Der Regierungswechsel in den Niederlanden folgt einem gesamteuropäischen Muster.
In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurden fast alle 15 EU-Regierungen von Sozialdemokraten geführt. Heute sind es gerade noch fünf - Großbritannien, Schweden, Finnland, Griechenland und Deutschland, wobei in Deutschland alle Umfragen auf einen Machtwechsel nach dem 22. September hindeuten. Außerdem sind die Sozialdemokraten in Belgien als Juniorpartner in einer liberal geführten Koalitionsregierung vertreten.
In Österreich, Italien, Dänemark, Portugal, Frankreich und den Niederlanden wurden die Sozialdemokraten in den vergangenen beiden Jahren durch rechte, konservative Parteien abgelöst, die nicht selten im Bündnis mit rechtspopulistischen Kräften regieren. Die Konservativen verdankten ihre Wahlerfolge in der Regel der Verbitterung und Enttäuschung über die Politik der Sozialdemokraten, die sich zum Teil in massiver Stimmenthaltung ausdrückte und zum Teil von den Rechtspopulisten ausgenutzt werden konnte.
Die Niederlande stellen also in dieser Hinsicht keinen Sonderfall dar. Die Konsenspolitik hat hier allerdings eine längere Tradition als in jedem anderen europäischen Land. Ein Blick auf ihre Geschichte zeigt, wie grundlegend der politische Umbruch ist, der gegenwärtig in Europa stattfindet.
Die Tradition der Konsenspolitik
Die Wurzeln der Konsenspolitik reichen bis in die Zeit der frühen bürgerlichen Revolution im 16. Jahrhundert zurück. Die Provinzen der Niederlande waren damals Bestandteil des Habsburger Reiches und standen unter Herrschaft des spanischen Königs, der mit eiserner Faust gegen die protestantische Reformation vorging und die feudale Ordnung samt der Allmacht der katholischen Kirche verteidigte.
Im Verlaufe des Kampfs gegen das spanische Joch trennten sich die südlichen der insgesamt 17 niederländischen Provinzen von den nördlichen. Der Süden - das heutige Belgien - war wirtschaftlich zurückgeblieben und ebenso wie Spanien katholisch geblieben. Den Norden hingegen prägten der aufstrebende Handel über die Nordsee und eine wachsende städtische Wirtschaft und Kultur. Der lutheranische Protestantismus hatte dort früh seinen Einzug gehalten, dann das Täufertum und schließlich als dominierende ideologische Kraft gegen das feudale, katholische Spanien der Kalvinismus.
Im Jahr 1579 schlossen sich die nördlichen Provinzen in der Union von Utrecht zusammen, zwei Jahre später setzten sie den spanischen Landesherrn ab. Damit war die Erste Republik der Niederlande geboren. Ihre Grundlage war infolge der Spaltung der Provinzen nicht ein einheitlicher, zentralistischer Nationalstaat, wie er sich in Frankreich oder Großbritannien zur selben Zeit unter der absolutistischen Macht der Monarchie herauszubilden begann, sondern der politische Zusammenschluss mehrerer gleichberechtigter Provinzen und Städte.
Aufstieg, innere Stabilität und politischer Bestand der Republik beruhten seitdem zu einem guten Teil auf der Kunst, die Partikularinteressen der verschiedenen Provinzen, der verschiedenen städtischen Führungsschichten, der verschiedenen Konfessionen und Wirtschaftsverbände anzuerkennen und "im Konsens" auszubalancieren, d.h. ohne dass eine gesellschaftliche, politische oder religiöse Kraft völlig unterdrückt oder ausgeschlossen wurde.
Diese "Konsenspolitik" der herrschenden großbürgerlichen Kreise erstreckte sich auch auf das Gebiet der Sozialpolitik gegenüber den unteren Klassen. Sie führte dazu, dass - einzigartig in Europa - bereits im 17. Jahrhundert Armenhäuser und andere Wohlfahrtsinstitutionen eingerichtet wurden, um die sozialen Gegensätze zu entschärfen und die innere Stabilität der Republik zu stärken.
Im 19. Jahrhunderts wurde diese politische Tradition bewusst fortgesetzt, um die Herrschaft der Bourgeoisie gegen die mit der Industrialisierung entstehende Arbeiterklasse und die von ihr ausgehenden Gefahr einer revolutionären Bewegung abzusichern Im Jahr 1848 verhinderten weitsichtige bürgerliche Politiker, angeführt von dem liberalen Johan Rudolf Thorbecke, ein Übergreifen der in ganz Europa ausbrechenden revolutionären Erhebungen auf die Niederlande, indem sie ihnen mit ersten politischen Reformen in Richtung einer parlamentarischer Demokratie zuvorkamen.
Schrittweise wurden in den folgenden Jahrzehnten demokratische Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit, Unterrichtsfreiheit und das Briefgeheimnis eingeführt. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der in den Niederlanden relativ spät einsetzenden Industrialisierung die Verelendung der Arbeiterklasse ungeheuer zunahm, wurden auch soziale Reformen zur Linderung der allerschlimmsten Auswüchse eingeführt.
Dem Anwachsen der organisierten Arbeiterbewegung trat die Bourgeoisie mit einer Politik entgegen, die in den Niederlande "verzuiling", Versäulung der Gesellschaft genannt wird. Die beiden großen christlichen Konfessionen, die calvinistisch-protestantische und die katholische Kirche, bildeten jeweils eine "Säule" mit der Aufgabe, mit eigenen Schulen, Wohlfahrts- und Freizeiteinrichtungen, Medien, politischen Parteien und Gewerkschaften die wachsende Kluft zwischen den Klassen zu überbrücken und zu verschleiern. Später trat zu diesen beiden konfessionellen Säulen noch die Säule der reformistischen, sozialdemokratischen Gewerkschaften und Parteien sowie die Säule der Unternehmer und ihrer Parteien und Korporationen hinzu.
Gestützt auf die ungeheuren Reichtümer, die sie durch die brutale koloniale Unterdrückung der Völker in Ceylon, Indonesien, Surinam und durch den systematischen Sklavenhandel ansammeln konnte, war die niederländische Bourgeoisie in der Lage, diese politische Versäulung ihrer Herrschaft durch soziale Reformen zu untermauern.
Nach der politischen Zerrüttung und wirtschaftlichen Zerstörung durch die Nazi-Besatzung und den Zweiten Weltkrieg wurde diese sozial abgefederte Konsenspolitik neu belebt und fortgesetzt. Der Verlust der Kolonien in der Nachkriegszeit wurde dabei durch die zunehmende Integration der Niederlande in den wachsenden Welthandel und in die EU ausgeglichen. Politisch stützte sich die Konsenspolitik auf die Dominanz der Sozialdemokratie über die Arbeiterklasse.
Das Ideal der Toleranz und seine geschichtliche Tradition
Auch das gesellschaftliche Ideal der Gastfreundschaft und Toleranz gegenüber Flüchtlingen, Andersgläubigen und Andersdenkenden war in Europa nach den finsteren Zeiten des Mittelalters zuerst in der frühen bürgerlichen Revolution der Niederlande herausgeformt worden.
Aus der Notwendigkeit heraus, alle gesellschaftlichen Schichten, alle Konfessionen und Sprachgruppen zur Befreiung gegen das spanische Joch zu vereinen, war die Union von Utrecht 1579 ausdrücklich auf die Grundsätze der Religionsfreiheit und der Toleranz gegenüber Andersdenkenden gegründet worden.
In jener Zeit der Morgendämmerung der europäischen bürgerlichen Revolution, im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus haben die Niederlande so bedeutende Wissenschaftler und Philosophen wie Erasmus von Rotterdam, Hugo Grotius und Baruch Spinoza hervorgebracht.
Erasmus von Rotterdam hat dem mittelalterlichen Fundamentalismus der christlichen Scholastik die Autorität und Autonomie des menschlichen Verstands und der Vernunft entgegengesetzt, ist als erster für das Konzept der individuellen Freiheit und der Toleranz in Fragen der Religion eingetreten. Der prominente Vertreter der Aufklärung Hugo Grotius hat auf dem Hintergrund des Wettlaufs der aufstrebenden niederländischen Republik mit dem englischen und spanischen Königreich um Kolonien und Weltmeere die Konzepte des internationalen bürgerlichen Rechts entwickelt.
Baruch Spinoza war eine der hervorragendsten Geister und anziehendsten Persönlichkeiten in der Menschheitsgeschichte überhaupt. Seine nachdrückliche Unterstützung der demokratisch-republikanischen Staatsform gegen die Monarchie wurzelte in seinem optimistischen Glauben an die fortschrittliche Rolle der menschlichen Vernunft, der Wissenschaften, der Naturwissenschaften und Technik, ganz allgemein in seiner weitgehend materialistischen Weltanschauung. Seine persönliche Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft gegenüber den Armen ging einher mit einer grundsätzlicher Opposition gegen soziale Ungleichheit.
Als ihm trotz der Vorwürfe des Atheismus von Seiten der Kirche der Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz, einer der über 300 feudalen Fürsten Deutschlands, im Jahr 1772 eine Professur für Philosophie an der Universität Heidelberg anbot, lehnte Spinoza dieses Angebot mit höflichen, aber bestimmten Worten ab. Er zog es vor, in der Republik zu leben, auch wenn ihm dort kein öffentliches Amt und keine Reichtümer beschieden waren. Er wisse nicht, wo bei diesem öffentlichen Amt in einem Fürstentum "die Grenzen der Freiheit zu philosophieren" gezogen würden, argumentierte er. Vier Jahre später wurde das Kurfürstentum Pfalz vom französischen Heer überrannt, der Graf vertrieben und die Universität unter das Kuratel der katholischen Kirche gestellt.
Vergleicht man die ebenso weitsichtige wie prinzipienfeste Geisteshaltung dieses Denkers aus der Zeit des geschichtlichen Aufstiegs der Bourgeoisie mit der egoistischen Gier, Korruption und Kurzsichtigkeit der heutigen gesellschaftlichen Eliten, so ist es augenscheinlich, dass letztere eine zum Untergang verurteilte Klasse und Gesellschaftsordnung repräsentieren. Sie verfügen über keine historische Mission mehr und daher auch über keine Vision, keine zukunftsweisenden Prinzipien.
Mit Ausnahme der Zeit der Religionskriege im 17. Jahrhundert galten die Niederlande noch lange nach Erasmus von Rotterdam und Spinoza als tolerantes Land, das politische Flüchtlinge und rassistisch Verfolgte wie die Juden gastfreundlich aufnahm. Auch für liberale Traditionen waren sie noch im 19. Jahrhundert bekannt. 1848 legte der damalige Ministerpräsident und Autor der parlamentarischen Verfassung, Thorbecke, großen Wert darauf, sich vom Nachbarland Preußen, seinem Militarismus und seinen Polizeistaatstraditionen abzugrenzen, zumindest was die Herrschaft zuhause in den Niederlanden betraf. Für die Unterjochung der Kolonien galt dies natürlich nicht. "Wir wollen zuhause einen Staat, indem keine Polizei auf den Straßen präsent ist", erklärte er.
Dass diese demokratischen und liberalen Traditionen schon lange nicht mehr die Grundlage der bürgerlichen Politik darstellen, wurde spätestens zur Zeit der deutschen Besatzung deutlich, als Polizei und alle anderen Behörden bei der Deportation und Ermordung von 110.000 der 140.000 niederländischen Juden reibungslos mit den Nazis zusammenarbeiteten. Nach dem Krieg richtete die niederländische Bourgeoisie ihre ideologischen Bemühungen darauf aus, diese Kollaboration zu vertuschen und sich den Anschein zu geben, sie knüpfe mit der Wiederbelebung der Konsenspolitik an die demokratischen Ideale ihrer revolutionären Jugend an.
Doch heute gibt sie auch offiziell jeden Anspruch auf, eine Politik für die gesamte Gesellschaft, für alle Klassen zu vertreten. Sie bereitet sich offen auf Konfrontation statt auf Konsens vor und wird damit zwangsläufig soziale Revolten auslösen, die sie 150 Jahre lang zu vermeiden versucht hatte.
Auch in den Niederlanden ist es die Arbeiterklasse, der die Aufgabe zufällt, demokratische Prinzipien zu verteidigen, darunter vor allem das Recht, sich frei in der ganzen Welt bewegen, Arbeit und Wohnung suchen zu dürfen. Sie kann dabei an die Tradition des mehrtägigen Generalstreiks von Amsterdam im Februar 1941 gegen die Verfolgung und Deportation der Juden anknüpfen - die einzige massenhafte Klassenaktion von Arbeitern zur Verteidigung der Juden gegen die Nazis in Europa überhaupt. Und sie muss sich vor allem der historischen Aufgabe stellen, eine neue Gesellschaft auf der Grundlage sozialer Gleichheit aufzubauen.
In diesem Zusammenhang gesehen, ist der Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, ja selbst gegen die vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Flüchtlingen und Immigranten nicht nur eine humanitäre Pflicht. Die internationale Einheit der Arbeiter ist vielmehr eine strategische Aufgabe, von der das Schicksal der Arbeiterklasse in den Niederlanden und weltweit abhängt.