quaeda beherbergt hatte. Eine Grundlage für die Anwendung des Kriegsrechts bei der Bekämpfung von Terroristen im Innern war die Resolution 1368 dagegen nicht.
Heribert Prantl verglich die von Schäuble angestrebte Verfassungsänderung in der Süddeutschen Zeitung mit dem Artikel 68 der Verfassung des Kaiserreichs von 1871, der den so genannten Reichsbelagerungszustand regelte. Danach konnte der Kaiser den Ausnahmezustand verhängen und Grundrechte außer Kraft setzen, wenn eine,,dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit" vorlag, die mit,,gewöhnlichen Mitteln", wie einem Polizeieinsatz, nicht zu bewältigen war.
Prantl hätte gar nicht bis zum Kaiserreich zurückgehen müssen. In der Verfassung der Weimarer Republik von 1919 hieß es in Artikel 48 Absatz II: "Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten." Dazu durfte er auch die meisten Grundrechte außer Kraft setzen.
Reichspräsident Ebert (SPD) wandte diesen Artikel allein bis 1921 mehr als ein Dutzend Mal an, meist gegen politische Bewegungen von Arbeitern, die sich gegen die kapitalistischen Verhältnisse richteten und die von Reichswehr und rechtsradikalen Freikorps mit aller Brutalität unterdrückt wurden.
Die unbeirrte Hartnäckigkeit, mit der Schäuble sein Ziel eines Bundeswehreinsatzes im Innern verfolgt, wird von vielen Kommentatoren auf persönliche Charaktereigenschaften zurückgeführt. In Wirklichkeit setzt Schäuble nur die von der Großen Koalition beschlossene Politik konsequent in die Tat um.
Schon im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD hatte es geheißen: "Gerade im Hinblick auf asymmetrische Formen der Bedrohung, die insbesondere aus terroristischen Aktivitäten bestehen, ist die äußere von der inneren Sicherheit nicht mehr trennscharf zu unterscheiden. Soweit für besondere Gefährdungen der Sicherheit unseres Landes gesetzlicher oder verfassungsmäßiger Regelungsbedarf besteht, wird die Bundesregierung Initiativen vorlegen."
Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) hatte schon im Frühjahr letzten Jahres eine Neudefinition des Verteidigungsfalles gefordert, die auch Terrorismus mit einschließt. In dem im Herbst letzten Jahres veröffentlichten Weißbuch zur Sicherheitspolitik heißt es, die Bundesregierung halte "eine Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens" für notwendig, um den Einsatz der Streitkräfte unter Anwendung militärischer Kampfmittel im Innern zu ermöglichen.
Auch der innenpolitische Sprecher der SPD, Dieter Wiefelspütz, tritt laut einem Bericht der taz vom 6. Januar für eine "veränderte Interpretation des Begriffs der Verteidigung" ein. Für ihn sei es "ohne Bedeutung, von wem die Gefahren oder der Angriff" ausgehen. Verteidigung ist für Wiefelspütz der Schutz des Staatsgebietes und seiner Bürger, wenn "polizeiliches Handeln erkennbar nicht für die Gefahrenabwehr ausreicht".
Die Große Koalition war Ende 2005 gebildet worden, um die von der Regierung Schröder in Angriff genommene Agenda 2010 gegen den wachsenden Widerstand der Bevölkerung durchzusetzen. Durch das Zusammengehen der beiden größten Parteien wurde jede ernsthafte Opposition im Rahmen der parlamentarischen Institutionen ausgeschaltet. Das hat zwangsläufig zur Folge, dass sich die wachsenden sozialen Spannungen außerhalb dieser Institutionen entladen.
Der 75-jährige Theo Sommer, langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der Zeit, warnte kürzlich in einem Resümée des Jahres 2006: "Wenn genügend Leute glauben, dass die krasse ökonomische Vernunft sie ihrer Lebenschancen beraubt, werden sie sich erheben. Jedenfalls kann selbst in unserem Teil der Welt niemand die Hand dafür ins Feuer legen, dass es künftig keine Revolution mehr geben wird. Man sollte die Geschichte nicht durch einen Mangel an Fantasie beleidigen."
In diesem Zusammenhang müssen Schäubles Angriffe auf verfassungsmäßige Grundrechte gesehen werden. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung maßt sich die Regierung wieder autoritäre Befugnisse an, wie sie einst der Kaiser und der Weimarer Reichspräsident besaßen und gegen rebellierende und sozialistisch gesonnene Arbeiter einsetzten.