Bundesinnenminister Schily verbietet kurdische Tageszeitung und palästinensischen Sozialverein

Am Montag hat Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) die türkischsprachige kurdische Tageszeitung Özgür Politika [Freie Politik] und den palästinensischen Spendensammelverein "YATIM Kinderhilfe e.V." verboten und diese Verbote mit einem Großaufgebot an Polizei sofort vollziehen lassen. Dabei wurden vier Mitarbeiter der Zeitung, darunter der Geschäftsführer, der Herausgeber und der Chefredakteur verhaftet.

Die Begründung dieses Angriffs auf die Meinungs-, Presse- und Organisationsfreiheit war nicht nur fadenscheinig, sondern entlarvt auch den Anspruch der rot-grünen Regierung, für eine friedliche Lösung der Konflikte in der Welt einzutreten. Tatsächlich knebelt die Bundesregierung hier die rechtlosen Völker der Kurden und Palästinenser und ergreift Partei für ihre Unterdrücker und Besatzer.

Zwei Wochen vor der Bundestagswahl präsentierte sich Schily einmal mehr als Hardliner und Law-and-Order-Mann, dem demokratische Grundrechte nicht viel gelten, als er verkündete: "Die Bundesregierung geht entschlossen gegen jedwede Aktivitäten vor, die einen extremistischen oder terroristischen Hintergrund haben."

Er wich aber sorgsam der Frage aus, was genau an Özgür Politika extremistisch oder terroristisch sein soll. Er behauptete lediglich, die Zeitung sei "nachweislich" in die "Gesamtorganisation der PKK [die sich in Kongra-Gel umbenannt hat] eingebunden".

Worin aber bestehen nun diese "Nachweise"? Schilys Antwort: Die "Art der Berichterstattung"! Dadurch versorge Özgür Politika die Anhänger in Europa mit Informationen über die PKK und gebe Vorgaben der PKK-Führung laufend an sie weiter.

Wie dies durch die "Art der Berichterstattung" geschehen soll, wird in der Vorabfassung des neuesten Bundesverfassungsschutzberichtes erklärt. Dort heißt es lapidar: "Auch die türkischsprachige Tageszeitung ‚Özgür Politika’ bietet dem KONGRA GEL ein Forum, indem sie Interviews oder Stellungnahmen von Führungsfunktionären der Organisation veröffentlicht. Regelmäßig wird auch auf Veranstaltungen mit Bezug zum KONGRA GEL hingewiesen oder darüber berichtet."

Auf dieser Grundlage behauptet Schily, bei Kongra-Gel und Özgür Politika handele es sich "um ein und dieselbe Organisation". Wer regelmäßig über verbotene oder unliebsame Organisationen berichtet und dabei auch wiedergibt, was diese Organisationen sagen und tun, wird nach dieser Logik als Teil dieser Organisationen betrachtet und muss mit Verbot und Verfolgung rechnen.

Auf ganz ähnliche Weise verleumdet die Bush-Regierung den arabischen Sender Al-Jazeera als "Sprachrohr von Terroristen", weil er öfters Erklärungen von und Interviews mit bewaffneten Widerstandsgruppen und auch der Al Quaeda ausstrahlt. Mehrere Mitarbeiter von Al-Jazeera wurden bereits von US-Streitkräften in Afghanistan und Irak getötet.

Die deutsche Journalisten-Union (dju) hat das Verbot von Özgür Politika kritisiert: "Polizeiliche Aktionen gegen eine Redaktion sind aus Sicht der dju besonders schwerwiegend. Sie gefährden den Vertrauensschutz von Informanten gegenüber der Presse und zugleich den grundgesetzlich garantierten Schutz der Presse", erklärte die dju und bezeichnete das Verbot als "völlig überzogen".

Özgür Politika erscheint seit über zehn Jahren mit einer Auflage von über 10.000 Exemplaren. Sie ist fast die einzige türkischsprachige Tageszeitung in Europa, die nicht dem türkischen Nationalismus anhängt, und die einzige, die ständig die Probleme der Kurden in der Türkei thematisiert.

Dabei vertritt sie die Perspektive des kurdischen Nationalismus und steht der wichtigsten kurdisch-nationalistischen Organisation, der PKK, nahe. Die World Socialist Web Site und die Partei für Soziale Gleichheit haben fundamentale und unüberbrückbare Differenzen mit der PKK und dem kurdischen Nationalismus. Sie treten aber für eine politische Auseinandersetzung ein und verurteilen daher das Verbot als bösartigen Angriff auf elementare demokratische Grundrechte.

Schily hat nicht einmal versucht, in seiner Rechtfertigung konkrete Nachweise für extremistische oder terroristische Tendenzen von Özgür Politika zu erbringen. Das würde ihm auch schwer fallen. Die Zeitung hat seit über fünf Jahren alle politischen Wendungen der PKK-Führung mitgemacht. Dem entsprechend hat sie deren Glorifizierung der türkischen Staatsideologie des Kemalismus verteidigt und die Invasion und Besetzung des Irak durch die USA unterstützt.

Was den "Terrorismus" betrifft, so hat die PKK - unterstützt von Özgür Politika - seit dem Jahr 2000 ihrer Guerillastrategie formell abgeschworen. Seit 1996 ist sie dem Bundesgerichtshof zufolge in Deutschland nicht mehr als terroristische Organisation anzusehen. Selbst der Verfassungsschutz gibt zu, dass sich ihre Propaganda seit 1999 "kulturelle Autonomie der Kurden innerhalb der Grenzen einer demokratischen Türkei" zum Ziel setzt und dass sich ihre Aktivitäten auf verbesserte Haftbedingungen für den inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan sowie "Forderungen nach Anerkennung der politischen und kulturellen Identität der Kurden in der Türkei und die verstärkte Einbeziehung der Kurdenfrage in den Diskussionsprozess um einen Beitritt der Türkei in die EU" konzentrieren.

Diese Linie vertritt auch Özgür Politika und bietet der PKK dafür eine "Plattform". Was daran extremistisch sein soll, erklärte Schily nicht. Seine Argumentation gleicht jener der türkischen Generäle und Staatsanwälte, für die jede kritische Äußerung über die Kurdenfrage Separatismus und Unterstützung von Terrorismus ist. Vor diesem Hintergrund ist die Türkei eines der Länder mit den meisten inhaftierten Journalisten und Verboten von Presseerzeugnissen weltweit.

Offiziell vertritt die EU selbst das Ziel, mit ihren Beitrittskriterien die Türkei, die eine EU-Vollmitgliedschaft anstrebt und dafür mittlerweile auch Kandidat ist, zu mehr Demokratie und Minderheitenrechten anzuhalten. Aus diesem Grund haben kurdische Nationalisten - einschließlich der PKK und Özgür Politika - immer große Hoffnungen in die EU gesetzt.

Dass Schily nun das Gegenteil tut und die rechtesten Kräfte im türkischen Staatsapparat zu größerer Unterdrückung regelrecht ermuntert, steht dazu nur scheinbar im Gegensatz. Deutschland, andere europäische Länder und die USA befürworten eine EU-Mitgliedschaft der Türkei nicht, weil sie dort mehr Freiheit und Wohlstand schaffen wollen, sondern - wie es Bundeskanzler erst kürzlich wieder formulierte - aufgrund der "geostrategischen Bedeutung der Türkei" in der Grenzregion zu den Öl- und Gasregionen des Mittleren Ostens, des Kaukasus und Zentralasiens und der dortigen "außen- und sicherheitspolitischen Interessen" der westlichen Länder. Mit anderen Worten, der Türkei ist die Rolle eines militärischen und wirtschaftlichen Vorpostens zugedacht. Mit Demokratie und Wohlstand für die Masse der Bevölkerung - türkisch, kurdisch oder arabisch - ist das nicht zu vereinbaren.

Das zeigt sich auch an dem anderen Verbot Schilys vom selben Tag. Er rechtfertigte das Vorgehen gegen die "YATIM Kinderhilfe e.V." damit, diese sammle Spenden für die Sozialeinrichtungen der islamistischen Organisation Hamas in den palästinensischen Gebieten. Dies sei als "mittelbare" Finanzierung von deren terroristischen Aktivitäten anzusehen. Schily erklärte weiter, Deutschland trage damit "wesentlich zum Schutz der friedlichen Kommunikation zwischen den Völkern vor einer Störung durch terroristische Gruppierungen in den Krisengebieten Israels bei".

Diese Wortwahl ist bemerkenswert. Sie entspricht nicht internationalem Recht, wonach die palästinensischen Gebiete von Israel völkerrechtswidrig besetzt sind, sondern der Ansicht der extremen Rechten der israelischen Politik, wonach diese Gebiete zu Israel gehören und lediglich durch "terroristische Gruppierungen" zu "Krisengebieten" gemacht wurden.

In Schilys Presseerklärung kommen die Worte "besetzt" oder "Besatzung" kein einziges Mal vor. Die Tatsache, dass Islamisten wie die Hamas, die Selbstmordanschläge befürworten, durch ein breites Netz von Sozialeinrichtungen unter den Palästinensern erheblichen Einfluss gewinnen konnten, rührt von dem Elend, der Verzweiflung und der Unterdrückung her, die durch die Besatzung geschaffen wurden.

Die Hamas hat sich im Frühjahr dieses Jahres in Gaza und dem Westjordanland erstmals Wahlen gestellt. Bei den Kommunalwahlen erhielt sie insgesamt etwa ein Drittel der Stimmen, in einer Reihe von größeren Städten, insbesondere in Gaza, die Mehrheit. Schilys Verbot zielt darauf ab, die politische Auseinandersetzung unter den besetzten Palästinensern mit staatlicher Gewalt zu ersticken und Schichten des palästinensischen Volkes zur Strafe für ihre politischen Präferenzen in soziales Elend zu stürzen.

Der bayrische Innenminister Günter Beckstein (CSU), Schilys möglicher Amtsnachfolger, hat dessen Verbote begrüßt und unterstützt.

Siehe auch:
Deutschland: Innenminister Schily verbietet türkische Zeitung
(16. März 2005)
Innenminister Schily verbietet Kritik an Scharon und Bush
( 24. September 2004)
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