Der dreimonatige Streik der Ärzte an den Universitätskliniken, der Mitte Juni mit einem Teilerfolg zu Ende ging, wurde von einem der übelsten Fälle von Streikbruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte begleitet. Die Dienstleitungsgewerkschaft Verdi und ihr Vorsitzender Franz Bsirske griffen den Ärztestreik systematisch an und sabotierten ihn.
Bereits vor Wochen hatten Bsirske und andere Mitglieder des Verdi-Vorstands vor "überhöhten Zugeständnissen an die Mediziner" gewarnt und versucht, unter Krankenschwestern, Pflegern und anderen Krankenhausbeschäftigten Stimmung gegen die streikenden Ärzte zu schüren. Verdi-Funktionäre behaupteten, "die Privilegien der Ärzte" gingen zu Lasten der übrigen Beschäftigten, denn das "verfügbare Budget der Kliniken" könne nur einmal verteilt werden.
Als sich die streikenden Ärzte nicht beirren ließen, ging die Dienstleistungsgewerkschaft noch einen Schritt weiter. Verdi schloss einen eigenen Ärzte-Tarifvertrag ab, obwohl die überwiegende Mehrheit der 22.000 Klinikärzte nicht bei Verdi, sondern im Marburger Bund organisiert ist. Der Verdi-Vertrag fiel in fast allen Punkten hinter das bereits vorliegende, von den streikenden Ärzten abgelehnte Angebot der öffentlichen Arbeitgeber zurück. Dennoch verlangten Verdi und öffentliche Arbeitgeber ultimativ, dass die Ärzte ihren Streik abbrechen und sich dem Knebelvertrag unterwerfen. Sie hatten allerdings keinen Erfolg. Die Ärzte streikten weiter und setzten schließlich einen wesentlich besseren Abschluss durch.
Selten zuvor ist die weltweit zu beobachtende Verwandlung der Gewerkschaften in eine Lohnpolizei der Arbeitgeber so deutlich zutage getreten, wie am Verhalten von Verdi gegenüber den streikenden Ärzten. Das hat zahlreiche linke Gruppen, die am Rockzipfel der Gewerkschaftsbürokratie hängen, in Schwierigkeiten gebracht.
Allen voran ist hier die seit Ende der sechziger Jahre erscheinende Monatszeitschrift Sozialismus zu nennen, die sich als Sprachrohr linker Gewerkschafter versteht und in jüngster Zeit eine zentrale Rolle beim Aufbau der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) spielte.
In der Juni-Ausgabe von Sozialismus befasst sich Mitherausgeber Michael Wendl ausführlich mit dem Tarifabschluss von Verdi. Obwohl er Verdis Haltung gegenüber den Ärzten recht ungeschminkt schildert, bringt er es nicht über sich, den Streikbruch beim Namen zu nennen, geschweige denn zu verurteilen. Er rechnet Verdi die "sehr moderate Erhöhung der Ärzteeinkommen" sogar als "Erfolg" an, weil damit "keine Umverteilungseffekte zulasten anderer Beschäftigungsgruppen ausgelöst" worden seien.
Moderate Lohnerhöhungen als Gebot der Solidarität also! Das kannte man bisher nur aus der Propaganda der Unternehmerverbände.
Wendl bezeichnet es als Entscheidung von "hoher symbolischer Bedeutung", dass "die Regelungen für die Ärztinnen und Ärzte nicht mit dem Marburger Bund, sondern mit Verdi abgeschlossen" wurden. Man kann daraus nur schließen, dass Wendl die Streikbrecherrolle von Verdi unterstützt.
Noch deutlicher wird die Zeitschrift Avanti, die dem pablistischen Vereinigten Sekretariat angeschlossen ist und sehr ähnliche politische Standpunkte vertritt wie Sozialismus. Sie wirft den Klinikärzten vor, sie setzten sich für die "Wahrung von Standesprivilegien" ein und täten so, "als wären sie die einzigen, die für unzureichende Bezahlung gute Arbeit leisten".
Weiter schreibt Avanti : "Solange die ärztlichen Beschäftigten an den Krankenhäusern nicht begreifen (wollen), dass sie nur eine von vielen Gleichberechtigten - und gleich wichtigen - Medizinberufen sind, solange sie nicht so wie die bundesweit noch etwa 600 ÄrztInnen, die nicht im Marburger Bund, sondern bei Verdi Mitglied sind, bereit sind, gemeinsam mit allen MitarbeiterInnen für eine Verbesserung der Verhältnis an den Krankenhäusern für alle zu kämpfen, bleiben ihre Aktionen ständisch fixiert und damit politisch reaktionär."
Avanti spricht Franz Bsirske aus der Seele: Solange sich die Ärzte nicht dem Diktat von Verdi unterordnen, ist ihr Kampf "politisch reaktionär".
Dabei hatte sich der Marburger Bund aus dem Tarifverband mit Verdi gelöst, weil die Ärzte nicht mehr bereit waren, die von Verdi vereinbarten Lohnsenkungen und miserablen Arbeitsbedingungen hinzunehmen. Doch anstatt die Kampfbereitschaft der Ärzte, die gegenwärtig im Streik der 70.000 Mediziner an den kommunalen Krankenhäuser ihre Fortsetzung findet, als Ausgangspunkt für eine Offensive im gesamten öffentlichen Dienst zu begrüßen, denunzieren Sozialismus und Avanti die Ärzte, weil sie sich nicht dem Diktat der Verdi-Bürokratie fügen.
Zumindest Wendl schildert recht anschaulich, mit welch üblen Tricks Verdi versucht hat, den Marburger Bund auszumanövrieren. Um die "umstrittene Tarifzuständigkeit für diese Berufsgruppe (die Ärzte)" zurückzuerobern, habe Verdi der Arbeitgeberseite "im Gegenzug einen relativ kostengünstigen Abschluss" zugestanden, schreibt er. Mit anderen Worten, damit die Arbeitgeber ihr Tarifmonopol im gesamten öffentlichen Dienst anerkennen, hat Verdi längere Arbeitszeiten, wettbewerbsorientierte Niedriglöhne und zahlreiche Öffnungsklauseln für den gesamten öffentlichen Dienst vereinbart.
Das hindert allerdings weder Sozialismus noch Avanti daran, das Tarifmonopol von Verdi als Wert an sich zu verteidigen. Beide verwandeln die Einheit der Dienstleistungsgewerkschaft in einen Fetisch, obwohl diese längst zu einer Zwangsjacke für ihre Mitglieder geworden ist. Galten Arbeitskämpfe in anderen Bereichen einst als Bereicherung und Stärkung der eigenen Position im Tarifkampf, versucht Verdi im Namen der Tarifeinheit jede andere Initiative und jede selbstständige Regung der Arbeiter zu unterdrücken.
Die Logik einer gewerkschaftlichen Perspektive
Wie ist es zu erklären, dass Publikationen wie Sozialismus und Avanti, die sich lange Zeit als Organ "linker" Gewerkschafter verstanden und in diesem Rahmen auch Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie äußerten, derart vorbehaltlos hinter die Streikbrecherrolle von Verdi stellen?
Enge persönliche Verbindungen zur Gewerkschaftsbürokratie spielen dabei sicherlich eine wichtige Rolle. Die WASG, mit der die Redaktion von Sozialismus eng verbunden ist, rekrutiert sich vorwiegend aus dem korrupten Milieu der Gewerkschaftsbürokratie.
Bedeutsamer als diese persönlichen Verbindungen ist aber die politische Perspektive, die Sozialismus und Avanti vertreten. Beide stehen auf dem Standpunkt, dass sich die Entwicklung der Arbeiterklasse zum Sozialismus nur durch die Gewerkschaften vollziehen kann. Der Klassenkampf ist für sie nur in Form des gewerkschaftlichen Kampfs denkbar. Eine politische Bewegung, unabhängig von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, lehnen sie ab. Der Kampf gegen den lähmenden Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie und der Sozialdemokratie ist für sie "Sektierertum".
Diese Perspektive hat ihre eigene, unausweichliche Logik. Je mehr Mitglieder und Einfluss die Gewerkschaften aufgrund ihrer rechten Politik verlieren, desto enger rücken Sozialismus und Avanti an die Gewerkschaftsbürokratie heran. Sie betrachten die wachsende Opposition gegen die verknöcherten gewerkschaftlichen Apparate nicht als erster Schritt zu einer unabhängigen Bewegung, die es zu ermutigen und zu orientieren gilt, sondern als Angriff auf die von ihnen verklärten Gewerkschaften.
Daraus erklärt sich ihre Reaktion auf den Ärztestreik. Hinter der Weigerung der jungen Ärzte, die unerträglichen Arbeitbedingungen an den Krankenhäusern und das Lohndiktat von Verdi länger zu ertragen, sehen sie nur den Standesdünkel des Marburger Bunds und den Angriff auf die Gewerkschaftseinheit, nicht aber den Beginn einer Rebellion gegen gesellschaftliche Verhältnisse, die jeden Aspekt des menschlichen Lebens dem Profitprinzip unterordnen. Diese Rebellion muss politisch entwickelt, ausgeweitet und in eine sozialistische Richtung geleitet werden, was nur im Kampf gegen den hemmenden Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie möglich ist.
Die gesamte historische Erfahrung der sozialistischen Arbeiterbewegung zeigt, dass die Gewerkschaften stets auf ihrem rechten Flügel standen und in Zeiten revolutionärer Klassenkämpfe auf die Seite der Reaktion wechselten.
Eine der größten deutschen Marxistinnen, Rosa Luxemburg, hatte während eines großen Teils ihres politischen Lebens auf Gewerkschaftskongressen Redeverbot. Während der Massenstreikdebatte vor hundert Jahren nahm der Hass der Gewerkschaftsführer gegen den revolutionären Flügel der damaligen Sozialdemokratie hysterische Formen an. Im September 1906 setzten die Gewerkschaftsführer auf dem Mannheimer SPD-Parteitag eine Resolution durch, die festgelegte, dass der Parteivorstand künftig in allen wichtigen Fragen mit der Generalkommission der Gewerkschaften zusammenarbeiten müsse.
Heute weiß man, dass damals die Weichen in eine verheerende Richtung gestellt wurden: Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914, Verabschiedung des Burgfriedens 1915 und schließlich, im April 1933, das Angebot des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) zur Zusammenarbeit mit dem Hitlerregime.
Dieser Rechtsdrall der Gewerkschaften ist nicht nur ein Ausfluss des korrupten gewerkschaftlichen Milieus, in letzter Analyse ist er ein Ergebnis des Charakters der Gewerkschaften selbst. Sie vertreten die Arbeiterklasse auf ökonomischem Gebiet, als Verkäufer ihrer Arbeitskraft, für die sie einen möglichst hohen Preis herausholen wollen.
"Da sie sich auf den Boden der kapitalistischen Produktionsverhältnisse stellen, sind die Gewerkschaften von ihrem ganzen Charakter her dazu gezwungen, gegenüber dem Klassenkampf eine feindliche Haltung einzunehmen", erklärte David North, Chefredakteur der World Socialist Web Site 1998 in einem Vortrag über die historischen Erfahrungen mit den Gewerkschaften.
Er fuhr fort: "Da ihre Anstrengungen darauf gerichtet sind, sich mit den Arbeitgebern über den Preis der Arbeitskraft und die allgemeinen Bedingungen der Mehrwerterzeugung zu einigen, müssen die Gewerkschaften auch sicherstellen, dass ihre Mitglieder ihre Arbeitskraft entsprechend der ausgehandelten Verträge zur Verfügung stellen. Wie Gramsci bemerkte: Die Gewerkschaften vertreten die Legalität und müssen ihre Mitglieder zur Beachtung dieser Legalität veranlassen.’ Die Verteidigung der Legalität bedeutet die Unterdrückung des Klassenkampfs. Das führt naturgemäß dazu, dass sich die Gewerkschaften langfristig selbst das Wasser abgraben. Sie unterhöhlen selbst ihre Fähigkeit, auch nur jene beschränkten Ziele zu erreichen, die sie sich offiziell gesetzt hatten. Hier liegt der Widerspruch, an dem das Gewerkschaftertum krankt."
North zog den Schluss: "Es gibt für Sozialisten, keine tragischere Illusion als die Vorstellung, dass die Gewerkschaften verlässliche oder gar unumgängliche Verbündete im Kampf gegen den Kapitalismus seien."
Seit dieser Vortrag vor acht Jahren gehalten wurde, ist diese Einschätzung in jeder Hinsicht bestätigt worden. Die Rechtswendung und der Niedergang der Gewerkschaften ist ein allgemeines internationales Phänomen. In ganz Europa kann ihre Annäherung an rechte, konservative Regierungen und ihr Auftreten als Ordnungsmacht gegenüber einer widerspenstigen Bevölkerung beobachtet werden.
In Frankreich haben die Gewerkschaften auf die Massendemonstrationen gegen den Abbau des Kündigungsschutzes reagiert, indem sie Verhandlungen mit Innenminister Nicolas Sarkozy führten und damit den rechtesten Flügel der Gaullistischen Bewegung stärkten. In Italien stehen die Gewerkschaften uneingeschränkt hinter der Regierung von Romano Prodi, dessen politische Agenda derjenigen Angela Merkles ähnlich ist. Und in Brasilien ist unter dem "linken" Gewerkschaftsführer Lula, der vor nicht allzu langer Zeit auch in der Zeitschrift Sozialismus als Hoffnungsträger gefeiert wurde, ein rechtes Regime errichtet worden, das das uneingeschränkte Vertrauen des Internationalen Währungsfonds genießt.