Der aus Bremen stammende Murat Kurnaz ist frei. Nach viereinhalbjähriger Gefangenschaft wurde er am Donnerstagabend aus dem Gefangenenlager Guantanamo in die US-Basis Ramstein geflogen, den deutschen Behörden überstellt und umgehend freigelassen.
Im Leidensweg Kurnaz’ zeigt sich die gesamte Willkür, Widerrechtlichkeit und Brutalität des so genannten "Kampfs gegen den Terror" der US-Regierung. Er entlarvt aber auch die Doppelzüngigkeit der früheren rot-grünen deutschen Bundesregierung, die sich öffentlich gegen den Irakkrieg aussprach und die Bush-Administration kritisierte, während sie hinter den Kulissen mit ihr zusammenarbeitete und ihre rechtswidrigen Praktiken unterstützte. Wie jetzt bekannt geworden ist, hätte Kurnaz schon 2002 freikommen können, wenn die damalige Bundesregierung gewollt hätte. Doch sie wollte nicht.
Murat Kurnaz wurde 1982 als Sohn türkischer Einwanderer in Bremen geboren, wo er aufwuchs und eine Schiffbauerlehre absolvierte. Obwohl er sein gesamtes Leben in Deutschland verbrachte, beantragte er nie einen deutschen Pass. Im Oktober 2001 reiste der 19-Jährige dann mit der Absicht nach Pakistan, eine Koranschule zu besuchen. Doch dazu kam es nicht, da er nach kurzer Zeit von pakistanischen Sicherheitskräften festgenommen und gegen ein Kopfgeld an die US- Streitkräfte in Afghanistan verkauft wurde. Diese folterten und misshandelten ihn und überstellten ihn schließlich im Januar 2002 ins Gefangenenlager Guantanamo.
Noch im selben Jahr gelangten sowohl die amerikanischen wie die deutschen Behörden zum Schluss, dass sich Kurnaz nicht strafbar gemacht habe und keine Gefahr darstelle. Dies gehe aus den ihnen zugänglichen Akten eindeutig hervor, erklärten Kurnaz’ Anwälte, der amerikanische Rechtsprofessor Baher Azmy und der Bremer Rechtsanwalt Bernhard Docke, am Samstagabend auf einer Informationsveranstaltung in Berlin.
Dennoch verbrachte Kurnaz weitere vier Jahre als Gefangener in einem menschenunwürdigen Verließ. Unter völliger Isolation von der Außenwelt saß er unter ständiger Beobachtung in einem Gitterkäfig. Das gleißende Neonlicht blieb 24 Stunden am Tag eingeschaltet.
Die Verantwortung für dieses Martyrium trägt neben der amerikanischen Regierung in Washington auch die deutsche in Berlin.
Wie Rechtanwalt Docke berichtete, stand er 2002 in ständiger Verbindung mit dem Auswärtigen Amt und versuchte, es für eine Intervention zugunsten seines Mandanten zu gewinnen. In Briefen, die von Außenminister Joschka Fischer persönlich oder in dessen Auftrag unterzeichnet waren, sei er mit stets gleich lautenden Argumenten abgewiesen worden: "Er hat die türkische Staatsangehörigkeit. Die Amerikaner lassen nicht mit sich verhandeln. Die machen das nicht zum Thema, auch wenn wir es wollen. Wir bedauern die Situation in Guantanamo, aber wenn die Amerikaner sich so verhalten, können wir nicht effektiv helfen. Wenden sie sich doch bitte an die Türkei."
Die türkische Regierung ihrerseits zeigte kein Interesse an einem Staatsbürger, der in Deutschland geboren und aufgewachsen war.
Er sei fast vom Stuhl gefallen, berichtete Docke weiter, als er dann Anfang dieses Jahres Einzelheiten aus einem vertraulichen Bericht der Bundesregierung an das parlamentarische Kontrollgremium gesehen habe. Daraus geht hervor, dass die rot-grüne Bundesregierung nicht nur einen intensiven Informationsaustausch mit den US-Behörden über Kurnaz gepflegt, sondern auch ein amerikanisches Angebot abgelehnt hat, ihn freizulassen und nach Deutschland zu überstellen.
"Sie können sich vorstellen, nachdem ich über Jahre versucht habe, die deutsche Regierung in eine diplomatische Verantwortung zu bekommen, sich für diesen Menschenrechtsfall Kurnaz stark zu machen, zu engagieren, wie unglaublich enttäuscht und schockiert ich war, dass da ein Doppelspiel getrieben wurde", sagte Docke. "Mir gegenüber wurde suggeriert: Wir würden ja gerne, wir können nur nicht’. Hinter der Fassade hat es aber intensivsten Austausch gegeben."
Die Süddeutsche Zeitung hat inzwischen die entsprechenden Passagen aus dem vertraulichen Bericht an das parlamentarische Kontrollgremium vom vergangenen Jahr veröffentlicht. Der Bericht sollte durch die Preisgabe neuer Details der Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses über den Bundesnachrichtendienst zuvorkommen - was allerdings misslang.
Kurnaz war Ende September 2002 in Guantanamo von Beamten des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) verhört worden, die zum Schluss gelangten, dass der Gefangene "lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort war, jedoch mit Terrorismus geschweige denn mit Al Kaida nichts zu tun hat". Dieser Besuch deutscher Beamter in Guantanamo ist seit längerem bekannt und soll Gegenstand der Untersuchungen des BND-Ausschusses sein.
Aus den vertraulichen Unterlagen geht nun hervor, dass sich Washington kurz danach bereit erklärt hatte, Kurnaz’ freizulassen. Das Pentagon erkundigte sich in Berlin, wohin er abgeschoben werden solle. Im Bundeskanzleramt fand daraufhin eine vertrauliche Besprechung statt, zu der es in den Unterlagen heißt: "29. Oktober 2002: Der Bundesnachrichtendienst plädiert für Abschiebung in die Türkei und Einreisesperre für Deutschland. Abteilungsleiter 6 Kanzleramt und Staatssekretär Bundesinnenministerium teilen die Auffassung."
Das Bundeskanzleramt Gerhard Schröders (SPD), geleitet vom heutigen Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), das Innenministerium Otto Schilys (SPD) und der BND unter August Hanning (heute Staatssekretär im Innenministerium) waren also übereingekommen, gegen den Guantanamo-Häftling eine Einreissperre zu verhängen. Das Außenministerium Joschka Fischers (Grüne) war zwar nicht direkt beteiligt, dass es über den Beschluss nicht informiert war, ist aber in höchstem Grade unwahrscheinlich.
Deutlicher könnte die Komplizenschaft der rot-grünen Bundesregierung am Unrechtsystem Guantanamo nicht sein. Gegen Kurnaz, der in Deutschland aufgewachsen war, dessen Eltern und Geschwister in Deutschland lebten und der über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verfügte, wurde ein Rückkehrverbot verhängt, obwohl weder Anklage noch Schuldbeweis gegen ihn vorlagen. Isoliert in Guantanamo konnte er sich gegen diese Entscheidung nicht zur Wehr setzen, ja er wurde noch nicht einmal darüber informiert.
Die deutsche Entscheidung stieß in den USA auf Irritation und Verwunderung, wie aus einer ebenfalls im vertraulichen Bericht zitierten Information des BND an die Bundesregierung zu entnehmen ist. "Entscheidung der Bundesregierung, wonach Kurnaz nicht nach Deutschland abgeschoben werden solle, stößt bei US-Seite auf Unverständnis", heißt es darin. "Freilassung sei wegen seiner nicht feststellbaren Schuld sowie als Zeichen der guten Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden geplant gewesen."
Parallel zur Bundesregierung entzog auch die Heimatstadt Bremen Kurnaz die Aufenthaltserlaubnis. Sie tat dies mit einer Begründung, die Carl Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick" entstammen könnte: Kurnaz, der in Guantanamo festsaß, habe es versäumt, innerhalb der vorgeschriebenen Sechsmonatsfrist die Verlängerung seiner Aufenthaltstitels zu beantragen. Erst eine Gerichtsentscheidung machte diesen bürokratischen Willkürakt rückgängig.
Es bedurfte eines Regierungswechsels in Berlin, damit Kurnaz schließlich doch noch frei kam. CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) brachte den Fall, vor dem sich die Regierung Schröder feige gedrückt hatte, bei einem Treffen mit Präsident Bush im Januar schließlich zur Sprache und leitete damit die Verhandlungen ein, die zu seiner Freilassung führte.
Das System Guantanamo
Kurnaz selbst ist seit seiner Rückkehr nach Deutschland nicht öffentlich aufgetreten. Aber die Schilderungen seiner Anwälte illustrieren anschaulich den barbarischen Charakter des Systems Guantanamo, das allen rechtstaatlichen Prinzipien zuwiderläuft, die seit der Aufklärung errungen wurden. Kurnaz wurde nicht nur ohne Anklage und Urteil viereinhalb Jahre lang rechtswidrig festgehalten, seine Haftbedingungen erfüllen auch in jeder Hinsicht das Kriterium der physischen und psychischen Folter.
In Afghanistan, wo Kurnaz wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September in die Gewalt der US-Armee geriet, nahm die Folter brutale physische Formen an, wie sein US-Anwalt Baher Azmy berichtete, der ihn als einziger einige Male in Guantanamo besuchen durfte.
"Die damaligen US-Soldaten in Afghanistan waren wütend, schlecht organisiert und rachsüchtig", sagte Azmy. "Kurnaz wurde herumgestoßen. Er lebte draußen in klirrender Kälte ohne entsprechende Kleider. Sein Leben wurde bedroht, indem man seinen Kopf unter Wasser hielt. Man band ihm Elektroden an die Füße und scherzte, nun würde ihm warm. Er erhielt kein Essen. Es war ein chaotisches System der Gewalt."
Man habe Kurnaz damals nach Verbindungen zu Mohammed Atta gefragt, einem der Attentäter vom 11. September, berichtete Azmy. Doch dies sei reine Spekulation gewesen, beruhend auf Kurnaz’ deutscher Herkunft - Atta hatte in Deutschland studiert - und seiner Reise nach Pakistan. Sonst habe es keinerlei Hinweise für eine solche Verbindung gegeben. In Kurnaz’ Akten werde sie überhaupt nicht erwähnt. Dennoch sei dies wohl der Grund gewesen, weshalb man ihn nach Guantanamo überstellt habe.
In Guantanamo sei dann die Misshandlung weniger gewaltsam, dafür aber systematischer gewesen, fuhr Azmy fort. "Guantanamo ist als Verhörlager konzipiert. Im Rahmen dieser Konzeption wurden Techniken entwickelt, erprobt und wiederholt, die die Häftlinge brechen sollen. Guantanamo hat die Aufgabe, Bedingungen vollkommener Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu schaffen, daher die vollkommene Isolation von der Menschheit, der Familie, der Außenwelt. Sie glauben, so könne man den Häftling am ehesten dazu bringen, sich dem Vernehmungsbeamten zu unterwerfen und zu kommunizieren. Das System dient nicht dazu, Schuld zu ermitteln. Als es konzipiert wurde, dachten sie, sie könnten die Gerichte umgehen und Geheimgefängnisse aufbauen, die keinem Gesetz unterliegen, in denen sie mit Verhörtechniken experimentieren und machen können, was sie wollen."
Selbst als Kurnaz’ Freilassung beschlossene Sache war, wurde er weiterhin wie ein Schwerverbrecher behandelt. Er wurde in einem schweren Militärtransporter nach Deutschland zurückgeflogen, der über dem Atlantik zweimal aufgetankt werden musste. Bewacht von 15 Soldaten saß er zehn Stunden lang geknebelt und mit verbundenen Augen im Flugzeug, an Händen und Füssen an den Boden gefesselt. Selbst den erfahrenen deutschen Diplomaten, die Kurnaz in Ramstein in Empfang nahmen, sei der Schock über diese Behandlung noch Stunden später anzumerken gewesen, berichtete Azmy.
Der US-Anwalt sieht darin eine "Metapher für den Krieg der USA gegen den Terrorismus, diese krasse Überreaktion auf eine erdachte Bedrohung. Das Vorgehen des Militärs steht in keinem Verhältnis zur Wirklichkeit."
Die Schilderungen Bernhard Dockes ließen erahnen, welche Auswirkungen diese Tortur auf die Persönlichkeit eines Menschen hatte, der mit 19 Jahren in die Mühlen dieses gewalttätigen Apparats geriet. Er beschrieb wie Murat seine jüngeren Brüder kaum wieder erkannte, auf der Autobahn ausstieg, um erstmals seit fünf Jahren wieder einen Sternenhimmel zu betrachten, oder fasziniert ein Handy mit Bildschirm betrachtete, das er noch nie zuvor gesehen hatte.