Anfang der 90er Jahre begann die damalige konservative Regierung in großem Umfang mit der Privatisierung öffentlicher Unternehmen und der Öffnung national regulierter Märkte. Sie wurde dabei von der oppositionellen SPD unterstützt, die nach der Regierungsnahme 1998 gemeinsam mit den Grünen diese Politik fortführte und stark ausweitete.
Mit dem Argument, dass durch den Wettbewerb unter Dienstleistern die Bevölkerung günstiger und qualitativ besser versorgt werden könne, wurden neben der Lufthansa, der Deutschen Bahn, der Bundespost und der Telekom auch der Strommarkt, die Flugsicherheitsbehörde sowie Flughäfen und kommunale Dienstleistungen voll- oder teilprivatisiert. Darüber hinaus strebt die Regierungskoalition weitere Privatisierungsmaßnahmen im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs, des Straßenbaus und des Bildungswesens an.
Die Privatisierungswelle
Die 1993 beschlossene Bahnreform machte den Anfang. Sie hatte zum erklärten Ziel, die Bahn in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und in Privatbesitz zu überführen. Ein Jahr später folgte das von CDU/CSU, FDP und SPD gemeinsam beschlossene Gesetz zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation. Post und Telekom wurden durch dieses Gesetz in Aktienunternehmen verwandelt und die Telekom ging als erstes ehemaliges Staatsunternehmen an die Börse. Die damit betrauten Banken verdienten an diesem, im Herbst 1996 durchgeführten Börsengang Provisionen in Millionenhöhe.
1997 wurde die Deutsche Lufthansa als erstes Staatsunternehmen komplett in Privatbesitz überführt, indem der Bund die Aktien des Unternehmens verkaufte. Ein Jahr später wurden per Gesetz der Briefmarkt, der Telekommunikationsmarkt und durch die ebenfalls 1998 verabschiedete Energierechtsnovelle auch der Energiemarkt dem Wettbewerb ausgesetzt. Die Deutsche Bahn wurde 1999 durch die rot-grüne Regierung in Einzelaktiengesellschaften unter dem Dach einer gemeinsamen Holding zerlegt, um die Börsengänge dieser Gesellschaften vorzubereiten.
Im November 2000, dem zweiten Amtsjahr der Regierung Schröder folgte dann der erste Börsengang der Deutschen Post. Neben der niederländischen Post, TGP-TNT Post Group, ist die Deutsche Post erst das zweite börsennotierte Postunternehmen Europas.
Neben der Umwandlung dieser Bundesunternehmen in profitorientierte Privatkonzerne fanden auch auf Ebene der Bundesländer und Kommunen zunehmend Verkäufe und Privatisierungen von Dienstleistungsunternehmen der öffentlichen Hand statt. Lokale Energieversorger, wie kommunale Stadtwerke, wurden entweder ebenfalls in Privatunternehmen umgewandelt oder von Großkonzernen geschluckt. Die Abfallentsorgung wurde - wie im Fall des Dualen Systems oder der kommunalen Privatisierungen der Abfallentsorgung - an Privatunternehmen vergeben.
Mitglieder der Bundesregierung wiederholen gebetsmühlenartig die angeblichen Vorzüge des freien Wettbewerbs: Die Konkurrenz der Anbieter sichere den Standort Deutschland, zerbreche die alten bürokratischen Strukturen des Dienstleistungssektors und bringe der Bevölkerung günstigere Preise und qualitativ bessere Leistungen.
Doch die bisherigen Erfahrungen zeigen etwas ganz anderes. Der Dienstleistungssektor ist nicht mehr auf die Versorgung der Bevölkerung ausgerichtet und deren Interessen haben keinen Einfluss mehr auf die Unternehmenspolitik. Ziel der Privatisierungspolitik ist es - ähnlich wie bei der Renten- und Gesundheitsreform - alle gesellschaftlichen Dienstleistungen zur Quelle von individueller Bereicherung und Profit zu machen.
Das hat sowohl verheerende Auswirkungen auf die Beschäftigten wie auf diejenigen, die auf die Dienstleistungen angewiesen sind. Wichtige Teile des öffentlichen Lebens - die Kommunikation, das Transportwesen, die Energieversorgung, die Abwasserwirtschaft usw. - werden der Gemeinnützigkeit entzogen und auf die Bereicherung der Kapitaleigner ausgerichtet. Das führt zu einer immer schlechteren Versorgung, bei immer höheren Preisen.
Anstatt durch hohe Standardanforderungen, eindeutige Sicherheitsauflagen und Versorgungsgarantien zu erschwinglichen Preisen dieser Entwicklung einen Riegel vorzuschieben, sieht die rot-grüne Regierung ihre wichtigste Aufgabe darin, den neuen privaten Dienstleistungskonzernen finanzielle Mittel zu verschaffen. Die von Wirtschaftsminister Müller erlassene Mehrwertsteuerbefreiung einiger Dienstleister dient diesem Ziel, ebenso wie die jüngste Steuerreform, die der Telekom eine Steuerrückzahlung von 1,4 Mrd. Euro bescherte.
Diese finanziellen Maßnahmen der Bundesregierung werden durch Steuereinnahmen und die Kürzung von Sozialleistungen ausgeglichen und belasten damit wiederum die Bevölkerung. Gleichzeitig nutzen die privatisierten Konzerne ihre so gestärkte finanzielle Stellung, um sich - wiederum mit aktiver Unterstützung der Bundesregierung - die Märkte anderer EU-Länder und Osteuropas zu unterwerfen.
Im Bereich der Briefzustellung und anderer Postaufgaben bemühte sich die Bundesregierung nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäischer Ebene um das zügige Aufbrechen der regulierten Märkte. Am Ende einer Phase - in den Worten des Wirtschaftsministeriums - "kontroverser Erörterungen" auf Ministerebene, fassten die europäischen Regierungen Ende letzten Jahres einen Beschluss, der die schrittweise Öffnung aller europäischen Postmärkte für ausländische Konkurrenz vorschreibt.
Von der Bundesregierung "politisch flankiert" bewarb sich die Deutsche Post darauf um Zustelllizenzen in anderen Ländern. Bei der Labour-Regierung Tony Blairs hatte sie Erfolg (berichtet das Handelsblatt vom 8. August 2002). Die Lizenz, die in England auf erbitterten Widerstand stößt, sichert der Deutschen Post World Net (DPWN) die Beförderung von 40 Millionen Sendungen im Jahr - was rund der Hälfte des englischen Postmarktes entspricht. Die britische Consignia - das Nachfolgeunternehmen der Royal Mail in Vorbereitung der Privatisierung - kommentierte die Lizenzerteilung mit der Bemerkung, dass das Unternehmen im Fall seiner Umsetzung den Konkurs beantragen würde. Die Deutsche Post wiederum ließ verlauten, dass sie anstrebe, die bisher auf ein Jahr befristete Lizenz in eine unbefristete umzuwandeln.
Die von der Regierung Schröder in gleicher Weise protegierten Energiekonzerne setzen ebenfalls auf eine aggressive Expansion. Der RWE-Konzern bereitet sich beispielsweise nach eigenen Angaben auf den Einstieg in den italienischen Strommarkt vor. Der Konzern plant dabei den Aufkauf der großen Stadtwerke in Rom, Mailand oder Verona. Zusammen mit dem E.on-Konzern, der kürzlich die umstrittene Erlaubnis des Wirtschaftsministers für die Fusion mit der Ruhrgas AG bekam, hat sich RWE bereits den Energiemarkt der Slowakischen Republik einverleibt. E.on übernimmt 49 Prozent an der Westslowakischen (ZSE), RWE 49 Prozent an der Ostslowakischen Energie (VSE). Beide Konzerne bekommen durch die von der slowakischen Regierung garantierte Vorstandsmehrheit auch die Entscheidungsgewalt über die Unternehmen.
Die sozialen Kosten
Gewinner und Verlierer der rot-grünen Liberalisierungspolitik sind bereits jetzt schon deutlich zu erkennen. Die neugegründeten Vorstandsetagen der privatisierten Unternehmen, die Großaktionäre, die Banken und der politische Filz aus Lobbyisten und Politikern verdiente an den Privatisierungen unvorstellbare Summen. Auf der anderen Seite sind die Arbeitnehmer der privatisierten Unternehmen und die auf eine flächendeckende, bezahlbare und sichere Infrastruktur angewiesene Bevölkerung die Leidtragenden.
Jede Umwandlung eines ehemaligen Staatsunternehmens in einen privaten Konzern war mit einem enormen Arbeitsplatzabbau verbunden. Allein in Deutschland wurden bei der Post, Bahn und Telekom mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze vernichtet. Dazu kommen Lohnsenkungen und Verschlechterungen der allgemeinen Arbeitsbedingungen. Diese Maßnahmen der Vorstände betreffen längst auch Arbeiter außerhalb Deutschlands. Jeden Aufkauf ausländischer Unternehmen begleiten nach der Eingliederung massive Stellenstreichungen aufgrund der sogenannten "Synergieeffekte".
Daneben reagieren alle Unternehmen in den liberalisierten Sparten auf den verschärften internationalen Konkurrenzdruck mit Einsparungen. Die britische Consignia kündigte beispielsweise an, 30.000 Stellen zu streichen, 3.000 Postämter zu schließen und die Serviceleistungen einzuschränken. Die niederländische TGP-TNT agiert in gleicher Weise: Um die Wettbewerbsfähigkeit weiterhin zu gewährleisten, sollen 5.000 der 30.000 Arbeitsplätze des Unternehmens in den Niederlanden abgebaut werden - trotz wachsender Gewinne auch in diesem Jahr. Ebenso kündigten Post und Telekom in Deutschland weitere Stellenstreichungen an.
Darüber hinaus hat die Liberalisierungspolitik der Regierung enorme Auswirkungen auf die Versorgung und Sicherheit der Bevölkerung. Obwohl sie behauptet, der Wettbewerb auf den liberalisierten Märkten käme den Kunden durch steigende Qualität der Dienste und sinkende Kosten zugute, ist das Gegenteil der Fall.
Post und Telekom versuchen sich aus ländlichen, unrentablen Gebieten zurückzuziehen. Ehemalige Postämter werden an Agenturen vergeben, die ihr Geschäft bei ausbleibendem Umsatz aufgeben. Einige Dörfer sind bereits ohne Anschluss an die postalische Infrastruktur. Bisher kostenlose Serviceleistungen, wie die telefonische Auskunft der Telekom und das Nachsenden der Post an den neuen Wohnort, werden in kostenpflichtige Leistungen verwandelt.
Die Telekom plant, die Grundgebühr für die rund 50 Millionen Festnetzanschlüsse um bis zu zwei Euro zu erhöhen, was dem Konzern jedes Jahr eine Milliarde Euro einbrächte.
Mit der Privatisierung der Bahn ging der Abbau von Sicherheitsstandards einher - mit katastrophalen Konsequenzen. Die Unterordnung der Zugwartung unter die Kosten-Nutzen-Maxime, der Abbau an Lokführerstellen und die Absenkung ihrer Ausbildungsstandards sowie die Privatisierung der Streckenwartung waren alle durch die Rentabilitätssteigerung des Unternehmens motiviert. Diese Entscheidungen waren ursächlich für die verheerenden Zugunglücke von Eschede (3. Juni 1999) und Brühl (6. Februar 2000), die 101, beziehungsweise neun Menschen das Leben kosteten und unzählige physische und psychische Wunden hinterließen.
Außerdem zieht sich auch die Bahn aus wenig profitablen Strecken des Nahverkehrs zurück und konzentriert sich auf den Fernverkehr. Steigende Preise sowohl bei dem äußerst stark genutzten Wochenendticket, wie auch bei den IC- und ICE-Strecken zeigen, dass die Bahn sich auf die schmale, dafür aber zahlungskräftige oberste soziale Schicht der Gesellschaft konzentriert.
Diese wenigen Beispiele zeigen bereits, dass mit der von der rot-grünen Regierung vorangetriebenen Liberalisierung der Verfügbarkeits-, Qualitäts- und vor allem Sicherheitsstandard von Dienstleistungen abgebaut wird. Internationale Regelungen, an deren Ausarbeitung die Bundesregierung maßgeblich beteiligt war - wie die EU-Richtlinie zur Dienstleistungsfreiheit oder das GATS-Abkommen von 1994 (das den freien Handel mit Dienstleistungen vorschreibt) - bereiten inzwischen den Rahmen für die allumfassende Privatisierung jeder Dienstleistung vor.
Ob Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, öffentlicher Nahverkehr oder Versorgung mit Trinkwasser, es ist das erklärte Ziel der rot-grünen Koalition, jeden Bereich der Infrastruktur dem Diktat der Finanzmärkte zu unterwerfen.