Am vergangenen Samstag wurde der 16-jährige Florian K. unter großer Anteilnahme der Bevölkerung im bayerischen Coburg zu Grabe getragen.
Am Mittwoch zuvor hatte Florian während der Deutschstunde in der 8 a der Realschule Coburg II plötzlich eine Waffe gezogen und zwei Schüsse neben seine Lehrerin in die Tafel abgefeuert. Die Lehrerin und alle Schüler flohen sofort aus dem Klassenzimmer. Einen 15-jährigen Mitschüler zwang er, bei ihm zu bleiben. Eine im Nebenzimmer Klassenarbeiten korrigierende Lehrerin eilte in den benachbarten Klassenraum und versuchte, auf den Jungen einzureden und diesen von weiteren Schüssen abzuhalten. "Bei diesem Wortgefecht hat sich dann ein Schuss gelöst," sagte ein Polizeisprecher. Die Pädagogin wurde am Oberschenkel getroffen, konnte aber aus dem Raum fliehen.
Vor den Augen seines 15-jährigen Mitschülers und hinter geschlossener Klassenzimmertür zog der Täter eine weitere Waffe, einen Colt, aus seinem Rucksack und schoss sich damit in den Kopf. Er war sofort tot. Einen verhinderten Amoklauf schließt die Polizei aus da, Florian K. die Pistolen schon in der ersten Stunde Mitschülern gezeigt und damit geprahlt hatte. Außerdem schoss er nur gegen eine Person gezielt, gegen sich selbst.
Politiker und Medien reagierten wie stets bei solchen Ereignissen mit Unverständnis. Es handele sich um einen Einzelfall, der nicht vorherzusehen, schon gar nicht zu verhindern gewesen sei, "wie aus heiterem Himmel". Dem ist aber nicht so. Florian K.s Selbstmord in der Schule ist eben leider kein Einzelfall. Er spiegelt vielmehr die Lebenssituation von vielen Jugendlichen wieder - und damit auch die Situation an deutschen Schulen.
Es ist nun gut ein Jahr her, seit der Massenmord des 19-jährigen Robert Steinhäuser im Erfurter Gutenberg-Gymnasium, bei dem er 16 Menschen - vor allem Lehrer - und anschließend sich selbst tötete, die Öffentlichkeit erregte und Fragen an das deutsche Schulsystem aufwarf.
Die internationale Schulvergleichs-Studie PISA hatte kurz zuvor dem Schulsystem in Deutschland denkbar schlechte Noten erteilt. Der Zusammenhang zwischen einem rigiden, sozial selektierenden Schulsystem und der Tragödie von Erfurt war auffallend.
Das dreigeteilte deutsche Schulsystem mit seiner "Leistungs"-Kultur produziert systematisch Schulversager. Ein Drittel aller Schüler bleibt während der Schulzeit mindestens einmal "sitzen", wird der Schule verwiesen oder erst gar nicht eingeschult. In Bayerns Hauptschulen betrifft dies sogar fast jeden zweiten Schüler. Die steigende Arbeitslosigkeit insbesondere unter jungen Menschen gepaart mit der rücksichtslosen Politik der Bundesregierung gegenüber den Ärmsten der Gesellschaft tragen dazu bei, dass aus Verzweiflung Wut, Aggression und Gewalt werden. Die Kampagne der Medien, der Politik und der Wirtschaft gegen jeden Gedanken von Solidarität, Gleichheit oder auch nur Mitgefühl gegenüber den Schwächeren schafft ein Klima, in dem viele Menschen - nicht nur Jugendliche - ihre Situation als ausweglos begreifen.
Es ist schwer für Außenstehende, wie den Autor dieser Zeilen, beim derzeitigen Kenntnisstand die Situation Florian K.s genau zu deuten. Die Polizei gibt derzeit keine Ermittlungsergebnisse weiter. Doch deutet alles darauf hin, dass mit Florian K. ein weiterer verzweifelter Jugendlicher Opfer des Leistungsdrucks in der Schule geworden ist.
Lebensumstände, die nicht offiziell bestätigt worden sind, deuten auf eine Flucht des Jugendlichen hin, erklären aber noch lange nicht Suizidabsichten. Es habe wahrscheinlich in jüngster Vergangenheit "Veränderungen in seinem Umfeld gegeben", berichtete die bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) am Unglücksort. So habe sich Florian in letzter Zeit möglicherweise dem Okkultismus oder auch dem Satanismus genähert. Er habe Heavy-Metal-Musik gehört und schwarze Kleidung getragen.
Auch die Tradition in Florians Familie, dem örtlichen Schützenverein anzugehören, erklärt zwar die Herkunft der beiden Pistolen, nicht aber den Selbstmord. Die Waffen hatte der 16-jährige aus dem Tresor seines Vaters, der im örtlichen Schützenverein aktiv war. Laut Polizeiangaben ist der Großvater des Jungen Waffensachverständiger und war zumindest früher ebenfalls im Schützenverein.
Zentral für seine Lebensmüdigkeit wird seine Situation an der Realschule gewesen sein. Florian gehörte zur Hälfte der bayerischen Schüler, die mindestens einmal die Klasse wiederholen müssen. Die meisten seiner Mitschüler in der achten Klasse waren zwei, manche sogar drei Jahre jünger als er. Seine Schulnoten waren im letzten halben Jahr erneut deutlich schlechter geworden, in Musik waren sie beispielsweise von eins auf sechs gefallen. Im Mai waren seine Eltern deshalb zu einem Gespräch in die Schule geladen worden. Wenn auch seine Versetzung derzeit nicht gefährdet gewesen sein mag, wie ständig von Lehrern und Lokalpolitikern betont wurde, blieben all die mit Händen zu greifenden Indizien für Florians Schwierigkeiten unbeachtet.
Denn Florian galt als "unauffälliger, ruhiger, durchschnittlicher Schüler". Diese Einschätzung, die nach seinem Selbstmord kopfschüttelnd von Pastoren, Lehrern und Frau Hohlmeier vorgetragen wurde, sagt viel über das Schulsystem aus. Solange ein Schüler ruhig und unauffällig ist, sich anpasst, ist für das System Schule alles in Ordnung. Der Schüler hat vom Lehr- und Schulplan vorgegebenes Wissen wiedergeben zu können, im Schuldeutsch: "Leistungen zu erbringen". Erfüllt er diese Anforderungen, erhält er gute Noten. Erfüllt er sie aber nicht, wird er mit schlechten Noten abgestraft, muss die Klasse wiederholen oder wird gar von der Schule verwiesen. Wie es ihm wirklich geht, was seine Bedürfnisse und seine Probleme sind, interessiert nicht oder bleibt zumindest unbekannt. Erst wenn er auf Probleme mit Gewalt - gegen sich oder andere - reagiert, wird der Schüler zum Problem.
Am gleichen Tag, an dem Florian K. seinem Leben ein Ende setzte, stellte das Bundeskriminalamt eine Studie vor, in der Siebt- und Achtklässler, also 12- bis 14-jährige Schüler, nach ihren Gewalterfahrungen befragt wurden. Unter anderem gaben zwei Drittel aller Jungen an, in den vergangenen sechs Monaten Mitschüler geschlagen zu haben. Der Autor der Studie, der Psychologieprofessor Friedrich Lösel, stellte fest, dass die Zahl der "extrem schwierigen Schüler" zunehme.
Politiker aller Bundestagsparteien sind nicht willens, irgend etwas daran zu ändern. Im Gegenteil, die sozialen Angriffe der Bundes- und Länderregierungen machen auch vor dem Bildungssystem nicht Halt. Inzwischen führen die einzelnen Bundesländer einen regelrechten Wettbewerb um mehr Vergleichbarkeit der Schulleistungen, wodurch der Leistungsdruck noch weiter erhöht wird. Alle Hindernisse im Schulsystem sollen beiseite geräumt werden, doch als Hindernis werden vor allem "schwache" Schüler gesehen.
So wird das Hauptmerkmal des deutschen Schulsystems, das erste und zugleich höchst wirksame Instrument der sozialen Auslese zu sein, weiter an Bedeutung zunehmen. Weitere tragische Ereignisse wie jenes in Coburg sind die zwangsläufige Folge.