In mehreren öffentlichen Reden und in Interviews haben sich Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Außenminister Joschka Fischer (Grüne) sowie andere Spitzenpolitiker der Regierungskoalition gegen eine deutsche Beteiligung an einem Angriff auf den Irak ausgesprochen. Dies gelte auch dann, wenn ein solcher Angriff durch ein Mandat der Vereinten Nationen abgesichert sei. Unabhängig davon, was die UN beschlössen, müsse es "für Deutschland einen eigenen Weg" geben, sagte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering auf einer Pressekonferenz am Dienstag.
Zu Beginn der "heißen Phase" des Wahlkampfs hatte Bundeskanzler Schröder auf einer Großveranstaltung in Hannover am Montag betont, er könne "nur davor warnen, ohne an die Folgen zu denken und ohne politisches Konzept für den ganzen Nahen Osten" über einen Krieg gegen den Irak zu reden. "Wer da reingeht, muss wissen, wo er reingeht und was er da will", sagte der Kanzler.
Auch einen finanziellen Beitrag Deutschlands als Ausgleich für eine fehlende militärische Beteiligung - wie es noch beim ersten Golfkrieg 1991 gehandhabt wurde - werde es dieses Mal nicht geben. Deutschland sei kein Land mehr, in dem das "Scheckbuch" die Politik ersetze, hob Schröder hervor und zeigte sich besorgt, "dass bezogen auf die gesamte Region Nahost falsche Prioritäten gesetzt werden".
Noch deutlicher wurde Außenminister Fischer in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung am Mittwoch. Ein Angriff auf den Irak berge "ein großes, ja ein nahezu unkalkulierbares Risiko", sagte Fischer.
"Die USA verfügen über die militärischen Mittel für einen gewaltsamen Regimewechsel im Irak - aber ist man sich über die Risiken im Klaren?", fragte er. "Und ist man sich im Klaren, dass dies eine völlige Neuordnung des Nahen Ostens nach sich ziehen müsste, und zwar nicht nur militärisch, sondern vor allem auch politisch?" Dies könne für die USA eine jahrzehntelange Präsenz in dieser Region bedeuten. "Ob die Amerikaner dazu bereit sind, ist mehr als offen. Wenn sie allerdings vor der Zeit ihre Präsenz beenden würden, dann hätten wir Europäer als unmittelbare Nachbarn dieser Region die fatalen Konsequenzen zu tragen."
Wahltaktische Motive
Die Vorbehalte der deutschen Regierung gegenüber einem US-Angriff auf den Irak sind nicht neu. Bisher hatten Schröder und Fischer aber vorwiegend diplomatische Kanäle bemüht, um ihre Ablehnung zum Ausdruck zu bringen, und sich mit öffentlichen Äußerungen zurückgehalten. Fragen nach der deutschen Haltung zu einem Krieg gegen den Irak war Schröder regelmäßig mit dem Hinweis ausgewichen, Präsident Bush habe ihm versichert, er werde vor einem Angriff die Verbündeten konsultieren. Eine konkrete Festlegung des eigenen Standpunkts hatte Schröder dabei stets vermieden.
Wenn die Bundesregierung nun den diplomatischen Weg verlässt und ihre Opposition offen und ungewöhnlich scharf formuliert, so hat das vordergründig wahltaktische Ursachen. Seit Wochen sagen die Wählerumfragen bei der Bundestagswahl vom 22. September einen Sieg der konservativen Opposition über die Regierungskoalition voraus, der mehr und mehr die Felle davon schwimmen.
Die Zahl der Arbeitslosen ist im Juli, gemessen am Vergleichsmonat, auf den höchsten Stand seit vier Jahren gestiegen. Gleichzeitig rutschte der Deutsche Aktienindex auf das niedrigste Niveau seit fünf Jahren. Die Hiobsbotschaften aus den Chefetagen der großen Konzerne und Banken nehmen kein Ende. Weitere Massenentlassungen, Kurzarbeit und Sozialabbau sind bereits angekündigt. Bund, Länder und Kommunen leiden unter einem dramatischen Rückgang der Steuereinnahmen und planen noch mehr Kürzungen bei den Sozialausgaben.
Mit der lautstarken Kampagne gegen eine deutsche Kriegsbeteiligung im Irak hofft die Regierung Schröder den Wählertrend noch einmal herumzureißen. Sie erwartet, dass diese Frage das weit verbreitete Desinteresse an der Wahl zum Teil überwinden kann. Dass sie die Kriegsfrage zum Wahlkampfthema macht, ist gleichzeitig ein offenes Eingeständnis, dass ein Krieg gegen den Irak von breiten Bevölkerungsschichten abgelehnt wird.
Union und FDP wurden von den Äußerungen Schröders und Fischers überrascht und reagierten mit unterschiedlichen, zum Teil offen widersprüchlichen Standpunkten.
Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble, der in Stoibers Wahlkampfteam für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig ist, bezeichnete eine deutsche Kriegsbeteiligung an der Seite der US-Regierung in "angemessener Form" für erforderlich. Voraussetzung sei allerdings ein UN-Mandat. Der CDU-Außenpolitiker Friedbert Pflüger trat für eine deutsche Beteiligung auch ohne UN-Mandat ein.
Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) reagierte vorsichtiger. Er wollte sich von Schröder nicht in die Ecke des Kriegsbefürworters drängen lassen und lehnte eine klare Stellungnahme ab. Stattdessen griff er die Regierung an, weil sie die Kriegsfrage zum Wahlkampfthema mache. Er sprach von einem "unwürdigen und unzulässigen" Verhalten des Bundeskanzlers und des Außenministers, die mit außenpolitischen Themen innenpolitisches Kapital gewinnen wollten.
Dies sagt, nebenbei bemerkt, viel über das Demokratieverständnis des Unions-Kanzlerkandidaten aus. Er will, dass die Kriegsfrage, die wie kaum eine andere das Schicksal von Millionen Menschen beeinflusst, aus dem Wahlkampf herausgehalten wird.
FDP-Chef Guido Westerwelle wiederum nahm den entgegengesetzten Standpunkt ein. Er forderte eine Regierungserklärung des Kanzlers und eine Debatte im Bundestag über diese Frage.
Transatlantische Gegensätze
Auch wenn die Äußerungen Schröders und Fischers vordergründig wahltaktisch motiviert sind, machen sie doch die tiefen Gegensätze deutlich, die sich in den vergangenen Jahren zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten aufgetan haben.
Bei früheren Militäraktionen - dem ersten Golfkrieg, dem Krieg gegen Jugoslawien, im Kosovo und jüngst in Afghanistan - hat die deutsche Regierung das amerikanische Vorgehen trotz gelegentlicher Spannungen noch politisch, finanziell und sogar militärisch unterstützt. Im Falle des Irak sind die Interessengegensätze derart tief, dass sie dazu nicht mehr ohne weiteres bereit ist.
Trotz des momentanen Wahlkampfgetöses gibt es in dieser Frage zwischen Regierung und Opposition weitgehende Übereinstimmung. Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) erklärte am Dienstag im Deutschlandfunk, er kenne "niemanden in Deutschland", der einen Krieg gegen den Irak befürworte. Und Die Zeit gelangte bei einem Vergleich von Außenminister Fischer (Grüne) und seinem möglichen Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU) zum Schluss: "Im Grund sehen beide die causa Irak natürlich ganz ähnlich: Auch Schäuble graut politisch vor einem neuen Golfkrieg, schon gar mit deutscher Hilfe - und auch Fischer weiß, dass ein Abstinenzabsolutismus (keine Beteiligung der Bundesrepublik, weder finanziell noch militärisch, noch nicht einmal bei UN-Mandat) reine Illusion ist."
Der Streit zwischen Regierung und Opposition über die Frage ist nicht das Produkt tiefgehender Meinungsdifferenzen, sondern ein Ergebnis der Angst, dass sie eine ernsthafte Bewegung gegen die Kriegsgefahr auslösen könnte. Eine derartige Bewegung, das haben die Proteste gegen den Vietnam-Krieg Ende der sechziger Jahre gezeigt, kann sich leicht gegen die Regierung im eigenen Land wenden. Deshalb haben sich SPD und Grüne erst angesichts der drohenden Wahlniederlage durchgerungen, den Krieg gegen den Irak zum Wahlkampfthema zu machen. Die Union lehnt dies weiterhin ab.
Schröders und Fischers Kritik an den amerikanischen Kriegsplänen entspringt dabei völlig anderen Motiven, als die Ablehnung dieser Pläne durch große Teile der Bevölkerung. Letztere würden einen militärischen Angriff der USA auf den Irak als unverhüllte Aggression, als offenes Kriegsverbrechen betrachten, dass durch Öl-Interessen und innenpolitische Ziele der Bush-Regierung motiviert ist. Schon während des Golf-Kriegs 1991 gab es zahlreiche Demonstrationen unter der Parole "Kein Blut für Öl".
Schröder und Fischer stellen dagegen weder das Recht der US-Regierung in Frage, die Regierung in Bagdad mit Waffengewalt wegzubomben und durch ein gefügiges Regime zu ersetzen, noch sorgen sie sich über das Schicksal der irakischen Bevölkerung und der unzähligen Opfer, die ein solcher Krieg kosten würde. Ihnen geht es ausschließlich um die Verteidigung der deutschen und europäischen Interessen in der Region, die sie durch das Vorgehen der Bush-Administration gefährdet sehen.
Am deutlichsten hat dies Ex-Außenminister Genscher in seinem Deutschlandfunk-Interview zum Ausdruck gebracht. "Was dort geschieht, betrifft Europa unmittelbarer als die USA", erklärte er. "Wenn im Nahen Osten die ohnehin spannungsgeladene Situation weiter verschärft würde, hätte das ganz erhebliche Auswirklungen gerade für die Europäer."
Genscher spricht hier die in Europa verbreitete Angst vor den wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen eines erneuten Waffengangs gegen den Irak an. Außenminister Fischers Befürchtungen, die amerikanische Regierung könnte sich weitgehend unvorbereitet in ein militärisches Abenteuer stürzen, sich anschließend zurückziehen und die europäischen Regierungen mit einer unüberschaubaren, explosiven Lage in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zurücklassen, geht in dieselbe Richtung.
Was geschieht, wenn ein US-Angriff auf Bagdad die anderen Regime im Nahen und Mittleren Osten destabilisiert? Was, wenn im Nordirak ein eigenständiger Kurdenstaat entsteht und den Kurdenkonflikt in der Türkei wieder aufflammen lässt? Was, wenn der Ölpreis drastisch ansteigt und die ohnehin geschwächte Weltwirtschaft endgültig in eine Rezession stürzt? Diese Fragen bewegen gegenwärtig die europäischen Regierungen.
Noch schwerwiegender wären die geostrategischen Folgen eines amerikanischen Protektorats über den Irak. Das Land verfügt nach Saudiarabien über die größten nachgewiesenen Erdölreserven der Erde. Nachdem sich amerikanische Truppen in Zentralasien und am Kaspischen Meer festgesetzt haben und auch der Iran verstärkt ins Visier der amerikanischen Außenpolitik rückt, droht ein Monopol der USA über die wichtigsten Energiereserven der Welt. Das wird von den europäischen Großmächten mit wachsendem Argwohn verfolgt. Sie wollen eine noch stärkere Abhängigkeit von den USA in der Energiefrage unbedingt verhindern.
Schröders und Fischers Kritik an den amerikanischen Kriegsplänen entspringt also nicht dem Bedürfnis nach Frieden. Sie ist vielmehr Ausdruck der wachsenden Spannungen zwischen den Großmächten, die eine der wichtigsten Ursachen für die zunehmenden Militarisierung der Außenpolitik darstellen.
Denn so bedeutsam die Politik der rechten Clique um George W. Bush für die gegenwärtige Entwicklung im Nahen Osten auch ist, kann man die seit zehn Jahren kontinuierlich wachsende Neigung zum Einsatz militärischer Gewalt nicht aus dem subjektiven Willen einzelner Politiker erklären. Das beweist allein schon die Tatsache, dass sie auch unter der Präsidentschaft Bill Clintons verstärkt wurde und dass in Deutschland ausgerechnet die rot-grüne Koalition mehr zur Rückkehr deutscher Soldaten auf internationale Kriegsschauplätze beigetragen hat, als irgend eine andere Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg.
Das globale Kapital verträgt sich nicht mit nationalen Grenzen. Es drängt danach, die gesamte Welt seinem Diktat zu unterwerfen. Das amerikanische Kapital, das stärkste und daher das aggressivste, bringt diese allgemeine Tendenz lediglich am schärfsten zum Ausdruck. Begriffe wie nationale Souveränität, Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten oder Selbstbestimmung sind aus dem Vokabular der amerikanischen Außenpolitik weitgehend verschwunden. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", wie Bush die neue außenpolitische Doktrin so treffend ausdrückte.
Die deutsche Regierung bemüht sich, ihm nachzueifern. Die Skrupellosigkeit, mit der sie und ihre Vorgänger das Auseinanderbrechen Jugoslawiens gefördert, die Bombardierung Belgrads unterstützt und schließlich im Kosovo der ultranationalistischen, von kriminellen Elementen durchsetzten UCK zum Durchbruch verholfen haben, ist in dieser Hinsicht ein Lehrbeispiel.
Europäische Kritik
Die amerikanische Wirtschaftskrise und die Dollarschwäche bei gleichzeitiger - wenn auch nur zeitweiser - Stärkung und Parität des Euro haben neben der deutschen auch andere europäische Regierungen ermutigt, ihre Kritik an der amerikanischen Außenpolitik lauter als bisher vorzutragen. Dazu kommt noch die Hoffnung auf eine wachsende inneramerikanische Opposition aus dem Lager der Demokraten, die in den vergangenen Tagen auffallend häufig und wohlwollend kommentiert wurde.
Wie stark die europäischen und amerikanischen Standpunkte differieren, zeigt sich auch in England. Bisher versuchte die Blair-Regierung am traditionellen Schulterschluss mit den USA festzuhalten, doch nun meldet auch Amerikas engster Verbündeter Vorbehalte gegenüber Washingtons Irak-Politik an. Der konservative Sunday Telegraph schrieb zum Wochenbeginn von einem "schändlichen Graben" zwischen den USA und Großbritannien, der liberale Observer sprach von "Anzeichen der Entzweiung" und die Financial Times berichtete, dass die britische Regierung einen Militärschlag gegen den Irak ablehne, solange es keine Entspannung im Nahost-Konflikt gebe.
Auch in der eigenen Partei steht Premierminister Blair unter Druck. Etwa 60 Unterhausmitglieder der Labour Party könnten - einer internen Studie zur Folge - bei einer Irak-Abstimmung im Parlament gegen ihn stimmen, und selbst führende Militärs warnen vor einem Irak-Abenteuer.
Frankreich ist einer der Hauptopponenten gegen die amerikanische Nahost- und Irak-Politik. Alle Regierungen in Paris forderten in den vergangenen Jahren eine Lockerung der Sanktionen gegenüber dem Irak, damit das Land in der Lage sei, seine hohen Schulden an Frankreich zurückzubezahlen. In einem Interview mit Le Monde forderte Außenminister Dominique de Villepin eine "Lösung des Irak-Problems durch Gespräche" und ließ keinen Zweifel daran, dass er auf allen diplomatischen Wegen versuchen wolle, einen US-Krieg gegen Bagdad zu verhindern.
Ähnlich wie vor knapp 90 Jahren, als der Balkan das Pulverfass divergierender imperialistischer Interessen war, die zum Ersten Weltkrieg führten, prallen heute die unterschiedlichen Großmachtinteressen im Nahen Osten aufeinander.
Allerdings sind sich die Regierungen in Berlin, London und Paris über die militärische Überlegenheit der USA durchaus im klaren und halten sich daher die Möglichkeit offen, im letzten Moment doch noch auf den amerikanischen Streitwagen aufzuspringen und sich an einem Irak-Feldzug zu beteiligen, um die Aufteilung der Beute nicht dem Rivalen alleine zu überlassen.
Deshalb sollten auch die Beteuerungen Schröders und Fischers, man werde sich nicht an einem Krieg gegen den Irak beteiligen, nicht allzu wörtlich genommen werden. Die in Kuwait stationierten Fuchs-Spürpanzer der Bundeswehr, die bei einem Krieg gegen den Irak automatisch zum Einsatz kämen, sind bisher ebenso wenig abberufen worden, wie die deutschen Kriegschiffe, die am Horn von Afrika patrouillieren. SPD und Grüne halten sich alle Möglichkeiten offen.
Der Kampf gegen den drohenden Irak-Krieg mit seinen verheerenden Folgen darf daher nicht auf sie und ihre hohlen Wahlversprechen gestützt werden. Er erfordert eine internationale Bewegung der Arbeiterklasse, die die Kriegsfrage mit der sozialen Frage verbindet. Die imperialistischen Kriegsziele stehen in direktem Zusammenhang zur sozialen und politischen Unterdrückung im eigenen Land. Der wirkliche Verbündete im Kampf gegen die aggressive Kriegspolitik des Pentagon ist die amerikanische Arbeiterklasse.