Europawahl erschüttert europäische Regierungen

Wahlenthaltung in Rekordhöhe und dramatische Verluste der regierenden Parteien in der Mehrzahl der Länder kennzeichnen das Ergebnis der Europawahlen, die vom 10. bis 13. Juni in den 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stattfanden.

Insgesamt waren 349 Millionen Wähler aufgerufen, die 732 Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu bestimmen. Doch was von einigen Kommentatoren euphorisch als "größte demokratische Abstimmung nach der Parlamentswahl in Indien" bezeichnet wurde, verwandelte sich unter der Hand in eine massive Unmutskundgebung gegen die Institutionen der EU und die Regierungen im eigenen Land.

Die durchschnittliche Wahlbeteiligung erreichte mit 44,2% einen historischen Tiefstand. An der ersten Europawahl im Jahr 1979 hatten sich noch 63% der Wahlberechtigten beteiligt. Seither ist die Teilnahme von Wahl zu Wahl gesunken. 1999 lag sie noch bei knapp 50%.

Der erneute Rückgang ist vorwiegend auf die osteuropäischen Mitgliedsländer zurückzuführen, die der EU am 1. Mai dieses Jahres beitraten. In Polen, dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Neumitglied, ging nur jeder Fünfte zur Urne. In Tschechien lag die Wahlbeteiligung unter 30 und in Ungarn unter 40%. Aber auch in Deutschland und Frankreich, wo jeweils 43% zur Wahl gingen, hat die Beteiligung an einem nationalen Urnengang nie zuvor derart niedrig gelegen.

Kommentatoren haben die niedrige Wahlbeteiligung auf fehlende Informationen und mangelndes Interesse zurückgeführt. Doch das beschönigt die wirklichen Ursachen. Viele gingen nicht zu Wahl, weil sie die europäischen Institutionen - zu Recht - für undemokratische Einrichtungen halten, die ausschließlich den Interessen der mächtigsten Lobby- und Wirtschaftsgruppen dienen. Die niedrige Wahlbeteiligung ist so ein Ausdruck der scharfen sozialen Polarisierung Europas sowie der wachsenden Entfremdung zwischen der Masse der Bevölkerung und dem politischen Establishment.

Das zeigte sich auch am Erfolg von Gruppierungen, die Kritik an den Brüsseler Institutionen in den Mittelpunkt ihrer Kampagne stellten oder die EU rundweg ablehnten. So schaffte in den Niederlanden die neugegründete Partei des ehemaligen EU-Beamten Paul von Buitenen auf Anhieb den Einzug ins Parlament. Van Buitenen hatte in den neunziger Jahren einen Korruptionsskandal innerhalb der EU-Kommission aufgedeckt und deshalb seinen Job verloren. In Österreich erreichte die neue Liste des Europaabgeordneten Hans-Peter Martin, der gegen Bestechung und überhöhte Spesen im Europäischen Parlament zu Felde zog, 14% der Stimmen. In Polen, Tschechien, Ungarn und Großbritannien erhielten rechte, EU-feindliche Parteien starken Zulauf.

Im Mittelpunkt der meisten Wahlgänge, die in jedem Land nach anderen Regeln durchgeführt wurden, stand die Abrechnung mit der eigenen Regierung. Vor allem sozialdemokratische Parteien, die seit Jahren Regierungsverantwortung tragen und eine Politik des Sozialabbaus betreiben, wurden regelrecht dezimiert. In Deutschland und Großbritannien erzielten SPD und Labour Party das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. In Polen erhielt das regierende Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) weniger als zehn Prozent der Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von 20% machte gerade einer von fünfzig Wahlberechtigten sein Kreuz bei der Regierungspartei!

Aber auch die konservativen Parteien blieben vom Unmut der Wähler nicht verschont. In Frankreich, Italien, Irland, Dänemark, Österreich und den Niederlanden mussten sie empfindliche Einbussen hinnehmen. Neben der sozialen Frage spielte dabei auch der Irakkrieg eine Rolle. Insbesondere die Verluste von Berlusconis Forza Italia in Italien und Blairs Labour Party in Großbritannien sind zu einem großen Teil auf die Opposition gegen den Irakkrieg zurückzuführen. In Spanien konnte dagegen die Sozialistische Partei, die vor drei Monaten wegen dem Irakkrieg überraschend die Parlamentswahlen gewann, ihren Stimmenanteil halten.

Da sowohl linke wie rechte Regierungsparteien Einbussen hinnehmen mussten, sprachen die Medien von einer "Denkzettelwahl". Doch das geht am Wesen der Sache vorbei. Es handelt sich nicht nur um einen vorübergehenden Denkzettel. Der Niedergang der so genannten "Volksparteien", die lange Zeit über eine relativ stabile Wählerbasis verfügten, zeichnet sich seit längerem ab und ist in der Europawahl nur besonders deutlich sichtbar geworden. Dieser Niedergang ist Ausdruck der tiefen Kluft, welche die gesamte offizielle Politik von der Masse der Bevölkerung trennt. Alle traditionellen Institutionen und Mechanismen, mit denen die europäische Bourgeoisie in der Nachkriegszeit ihre Herrschaft ausgeübt hat, befinden sich in einer tiefen Krise.

Deutschland

Mit 21,4% der Stimmen hat die SPD von Bundeskanzler Gerhard Schröder das schlechteste Ergebnis in einer bundesweiten Wahl überhaupt erzielt. Ihr bisheriger Negativrekord liegt bei 28,8%. So viele Stimmen erhielt die SPD bei der Bundestagswahl 1953, als Konrad Adenauer auf dem Höhepunkt seiner Popularität stand.

Gegenüber der letzten Europawahl, bei der sie ebenfalls schlecht abschnitt, verlor die SPD 9,2%, gegenüber der Bundestagwahl 2002 sogar 17%. Auch in der thüringischen Landtagswahl, die parallel zur Europawahl stattfand, wurde die SPD dezimiert. Sie erreichte nur noch 14,5%, das zweitschlechteste Ergebnis in einer Landtagswahl überhaupt. Sie lag damit über 10% hinter der PDS, die hinter der siegreichen CDU zweitstärkste Partei wurde.

Die Union ging zwar mit 48,7% als klarer Sieger aus der Europawahl hervor, büßte aber gegenüber 1999 ebenfalls 4,2% ihrer Stimmen ein. Profitieren konnten davon vor allem die Grünen, die ihren Stimmenanteil mit einem Ergebnis von 11,9% fast verdoppelten. Auch die FDP legte zu und ist mit 6,1% wieder im Europaparlament vertreten. Die PDS, die bei der Bundestagswahl 2002 die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt hatte, konnte sich ebenfalls leicht verbessern und liegt gleichauf mit der FDP.

Die Verluste der SPD sind vor allem auf die Stimmenthaltung ihrer traditionellen Wähler zurückzuführen, die besonders hart von der Agenda 2010 betroffen sind. Laut einer Umfrage haben sich 11 Millionen Wähler, die bei der Bundestagswahl für die SPD votierten, der Stimme enthalten, während lediglich 800.000 für die Union stimmten. Die Grünen konnten sich vom Niedergang ihres Koalitionspartners abkoppeln, weil sie in den besser gestellten Mittelschichten der Großstädte über eine eigene Wählerklientel verfügen.

Von den kleineren Parteien, die zur Wahl antraten, erreichte keine mehr als 2%.

Großbritannien

Bereits vor Bekannt werden der Ergebnisse aus Schottland und Wales haben die Wahlen in England der regierenden Labour Party einen harten Schlag versetzt. Die Wahlbeteiligung lag bei 39%, zwei Punkte höher als 1989 (was vor allem auf die Zulassung der Briefwahl zurückzuführen ist), aber unter dem EU-Durchschnitt.

Labour kam nur auf 23%, ein Verlust von 6% und das schlechteste Ergebnis seit 1910, vier Jahre nach der Gründung der Partei. Es lag sogar noch unter dem Resultat der Regionalwahlen vom Donnerstag. Aber die konservativen Tories konnten keinen Nutzen aus Labours Problemen ziehen. Sie erzielten nur 27% der Stimmen, 10% weniger als bei der letzten Wahl und ihr niedrigster Stimmenanteil seit 1832.

Hauptnutznießer der Entfremdung der Wähler war die EU-feindliche UK Independence Party, die ihren Stimmenanteil von 1999 verdoppelte und mit 16,8% auf den dritten Platz kam. Sie vervierfachte die Zahl ihrer Abgeordneten von drei auf zwölf, und der ehemalige Fernsehmoderator Kilroy-Silk, berüchtigt wegen seiner antiarabischen Kommentare, hätte in den East Midlands nur 0,3% mehr benötigt, um die Tories auf Platz zwei zu verweisen. Auch im Südwesten und Südosten erreichte die UKIP hinter den Tories den zweiten Platz.

Der Guardian kommentierte, dies sei "die erste Wahl gewesen, in der die beiden großen Parteien darum kämpfen mussten, am meisten Stimmen zu bekommen; in der Parteien, die nicht im Unterhaus vertreten sind, über 25% der Stimmen erhielten; und die erste Wal in der britischen Geschichte, in der die ‚Sieger'partei weniger als ein Drittel der Stimmen bekam."

Die UKIP nahm vor allen den Tories Stimmen ab, aber sie bereitet auch der Regierung große Schwierigkeiten, ihre momentane Politik gegenüber der EU weiterzuverfolgen. Das wird das gesamte Spektrum der offiziellen Politik weiter nach rechts verschieben. Man muss hinzufügen, dass viele Stimmen für die UKIP von Leuten kamen, die gar nicht unbedingt gegen die EU sind, sondern einfach ihren Protest loswerden wollten.

Die Stimmen für die UKIP bedeuten nicht, dass die Ablehnung Labours durch die Wähler vorwiegend rechte Formen annahm. Eher im Gegenteil. Die Liberaldemokraten, die gegen den Irakkrieg auftraten und sich in sozialen Fragen als Links von Labor ausgaben, gewannen zwei Punkte hinzu und erreichten 15%. Die Grünen verteidigten ihre beiden Sitze mit 6% der Stimmen. Galloways Respect Unity Coalition kam national auf etwa 1,8% und erreichte in London nahezu 5%, das sind fast 90.000 Stimmen, was allerdings nicht für einen Abgeordnetensitz reichte.

Die rechtsextreme British National Party gewann 1% hinzu und kam national auf 5%.

Zusätzlich gab es eine Vielzahl von Protestkandidaten, die sich auf Antikriegs- und "traditionelle Labour"-Themen konzentrierten. Zusammen erreichten die kleinen Parteien fast 19%. Nimmt man die UKIP hinzu, so stimmte über ein Drittel der Wähler nicht für eine der drei großen Parteien.

Frankreich

In Frankreich erhielt die Regierungspartei UMP von Präsident Jacques Chirac und Premierminister Jean-Pierre Raffarin lediglich 16,6% der Stimmen. Die UMP war von Chirac im Frühjahr 2002 gegründet worden, um die zersplitterten rechten Parteien hinter dem Präsidenten zu vereinen. Sie verfügt in der Nationalversammlung über die absolute Mehrheit.

Nun ist die Rechte wieder so zerstritten wie zuvor. Die liberale UDF, die sich der Einbeziehung in die UMP widersetzt hatte, kam auf 12% der Stimmen. Zwei weitere Rechtsparteien, die MPF von Philippe de Villiers und die RPF von Charles Pasqua erreichten zusammen 8,4%. Im Gegensatz zu UMP und UDF lehnen sie die EU strikt ab. Die rechtsextreme Nationale Front von Jean-Marie Le Pen erreichte 10%. Bei der Regionalwahl vor drei Monaten hatte sie noch 15% erhalten.

Als eigentliche Wahlsiegerin gilt die Sozialistische Partei (PS), die mit knapp 30% der Stimmen stärkste Partei wurde und gegenüber der letzten Europawahl 8% hinzugewann. Die Grünen verloren etwas und kamen auf 7%, die Kommunistische Partei (PCF) erhielt 5,8%. PS, PCF, Grüne und Radikale, die von 1997 bis 2002 unter Lionel Jospin die Regierung stellten, liegen mit 42,4% deutlich vor den Rechtsparteien, welche, die Nationale Front nicht eingerechnet, zusammen auf 37,7% kommen.

Die "extreme Linke", das Bündnis von Lutte Ouvrière und Ligue Communiste Révolutionnaire, erhielt nur 2,6% der Stimmen. Das ist weit weniger als bei der letzten Europawahl, als ihnen der Sprung über die 5-Prozent-Hürde und der Einzug ins Europaparlament gelang, und auch weniger als die 4,9%, die sie vor drei Monaten bei den Regionalwahlen erhalten hatten.

Italien

In Italien, wo die Walbeteiligung mit 70% überdurchschnittlich hoch lag, kam Forza Italia von Ministerpräsident Berlusconi nur auf 20,5%. Das sind 9% weniger als bei der Parlamentswahl 2001 und 5% weniger als bei der letzten Europawahl. Berlusconi, der die Wahllisten persönlich anführte, hatte ein Ziel von mindestens 25% vorgegeben. Das Ergebnis gilt als schwere persönliche Niederlage.

Berlusconis Verlusten standen teilweise Gewinne seiner Koalitionspartner, der Alleanza Nazionale (11%) und der christdemokratischen UDC (5,6%) gegenüber. Die Lega Nord kam auf 5%. Insgesamt erreichte das Regierungslager ein Ergebnis von 43%.

Das Bündnis Olivenbaum, hinter dem der noch amtierende EU-Kommissionspräsident Romano Prodi steht, konnte von Berlusconis Verlusten nicht profitieren und kam wie bei früheren Wahlen nur auf etwa 30%. Zählt man die Stimmen möglicher Koalitionspartner hinzu, so liegt das Oppositionslager etwa zwei Prozentpunkte vor dem Regierungslager.

Würde dieses Ergebnis auf eine Parlamentswahl übertragen, käme der Partei Rifondazione Comunista, die 6% der Stimmen erhielt, eine entscheidende Rolle zu. Rifondazione hatte in der Vergangenheit wiederholt Mitte-Links-Regierungen parlamentarisch unterstützt und zieht mittlerweile auch eine zukünftige Regierungsbeteiligung in Erwägung.

Spanien

In Spanien konnte die Sozialistische Partei PSOE den Überraschungserfolg bestätigen, den sie bei den Parlamentswahlen vom 14. März errungen hatte. Mit 43,3% lag sie sogar leicht über dem Ergebnis vom März. Die im März geschlagene Volkspartei PP konnte aber ebenfalls vier Punkte aufholen und lag nur noch zwei Prozentpunkte hinter der PSOE. Die Wahlbeteiligung erreichte mit 46% einen historischen Tiefpunkt.

Verluste mussten vor allem die kleineren Parteien einstecken. Die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangene Vereinigte Linke kam nur noch auf 4,2% und verlor zwei ihrer vier Parlamentssitze.

Polen

In Polen ging bei extrem niedriger Wahlbeteiligung die liberal-konservative Bürgerplattform als stärkste Partei aus der Wahl hervor. Die Bürgerplattform und andere konservative Oppositionsparteien, die die EU im Prinzip unterstützen, aber auf eine stärkere Wahrnehmung polnischer Interessen pochen, erhielten zusammen 40%.

Etwa 30% der Stimmen entfielen auf zwei rechte Anti-Europa-Parteien, die national-katholische Liga der polnischen Familien (LPR) mit 17% und Samoobrona (Selbstverteidigung) des Rechtspopulisten Andrzej Lepper mit 12%. Umfragen hatten Lepper zuvor ein wesentlich höheres Ergebnis zugetraut.

Die regierende SLD erreichte weniger als 10% und die von ihr abgespaltene Sozialdemokratie Polens 5%.

Beobachter gehen davon aus, dass die politische Krise im Land nach diesem Ergebnis anhalten wird. Der von Präsident Aleksander Kwasniewski nominierte Ministerpräsident Marek Belka muss sich demnächst einer zweiten Vertauensabstimmung im Parlament stellen, nachdem er eine erste bereits verloren hat. Nach dem Debakel der Regierungspartei bei der Europawahl werden ihm kaum mehr Chancen eingeräumt.

Siehe auch:
Europawahl: PSG gewinnt 25.824 Stimmen
(15. Juni 2004)
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