Die mittlerweile bekannt gewordenen Einzelheiten über den Amoklauf des Schülers Robert Steinhäuser, der am 26. April in einem Erfurter Gymnasium 16 Menschen und anschließend sich selbst erschoss, machen deutlich, dass es sich nicht um ein singuläres Ereignis handelt. Robert Steinhäusers Tat war vielleicht hinsichtlich der hohen Zahl der Opfer einmalig, aber sie folgte einem Muster, dass sich an deutschen Schulen immer häufiger wiederholt.
Bevor sich Robert Steinhäuser zu seinem tödlichen Rundlauf durch das Gutenberg-Gymnasium aufmachte, hatte er mit jener Mischung aus erhöhtem Leistungsdruck und sozialer Auslese Bekanntschaft gemacht, welche die Lage an den Schulen zunehmend prägt.
Bereits kurz nach der Tat hatten die Medien gemeldet, Robert Steinhäuser sei als Schüler vom Gutenberg-Gymnasium verwiesen worden. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass dies eine Untertreibung war. Wie eine Presserklärung des Kultusministeriums deutlich macht, hat sich das sonst so respektable Gutenberg-Gymnasium über alle gesetzlichen Regelungen hinweggesetzt, die einem Schulverweis im Wege stehen, und alles getan, um den missliebigen Schüler loszuwerden.
Laut Schulgesetz muss ein Schulverweis oder -ausschluss zunächst angedroht werden. Zusätzlich müssen Eltern- und Schülervertreter gehört werden. Anschließend muss die Lehrerkonferenz über den Ausschluss-Antrag beschließen. Erst dann kann die Schulleitung den Rauswurf beim zuständigen Schulamt beantragen.
Die Leitung des Erfurter Gymnasiums hat sich diese "bürokratische" Mühe nicht gemacht. Sie schlug dem Schüler offensichtlich eine Art Aufhebungsvertrag vor - wie man ihn in der Berufswelt mit missliebigen Arbeitern schließt, die keinen echten Grund zu einer Kündigung bieten. "Die Schule machte Robert ein Angebot zum Verlassen der Bildungseinrichtung, das dieser nicht ablehnen konnte. So gelang es, räumt ein Lehrer freimütig ein, den lernfaulen Schüler,unbürokratisch' loszuwerden", schreibt das Magazin Der Spiegel.
Am Morgen des 4. Oktober ließ die Direktorin Christiane Alt den Schüler wegen dessen auffälligen Fehlzeiten aus der Biologie-Stunde herausrufen. Mitglieder des Lehrerkollegiums und auch ein Schülervertreter verkündeten Robert, er müsse das Gutenberg-Gymnasium verlassen, weil "das Vertrauensverhältnis zu Schulleitung und Lehrern nachhaltig gestört" sei.
Als Begründung nannte ihm das inoffizielle Gremium, durch Nachfrage bei den Ärzten habe sich herausgestellt, dass seine Atteste, die er für seine Fehlzeiten vorlegte, gefälscht seien. Wer diese Nachfrage veranlasste oder durchführte, um einen Grund zu finden, den missliebigen Schüler loszuwerden, ist bislang nicht bekannt. Robert Steinhäuser verweigerte seine Unterschrift unter ein anschließend angefertigtes Protokoll über dieses Tribunal.
Die Pädagogen-Runde verteidigt ihr Vorgehen mit dem Argument, die Variante "Schulwechsel aus wichtigem Grund" sei bevorzugt worden, um Steinhäuser einen förmlichen Schulverweis zu ersparen. Rechtlich sei alles "korrekt gelaufen".
Erstens stimmt dies nicht. Denn auch über eine solche Maßnahme muss laut Schulgesetz die Lehrerkonferenz beschließen. Das Gesamtkollegium wurde aber nach Aussage von Gutenberg-Lehrern erst im Nachhinein informiert, als Steinhäuser schon längst aus dem Schülerverzeichnis des Gymnasiums gestrichen war. Zweitens ist dieses Vorgehen unabhängig von Recht und Gesetz kalt und brutal.
Dennoch meldete sich der gefeuerte Schüler am 16. Oktober wie vereinbart beim Erfurter Schulamt. Nur zwei Tage später wies ihm die Behörde einen Platz im Königin-Luise-Gymnasium zu. Dort sollte er in einem halben Jahr seine Prüfung ablegen. Die fremde Schule bot jedoch nicht den von Steinhäuser belegten Physik-Grundkurs an. Deshalb wandte er sich erneut ans Schulamt. Die Beamten hätten dann, so behauptet ein Staatssekretär, ein "anderes Gymnasium genannt", an dem sich Robert aber niemals gemeldet habe. "Als die Verhandlungen Steinhäusers mit einem in Frage kommenden Gymnasium scheiterten," endet die Presseerklärung das Kultusministerium, sei "der Kontakt zu dem Schüler abgebrochen".
Für das Gutenberg-Gymnasium war das Problem gelöst. In den darauffolgenden Monaten hat sich Niemand weiter für den Werdegang des 19-Jährigen interessiert. Obendrein wurden die Eltern von Robert Steinhäuser nicht über die Probleme ihres Sohnes in Kenntnis gesetzt, weil er volljährig war - diesmal streng nach dem Buchstaben des Gesetzes.
Thüringer Schulgesetze
Neben dem Verhalten der Schulleitung haben auch die strengen Schulgesetze in Thüringen dazu beigetragen, dass Robert Steinhäuser in eine Lage geriet, die er als ausweglos empfunden haben muss.
Wer in anderen Bundesländern die zehnte Klasse des Gymnasiums absolviert, hat - unabhängig vom späteren Abitur - einen Realschulabschluss. In Thüringen stand Robert Steinhäuser dagegen nach zwölf Schuljahren mit leeren Händen da. Eine Broschüre des thüringischen Kultusministeriums vermerkt dazu: "Das Gymnasium führt zur allgemeinen Hochschulreife (Abitur); andere Abschlüsse können am Gymnasium nicht erworben werden." Diese Regelung ist bundesweit einmalig.
Der thüringische Kultusminister Michael Krapp (CDU) verteidigte sie auch noch Tage nach dem Attentat. Robert Steinhäuser hätte sich ja als "Externer" für die Realschulabschlussprüfung anmelden können. Aber ohne Hilfe der Schule, der Lehrer und seiner Eltern, die ihn emotional nicht mehr erreichten, war Robert Steinhäuser dazu offenbar nicht mehr fähig.
Am 7. Mai haben in Erfurt rund 3000 Schüler auf dem Domplatz - der noch von der Gedenkfeier für die Opfer des Amoklaufs mit Blumen und Kränzen geschmückt war - gegen das strenge Thüringer Schulgesetz demonstriert. Vor allem Erfurter Gymnasiasten forderten lautstark eine Schule, die Rücksicht auf Schwächere nimmt und nicht die Auslese zum obersten Prinzip erhebt. Die protestierenden Schüler erblickten völlig zurecht einen Zusammenhang zwischen der Tragödie vom 26. April und den Thüringer Schulgesetzen.
Indirekt bestätigte dies auch Kultusminister Krapp. Der Spiegel zitiert in einer seiner letzten Ausgaben aus einem beschämenden Brief, den dieser nur fünf Tage nach der Tat an die Eltern des Täters schickte. "Ihr Sohn Robert hat diese schreckliche Tat begangen, nachdem er die Klassenstufe 11 noch einmal durchlaufen hatte und der Beginn der 12. Klasse mit immer größeren Schwierigkeiten verbunden war, bis es zu einer strafbaren Handlung kam. Dabei," bemerkt der Minister streng, "stehen Bluttat und der ursprüngliche Anlass in einem völligen Missverhältnis."
Soziale Auslese und Leistungsdruck
Der "ursprüngliche Anlass", von dem Krapp spricht, das Aussortieren von Leistungsschwachen, ist an deutschen Schulen alltäglich. Dies hat erst vor einigen Monaten die internationale PISA-Studie offengelegt.
Das deutsche Schulsystem produziert mit der sehr frühen Benotung, dem dreigliedrigen Schulsystem und dem häufigen Nichtversetzen in die nächst höhere Klasse systematisch Schulversager. Jeder dritte Schüler bleibt in seiner Schulzeit mindestens einmal "sitzen", wird auf eine andere Schule verwiesen oder erst gar nicht eingeschult.
Im Land der Gesellen- und Meisterbriefe, der Schul- und Hochschulabschlüsse, der Zeugnisse, Zertifikate und Qualifikationen führt der Weg zu einem Arbeitsplatz, zu einem geregelten Einkommen und zu gesellschaftlicher Anerkennung nur über einen hohen Schulabschluss. Die Jugendlichen in den Schulen setzt dies unter einen gewaltigen Druck. Im Jahr 2000 hatten 87.000 Jugendliche in Deutschland, das ist fast jeder zehnte, keinen Schulabschluss.
Der Leistungsdruck wird dabei ständig erhöht. In Sachsen sind bereits wieder Kopfnoten - Fleiß, Betragen, Mitarbeit - eingeführt worden. Wer nicht spurt, nicht "fleißig" ist oder sich nicht "betragen" kann, wird von der Schule verwiesen, erst recht an Gymnasien.
Je tiefer die soziale Kluft in der Gesellschaft, desto lauter erschallt der Ruf nach der "Leistungsgesellschaft", der die wahren Gründe von Armut und Reichtum verschleiern soll. Für die tonangebenden Kreise gibt es nur noch einen Wert: "Leistung", die sich in rücksichtslosem Egoismus, in Geschäftemacherei und hemmungsloser Bereicherung ausdrückt. "Von einer Kultur der Anstrengung ist Deutschland weit entfernt", klagte kürzlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Leitartikel. "Blut, Schweiß und Tränen fließen anderswo."
In Ostdeutschland kommt hinzu, dass der Übergang zur Ellbogengesellschaft besonders drastisch und brutal war. In der DDR gab es, trotz aller Einschränkungen und stalinistischer Verzerrungen, ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit. Durch die kapitalistische Restauration ist nun ein Großteil der ostdeutschen Arbeiterfamilien in eine prekäre, von ständiger Unsicherheit geprägte Lage geraten.
Aggression und Gewalt
Viele Schüler reagieren mit Aggressionen, Wut, Verzweiflung und Gewalt auf den erhöhten Leistungsdruck und die soziale Auslese. Robert Steinhäuser ist dabei kein Einzelfall. In jüngster Zeit kam es wiederholt zu gewaltsamen Angriffen auf Lehrer.
So tötete im November 1999 ein 15-jähriger Schüler im Meißner Franziskaneum-Gymnasium seine Lehrerin mit 21 Messerstichen. Im selben Monat wurden im bayrischen Meppen drei Hauptschüler festgenommen, weil sie die Hinrichtung zweier Lehrerinnen mit einer Pistole vorbereitet hatten. Im März 2000 erschoss ein 16-jähriger Schüler im bayrischen Brannenburg den Leiter eines Internats, von dem er zuvor verwiesen worden war. Im Februar 2002 ermordete ein 22-jähriger Amokläufer im bayrischen Eching zwei ehemalige Arbeitskollegen und erschoss anschließend den Direktor einer Berufschule, an der er durch die Abschlussprüfung gefallen war. Im März 2002 verletzte in München ein 16-Jähriger, der von der Berufsschule verwiesen worden war, seine Lehrerin mit einer Gaspistole.
Viele Schüler richten die Wut und Verzweiflung nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst. Jährlich scheiden in Deutschland mehr als tausend Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren freiwillig aus dem Leben. Die meisten von ihnen wählen den eigenen Tod kurz nach Vergabe der Zeugnisse.
Die offizielle Politik erklärt die Zunahme der Gewalt an den Schulen mit dem zu leichten Zugang zu gewalttätigen Videospielen, Filmen und Waffen. Doch damit benennt sie nur ein Symptom und nicht die Ursache. Denn warum sind die sogenannten Ego-Shooter, bei denen der Spieler die Gegner ins Visier nimmt, oder brutale Filme so beliebt bei Jugendlichen? Warum üben Waffen Faszination aus, statt Abscheu auszulösen? Dies hat offensichtlich mit den Lebensumständen der Jugendlichen zu tun.
Eine große Zahl von Jugendlichen spielen diese "Ballerspiele" unbewusst, das heißt, sie finden nichts Sonderliches dabei. Ob sie an ihrem PC mit Autorennen, mit Fußball, einem beliebigen Strategie- oder eben aber einem "Ballerspiel" Spaß haben, ist ihnen egal. Brutale kriegerische Gewalt ist in der heutigen Gesellschaft so normal und anerkannt wie Fußball, Autorennen oder irgend eine andere Freizeitbeschäftigung.
Ein weiterer aber nicht minderer Aspekt der Faszination dieser Art von Filmen und Videospielen liegt darin, dass damit Aggressionen ausgelebt - und bei den Allermeisten auch abgebaut - werden können. Aber auch hier ist die Frage, warum existieren so weitverbreitete Aggressionen? Es ist offensichtlich, dass der Leistungsdruck an den Schulen eine der Hauptursachen für derartige Aggressionen ist und die Nachfrage nach brutalen Videospielen und Filmen lediglich eine Folge davon.
Die nach dem Amoklauf von Erfurt diskutierte Zensur von Filmen und Spielen löst daher das Problem in keiner Weise, sondern fördert höchstens die Ausweitung der Zensur in anderen Bereichen, etwa im Internet.