Italien: Verfassungsgericht kippt Berlusconis Immunitätsgesetz

Am 13. Januar erklärte das italienische Verfassungsgericht ein Gesetz, das Regierungschef Silvio Berlusconi bis zum Ende seiner Amtszeit vor gerichtlicher Verfolgung schützt, für ungültig.

Das nach seinem Verfasser Renato Schifani, dem Fraktionsvorsitzenden von Forza Italia im Senat benannte Gesetz war am 18. Juni 2003 beschlossen und erst vor wenigen Wochen von beiden Häusern des Parlaments gebilligt worden. Es gewährt fünf führenden Repräsentanten des Staates Immunität - dem Regierungschef, dem Staatspräsidenten, den Präsidenten beider Parlamentskammern und dem Präsidenten des Verfassungsgerichts. Tatsächlich ist es aber ganz auf die Person des Regierungschefs zugeschnitten, der sich zur Zeit seiner Verabschiedung vor einem Mailänder Gericht wegen Richterbestechung verantworten musste.

Das Gesetz stoppte das Verfahren gegen Berlusconi zu einem Zeitpunkt, als sich eine mögliche Verurteilung deutlich abzeichnete und dieser zudem den Ratsvorsitz der Europäischen Union übernahm. Es ersparte ihm die Peinlichkeit, sich als höchster Repräsentant der EU wegen krimineller Delikte vor Gericht verantworten zu müssen.

Das Verfassungsgericht hat jetzt festgestellt, dass das Schifani-Gesetz das Gleichheitsprinzip aller Bürger vor dem Gesetz verletzt, und es für ungültig erklärt.

Konflikt zwischen Regierung und Justiz

Mit dem Urteil des Verfassungsgerichts hat der seit langem schwelende Konflikt zwischen der Regierung und Teilen der Justiz neue Nahrung erhalten. Während Richter und Staatsanwälte, die an dem Verfahren gegen Berlusconi und anderen Korruptionsverfahren beteiligt waren, die Entscheidung begrüßten, ergingen sich die Paladine des Regierungschefs in unflätigen Beschimpfungen der Justiz.

So bezeichnete der Anwalt der Regierungspartei Forza Italia, Carlo Taormina, die - eher konservativen - Verfassungsrichter als "verdammte Kommunisten". Sie hätten ein "politisches Urteil" gefällt, das "den Gipfel der politischen Justiz" erreicht habe. Taormina war schon 2001 aus dem Amt des Unterstaatssekretärs entfernt worden, weil er wegen seinen Ausfällen gegen Richter untragbar geworden war.

Gaetano Pecorella, ein Anwalt Berlusconis, Forza-Italia-Abgeordneter und Präsident der parlamentarischen Justizkommission, kommentierte das Urteil in einem Interview mit der französischen Zeitung Le Monde. Er lobte das Gesetz, weil damit - wie er ungeschminkt erklärte - "der Ministerpräsident und die anderen hohen Staatsvertreter während der Dauer ihres ganzen Mandats nicht mehr den Entscheidungen der Justiz unterworfen" waren. Nun, bedauerte er, sei Italien wieder zum einmaligen Fall in Europa geworden, "in dem die Ausübung einer hohen institutionellen Verantwortlichkeit aufgrund eines Richterentscheides unterbrochen werden" könne.

Senator Paolo Guzzanti, Forza Italia, verstieg sich sogar zur Behauptung: "Die Immunität ist kein parlamentarisches Privileg, sondern eine historische Garantie der Volkssouveränität."

Berlusconi selbst reagierte laut Corriere della sera, indem er Neuwahlen ins Spiel brachte: "Wenn die Dinge so stehen, dann ist es besser, zu den Urnen zu schreiten", sagte er. Er schlug dem Ministerrat vor, parallel zu den Europawahlen im Juni auch Parlamentswahlen anzusetzen - ein Vorschlag, der kaum ernst genommen wird, da Berlusconis Umfragewerte zur Zeit einen Tiefpunkt erreicht haben. Als Alternative wurde denn auch die Möglichkeit einer raschen Verfassungsänderung diskutiert - wozu allerdings Stimmen aus den Reihen der Opposition benötigt würden.

Der Präsident der Nationalen Richtervereinigung (ANM), Edmondo Bruti Liberati, lobte dagegen das Urteil der Verfassungsrichter. Es zeige, dass die an dem Verfahren gegen Berlusconi beteiligten Richter von Mailand, die man "der Rebellion gegen das Parlament beschuldigt" habe, "nichts anderes als ihre Pflicht taten". Der Mailänder Staatsanwalt Armando Spataro erklärte: "Eines dieser Rache-Gesetze ist jetzt gestrichen worden, und nun müssen auch die andern Gesetze, die aus Italien ein Drittweltland gemacht haben, das gleiche Schicksal erfahren."

Parallel zur Annullierung des Immunitätsgesetzes wurde auch ein Referendum gegen dieses Gesetz zugelassen, für das Senator Antonio Di Pietro im letzten Jahr über eine Million Unterschriften gesammelt hatte. Dieser erklärte jedoch unmittelbar nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts, das Referendum habe sich erübrigt.

Di Pietro hatte zu Beginn der neunziger Jahre als Staatsanwalt eine führende Rolle bei der Antikorruptionskampagne Mani Pulite gespielt, in deren Rahmen Hunderte Politiker und Wirtschaftsführer wegen Korruptionsvergehen verurteilt und die Immunität für hohe Politiker aus der Verfassung gestrichen wurde.

Berlusconi und seine engsten Vertrauten waren in mehrere Dutzend dieser Verfahren verwickelt. Unter anderem wurde der gegenwärtige Regierungschef des Betrugs, der Steuerhinterziehung, der Richterbestechung, der Bilanzfälschung und des Führens schwarzer Kassen beschuldigt. Dreimal wurde er in erster Instanz zu insgesamt sechs Jahren Haft verurteilt. Die Verfahren wurde aber immer wieder eingestellt, sei es wegen Verjährung oder weil Gesetze rechtzeitig geändert wurden.

Im Frühjahr 2003 wurde Berlusconis Anwalt und enger Vertrauter Cesare Previti in erster Instanz wegen Korruption und Richterbestechung zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Er wurde für schuldig befunden, in den achtziger und frühen neunziger Jahren römische Untersuchungsrichter bestochen zu haben, damit Berlusconis Konzernholding Fininvest sich das Verlagshaus Mondadori einverleiben konnte.

Wenige Wochen später wurde Previti ein zweites Mal in erster Instanz wegen Bestechung zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, diesmal in einem Verfahren, in dem auch Berlusconi selbst angeklagt war. Der bestochene römische Richter Renato Squillante erhielt eine Gefängnisstrafe von acht Jahren und vier Monaten. Es ging um die Übernahme des Lebensmittelkonzerns SME. Das Gericht befand, Squillante habe 1991 434.000 Dollar von Fininvest angenommen und dafür den Verkauf des staatlichen Lebensmittelkonzerns SME an Berlusconis Rivalen De Benedetti annulliert, damit Berlusconi selbst ihn kaufen konnte.

Previti arbeitet seit den frühen Gründerzeiten mit Berlusconi zusammen. Bereits sein Vater war Geschäftsführer in Berlusconis erstem Bauunternehmen in Mailand. Der Sohn ist Mitglied von Forza Italia und war in der ersten Regierung Berlusconi 1994 für kurze Zeit Verteidigungsminister. In der Urteilsbegründung gegen Previti hatten die Mailänder Richter Berlusconis Fininvest-Konzern Korruption "ohne Beispiel in der italienischen Geschichte und vielleicht in der ganzen Welt" attestiert.

Der Druck auf Berlusconi wächst

Die Aussicht, dass der SME-Prozesses gegen ihn selbst wieder aufgenommen wird, ist zur Zeit nicht die einzige Sorge Berlusconis.

Bereits Mitte Dezember hatte sich Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi geweigert, ein neues Mediengesetz zu unterzeichnen, das die Regierungsmehrheit im Parlament verabschiedet hatte. Er verwies das sogenannte Gasparri-Gesetz ans Parlament zurück, weil es den Antitrust-Bestimmungen widerspreche und die Berlusconi-Konzerne Fininvest und Mediaset einseitig begünstige.

Das Mediengesetz sollte ursprünglich den Interessenkonflikt regeln, der sich aus Berlusconis Rolle als größter privater Medienunternehmer des Landes und als Regierungschef ergibt. Heraus kam schließlich eine Regelung, die Berlusconi nicht nur sein Monopol über das italienische Privatfernsehen belies, sondern ihm auch noch den Erwerb eines Zeitungsimperiums gestattete - was ihm bisher untersagt war.

Seit Jahresbeginn laufen auch die Ermittlungen im Fall Parmalat, der größten betrügerischen Firmenpleite in der Geschichte Italiens. Das Familienunternehmen des Lebensmittelhändlers Calisto Tanzi hatte sich in kurzer Zeit zu einem Weltkonzern mit Milliardenumsätzen entwickelt und gigantische Schulden angehäuft, die durch dreiste Fälschungen verdeckt wurden.

In diesem Zusammenhang hat sich ein Konflikt zwischen der Bank von Italien und der Regierung über die Frage entwickelt, wie das Kontrollsystem der Finanzmärkte zu reformieren sei. Eine wirksame Kontrolle und Untersuchung der Finanzpraktiken großer Konzerne würde sich unmittelbar auch gegen Berlusconi selbst richten, der seinen Konzern Fininvest mit ähnlich undurchsichtigen Methoden aufgebaut hat wie Tanzi Parmalat.

Berlusconi ist der reichste Mann Italiens. Zu Fininvest gehören neben Mediaset, dem größten TV-, Film- und Medienkonzern des Landes, auch Bau-, Versicherungs- und Lebensmittelkonzerne sowie Kaufhausketten. Vieles deutet darauf hin, dass Berlusconi vor allem deshalb in die Politik ging, weil er die wirtschaftlichen und juristischen Probleme seines Konzerns anders nicht lösen konnte. Anfang der neunziger Jahre war er mit 1,3 Mrd. Euro völlig überschuldet, zahlreiche Prozesse standen ins Haus und die Kampagne Mani Pulite drohte ihm die politische Protektion zu entziehen. Sein Einzug in die Politik ermöglichte es ihm, die juristischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für sich selbst und andere Superreiche völlig zu verändern.

Während seiner Amtszeit ließ er systematisch Gesetze verändern: So galt auf einmal Bilanzfälschung nur noch als Ordnungswidrigkeit, Verjährungsfristen wurden stark gekürzt und das Gesetz über die internationale Rechtshilfe wurde zeitweise blockiert, so dass die Rechtshilfe aus der Schweiz erschwert wurde, wo die in den Prozessen relevanten Schwarzgeldkonten aufgetaucht waren. Diese Gesetzesreformen kamen auch Parmalat-Chef Tanzi zugute.

Weitere Gesetzesänderungen ermöglichen die Ablehnung eines Gerichtsortes bei Verdacht auf Befangenheit. So können Prozesse bestimmten Richtern entzogen und unendlich in die Länge gezogen werden. Außerdem wurden die Erbschaftssteuer abgeschafft, Gesetze gegen Geldwäsche aufgeweicht und die Unvereinbarkeit eines Regierungsamtes mit dem Besitz eines Unternehmens aufgehoben.

Berlusconi konnte sich mit diesen Maßnahmen aufgrund der völligen Ohnmacht der Opposition durchsetzen. Das sogenannte Olivenbaum-Bündnis hatte sich in seiner fünfjährigen Regierungszeit durch scharfe Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung weitgehend diskreditiert und hat Berlusconi politisch nichts entgegenzusetzen.

Die Proteste auf der Straße gegen die Angriffe der Regierung reißen allerdings nicht ab. Im Dezember und im Januar kam es wiederholt zu Streiks und Boykottaktionen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Am 13. Dezember fand ein 24-stündiger Eisenbahnerstreik statt. In Mailand kam es zu einem spontanen Streik der öffentlichen Busfahrer. Er wurde nur von der Basisgewerkschaft Cobas unterstützt, was zu zahlreichen Prozessen gegen die Beteiligten führte.

Unter dem wachsenden Druck zeigt Berlusconis Regierungsbündnis, zu dem neben seiner eigenen Forza Italia noch die neofaschistische Nationale Allianz von Gianfranco Fini, die separatistische Lega Nord von Umberto Bossi sowie ein Flügel der Christdemokraten gehören, deutliche Risse. Bossi hat erst vor wenigen Tagen offen mit dem Bruch der Koalition gedroht, falls das Projekt der Dezentralisierung Italiens, bei dem der reichere Norden begünstigt würde, nicht endlich verwirklicht werde. Aufgrund von Konflikten über den Parmalat-Skandal, das Mediengesetz, die Dezentralisierung, die Privatisierung von Alitalia und die Renten-"Reform" kann sich Berlusconi auf seine rechte Mehrheit im Parlament nicht mehr voll verlassen.

Berlusconi ist allerdings nicht der Mann, der einfach die Flinte ins Korn wirft. Er weiß nach wie vor maßgebliche italienische und europäische Kapitalinteressen hinter sich. So kommentiert die britische Financial Times : "Es erhebt sich die Frage, ob die in wichtigen politischen Fragen oft gespaltene regierende Vierparteien-Koalition die Willenskraft aufbringt, zurückzuschlagen, oder ob die sich häufenden Probleme das Regierungsamt, das der Premier im Sommer 2001 so hoffnungsvoll begonnen hat, unter sich begraben werden" .

Und die Berner Zeitung schreibt : " Muss Silvio Berlusconi nach dem Urteil des Verfassungsgerichts mit einer Verurteilung, gar mit Gefängnis rechnen? Nein, das Duell zwischen der Justiz und dem Regierungschef in Italien ist durch den Entzug der Immunität nicht zu Ende, er läutet nur eine neue, wohl noch erbittertere Runde in diesem Machtkampf ein."

Siehe auch:
Berlusconi verschärft Angriffe auf die Justiz
(7. Mai 2003)

( 17. September 2003)
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