Was steckt hinter der politischen Krise in der Türkei?

Innerer und äußerer Druck nehmen zu

Die gegenwärtige Regierung in der Türkei ist am Ende. Nach Rücktritten von 59 Abgeordneten und 7 Ministern und Staatssekretären am vergangenen Dienstag hat die Koalition aus der sozialdemokratischen "Demokratischen Linkspartei" DSP von Premierminister Bülent Ecevit, der neofaschistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" MHP (Graue Wölfe) von Vizepremier Devlet Bahceli und der konservativen "Mutterlandspartei" ANAP von Mesut Yilmaz ihre absolute Mehrheit an Mandaten verloren.

Auf Antrag der MHP, der nunmehr stärksten Fraktion, soll am 1. September eine Sondersitzung des gegenwärtig in der Sommerpause befindlichen Parlaments stattfinden und über vorgezogene Neuwahlen entscheiden.

Grund für den Zusammenbruch der Regierung ist der Druck von IWF, USA und EU auf die Türkei, weitere Umstrukturierungen der Wirtschaft vorzunehmen und politische Zugeständnisse zu machen. Von einflussreichen Teilen der türkischen Wirtschaft und Medien werden die westlichen Forderungen seit Monaten mit einer systematischen Kampagne unterstützt. Gleichzeitig treten die extrem rechten und nationalistischen Kräfte vor allem seit dem 11. September und dem amerikanischen "Krieg gegen den Terror" mit großem Selbstbewusstsein auf und pochen auf stärkere Unabhängigkeit.

Die Auswirkungen der EU- und IWF-Reformen

In der Bevölkerung verfügt die Regierung schon seit langem über keine Basis mehr. Allerdings nicht deshalb, weil sie den Forderungen der westlichen Regierungen und Konzerne ungenügend nachgekommen wäre, sondern vielmehr gerade deshalb. Anfang letzten Jahres hatte der türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer mit Rückendeckung von Teilen des Militärs gezielt einen Eklat mit Ecevit provoziert, dem er mangelndes Vorgehen gegen Korruption und Vetternwirtschaft vorwarf.

Nach einer darauf folgenden Bankenkrise und dem Zusammenbruch der türkischen Währung hatten IWF und Weltbank der Regierung dann die Zustimmung abgenötigt, als Gegenleistung für einen Kredit in Höhe von 16 Mrd. Dollar einer radikalen Öffnung der türkischen Wirtschaft gegenüber ausländischem Kapital zuzustimmen. Zur Durchführung dieses Programms wurde der parteilose ehemalige Vize-Chef der Weltbank Kemal Dervis eingeflogen, der fortan als eine Art Superminister für Wirtschaft und Finanzen agierte.

Für die arbeitende Bevölkerung bedeuteten die IWF-Reformen eine soziale Katastrophe. Innerhalb von wenigen Monaten wurden Hunderttausende arbeitslos, und die ohnehin geringen Reallöhne sanken um die Hälfte. Zehntausende türkischer Arbeiter gingen dagegen auf die Straße - ohne Erfolg. Minister der immerhin gewählten Regierung bremsten aus Angst um ihre Wählerstimmen die Privatisierungsvorhaben etwa der Telekom und der Turkish Airlines - der nicht gewählte Dervis setzte sich durch, die Minister mussten gehen.

Als Folge ihrer rücksichtslosen Politik wurde die Regierung derart verhasst, dass nach Meinungsumfragen keiner ihrer Koalitionspartner bei Wahlen mehr die 10Prozent-Hürde überschritten hätte. Auftrieb erhielt allerdings seit dem 11. September die rechtsextreme MHP. Obwohl an allen Angriffen auf die Bevölkerung im Interesse des internationalen Kapitals beteiligt, stellte sie sich als Volkstribun dar und appellierte hemmungslos an Nationalismus und antikurdischen Chauvinismus.

Die EU macht die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen von einer Beilegung des Kurdenkonflikts durch die Zulassung von kurdischen Medien und Bildung, Aufhebung des Ausnahmezustands in den Kurdengebieten, stärkere politische Kontrolle des Militärs und einer Lösung des Zypernkonflikts abhängig. Die MHP lehnt Reformen in diesen Bereichen ebenso wie weitere Privatisierungen der Wirtschaft ab. Die Selbstsicherheit, mit der sie dabei auftritt, rührt daher, dass sie mächtige Teile des Militärs hinter sich weiß.

Gestärkt wurden diese nationalistischen Kräfte auch durch die amerikanische Politik. Aufgrund ihrer geographischen Lage spielt die Türkei in den Plänen der Bush-Regierung, ihre uneingeschränkte Dominanz in den rohstoffreichen Regionen des Kaukasus, Zentralasiens und des Nahen Ostens durchzusetzen, die wichtige Rolle eines Frontstaats und militärischen Vorpostens. Deshalb erklärte sich Ankara nach einigem Pokern um den Preis auch bereit, die Führung der militärischen Schutztruppe von Kabul zu übernehmen.

Gleichzeitig wachsen damit aber auch die außenpolitischen Widersprüche. Die Türkei befürchtet, dass ein Angriff auf den Irak nicht nur die ganze Region destabilisieren könnte. Vor allem könnte die Bildung eines Kurdenstaats im Nordirak die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden in Ostanatolien bestärken.

Am Dienstag letzter Woche reiste US-Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz nach Ankara, um die Ängste vor einem Kurdenstaat im Irak zu zerstreuen. Die Türkei sei ein sehr wichtiger Bündnispartner Washingtons, versicherte Wolfowitz und versuchte seine Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass die Entmachtung des irakischen Staatschefs Saddam Hussein auch "ohne regionalpolitische Erschütterungen" machbar sei. Mehrmals hatte Wolfowitz wegen der schweren Krankheit von Premier Bülent Ecevit ein Treffen verschoben. Dass es nun trotz Ecevits unverändert schlechtem Gesundheitszustand und trotz wachsender politischer Turbulenzen stattfand, deutet darauf hin, dass die Angriffspläne gegen den Irak in Washington, aller Dementis zum Trotz, systematisch vorangetrieben werden.

Wächter westlicher Ölinteressen

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, aber dennoch politisch bedeutsam, war die, in den letzten Monaten durchgeführte Wiederbelebung des Projekts einer Pipeline vom aserbaidschanischen Hafen Baku über das georgische Tiflis an den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Es war schon von der Clinton-Regierung verfolgt worden, aber aufgrund russischer und iranischer Opposition nie recht vom Fleck gekommen.

Nach dem 11. September hat jedoch Russlands Präsident Putin seine Opposition weitgehend aufgegeben. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) will die Pipeline finanziell unterstützen, ebenso die Weltbank. Die Bush-Regierung hat Truppen nach Georgien geschickt und nach rund zehn Jahren gerade zwecks Militärhilfe ein Embargo gegen Aserbaidschan aufgehoben, das bis dahin wegen eines Konflikts mit Armenien in Kraft war.

Die Türkei hat im Frühjahr diesen Jahres unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Baku-Ceyhan-Projekt Militärabkommen mit Georgien und Aserbaidschan geschlossen und übernimmt die Modernisierung und Aufrüstung der Streitkräfte der beiden Länder, deren Regierungen schon früher den Wunsch nach einer NATO-Mitgliedschaft bekundet haben.

Mit dementsprechend wachsendem Selbstbewusstsein treten nationalistische Kräfte nicht nur in der MHP auf und lehnen sehr zum Missfallen von EU und IWF jegliche weiteren Zugeständnisse in der Kurdenfrage, der Zypernfrage und einer weiteren Öffnung der Wirtschaft ab. Der IWF mahnte besonders eine Beschleunigung der Privatisierungen, Stellenabbau im öffentlichen Dienst, Senkung der Inflation und Erleichterungen ausländischer Investitionen an.

Gegen die Nationalisten formierte sich denn auch seit einigen Monaten zunehmender Widerstand in der türkischen Großindustrie, die besonders vom Unternehmerverband TÜSIAD vertreten wird. In ganzseitigen Zeitungsanzeigen und öffentlichen Erklärungen forderten die Unternehmer unterstützt von einflussreichen Zeitungen endlich die Bedingungen der EU umzusetzen.

Im Dezember findet der EU-Gipfel statt, auf dem die bisherigen Beitrittskandidaten zu Mitgliedern werden sollen. Dazu gehört auch Zypern, das jedoch nach wie vor in einen griechischen Süden und einen nur von der Türkei als Staat anerkannten türkischen Norden gespalten ist. Sollte Zypern ohne eine Beilegung des Konflikts aufgenommen werden, droht die Türkei mit einer Annexion des Nordens - was völkerrechtlich die rechtswidrige Besatzung eines EU-Staates bedeuten würde. Wird es nicht aufgenommen, droht Griechenland von seinem Veto-Recht gegen die gesamte EU-Erweiterung Gebrauch zu machen.

Letzte Woche schließlich spitzte sich die Situation zu. Nach Gerüchten, Ecevit solle zum Rücktritt gezwungen, die MHP von der oppositionellen konservativen "Partei des rechten Weges" DYP von Tansu Ciller und Ecevit von seinem Vizepremier und bis dahin engsten Parteifreund Hüsamettin Özkan ersetzt werden, forderte MHP-Chef Bahceli Neuwahlen. Ecevit feuerte Özkan und gab damit den Anstoß zur Welle von Rücktritten aus seiner Regierung und Partei, der sich schließlich auch Außenminister Ismail Cem anschloss.

Cem hat gemeinsam mit Özkan mit massiver Unterstützung der in- und ausländischen Medien die Gründung einer neuen Partei initiiert, die sozialdemokratisch ausgerichtet sein soll, deren Programm jedoch im wesentlichen auf die Umsetzung der Forderungen von EU und IWF ausgerichtet sein wird. Finanzminister Dervis hat sich ebenfalls der neuen Formation angeschlossen. Ecevit forderte ihn darauf hin zum Rücktritt auf. Nach Turbulenzen auf den Finanzmärkten weigerte sich Präsident Sezer jedoch, den Rücktritt zu akzeptieren. Dervis bleibt deshalb vorerst gleichzeitig in der Regierung und der Opposition, die diese Regierung stürzen will.

Von der in- und ausländischen Presse wird die sogenannte "Troika" nun zur großen Hoffnung der Türkei erklärt. Als ihre Referenzen wird dabei jedoch lediglich angeführt, Cem verfüge über gute Beziehungen zur EU, Dervis über gute Beziehungen zu IWF und Weltbank, und Özkan über gute Beziehungen zur staatlichen Bürokratie, zum Unternehmerverband TÜSIAD und zum Militär.

Auch Mesut Yilmaz hat vorsichtig angedeutet, er habe Interesse an einer neuen Regierung, "um die EU-Reformen schnell umzusetzen". Einen Sturz Ecevits lehnt er allerdings bisher ab. Dieser hat nämlich demonstrativ wieder Kontakte mit dem früheren Innenminister Saadettin Tantan geknüpft - was als Drohung interpretiert wird, zahlreiche alte Korruptionsfälle gegen Yilmaz wieder unter dem Teppich hervorzuholen.

Auch Tansu Ciller hat sich für eine neue Regierung angeboten. Aufgrund ihrer Erfahrung mit Krieg und Terrorismus (von 1993-95 führte sie als Premierministerin den Krieg gegen die Kurden) wolle sie "während einer amerikanischen Operation gegen den Irak Premierministerin sein". Damit, so die Süddeutsche Zeitung, "bewarb sich die konservative Politikerin direkt im Pentagon um das Amt des Premiers in Ankara". Anonyme Quellen im amerikanischen Außenministerium begrüßten gegenüber der Agentur AFP den Zusammenbruch der Regierung Ecevit. Ciller gilt allerdings als unberechenbar, seit sie vor fünf Jahren eine Regierungskoalition mit den Islamisten einging, die dann vom Militär in einem "kalten Putsch" gestürzt wurde.

Auch heute sind die Islamisten, die sich nach mehreren Verboten in zwei Parteien gespalten haben, die mit Abstand stärkste politische Kraft. Die gemäßigteren Islamisten der "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" AKP um den früheren Istanbuler Oberbürgermeister Recep Tayip Erdogan führen mit großem Abstand die Meinungsumfragen an. Sie stützen sich auf diffuse antiwestliche Stimmungen, die von der tiefen sozialen Unzufriedenheit und der weitverbreiteten Ablehnung der amerikanischen Militäroperationen genährt werden.

In Interviews äußert sich Erdogan oft ausweichend, bemüht, weder das türkische Establishment und den Westen noch seine Wähler zu verprellen. Deutlich hat er sich allerdings für die Bedingungen der EU und für freie Marktwirtschaft ausgesprochen.

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