Vor etwa zwei Wochen sind in der Presse die Ergebnisse des außerordentlichen 7. Parteikongresses der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bekannt geworden. Die PKK hat auf diesem Kongress nun auch das Ziel eines autonomen Kurdengebietes offiziell aufgegeben. Auf ihre ursprüngliche Forderung nach einem eigenen Staat hatte die Organisation bereits 1993 verzichtet.
Nun macht sie den Weg frei für eine Umgruppierung in der Türkei, in der verschiedene kurdische Nationalisten und andere bisherige Kritiker des Regimes neue, staatstragende politische Formationen schaffen wollen.
Die PKK-Delegierten beschlossen, das Wort "Kurdistan" aus den Namen der diversen Organisationen der Partei zu streichen. So wird ihre Frontorganisation "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" aufgelöst und durch eine"Demokratische Volksunion" ersetzt, und die "Volksbefreiungsarmee Kurdistans", ihr bewaffneter Arm, in "Volksverteidigungskräfte" umbenannt. Möglicherweise wird in Zukunft auch die PKK selbst eine ähnliche Namensänderung erfahren. Osman Öcalan, Mitglied des Vorstands der PKK führte aus, bei Erlass einer Generalamnestie könnten die früheren Guerillakämpfer "einen Beitrag zur Demokratisierung der Türkei leisten". Weiter sagte er: "Einige Leute sagen ,Lasst uns den Staat ändern, indem wir ihn angreifen‘. Nein, das kann man nur tun, indem man beruhigt und ermutigt."
Der einstimmig wiedergewählte Parteivorsitzende Abdullah Öcalan, der zum Tode verurteilt auf der Gefängnisinsel Imrali eingekerkert ist, forderte in seinem den Delegierten vorher zugespielten Bericht die Kurden zur Versöhnung mit dem türkischen Staat und dessen Ideologie, dem Kemalismus, auf. Er führte aus, Staatsgründer Kemal Atatürk sei ein Gegner der aufkommenden Oligarchie gewesen und habe eine Demokratie schaffen wollen. Durch die Kurdenaufstände ab 1925 sei er daran jedoch gehindert worden. Heute müssten die Kurden sein Werk vollenden und am "Aufbau einer demokratischen Republik" mitarbeiten.
Ironischerweise unterstreicht die PKK mit ihrem Streben nach Integration in den türkischen Staat eine politische Grundtatsache, welche sie selbst stets heftig geleugnet hatte: dass die politische Entwicklung in letzter Instanz nicht von nationalen Gegensätzen, sondern von Klasseninteressen bestimmt wird. Von ihrer Gründung an hatte die PKK in der klassischen Manier aller bürgerlich-nationalen Bewegungen behauptet, die "nationale Selbstbestimmung des kurdischen Volkes", d.h. die Schaffung eines eigenen Staates, sei die unabdingbare Voraussetzung für Demokratie, wirtschaftliche Entwicklung und Sozialismus. Demgegenüber hätten die gemeinsamen Interessen von türkischen und kurdischen Arbeitern zurückzutreten.
Eine gewisse Glaubwürdigkeit verlieh ihr die bestialische Verfolgung und Diskriminierung der kurdischen Minderheit in der Türkei, die fatalerweise von den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien mit getragen wurde.
Doch nun treten die tiefer liegenden politischen Beziehungen zutage. Die demokratischen Rechte - sei es von Kurden oder Türken - gelten der PKK wenig, wenn es darum geht, an der Ausbeutung von Rohstoffen und an Profiten teilzuhaben. Wollte sie dieses Ziel früher mittels eines eigenen Staates verwirklichen, sieht sie den einzigen Weg nun in einem Bündnis mit den Herrschenden in der Türkei. Unversehens verwandelt sich folglich der früher "faschistische Staat" in einen Hort der Demokratie!
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der neuerliche Kampf um die Kontrolle über die Ressourcen des Kaukasus, Nahen Ostens und Zentralasiens haben die geostrategische Bedeutung der Türkei als Brückenkopf und Bollwerk von USA und EU stark erhöht. Die Schlussfolgerung der PKK daraus ist, sich der türkischen Bourgeoisie als Juniorpartner und Hilfspolizist anzudienen.
Deutlich formuliert wurde diese Orientierung in der PKK-nahen Zeitung Özgür Politika: "Das Problem mit allen Aufständen besteht in der Tatsache, dass der Unterdrücker gewöhnlich international unterstützt wird und es sehr schwierig ist, die Freunde des Unterdrückers zu überzeugen, ihm die Unterstützung zu entziehen.
Die Verbindungen zwischen der Türkei und den westlichen Mächten haben jetzt eine recht wichtige wirtschaftliche Dimension angenommen. Die billigen Arbeitskräfte und die nützliche geographische Lage stellen die Türkei in den Augen ihrer Partner vor die Notwendigkeit der Stabilität, wenn sie davon profitieren wollen. Diese Partner, die selbst alle schon einmal militärisch und ökonomisch die Welt beherrscht haben, wollen nun, dass die Türkei sich auf weitere Stärken als auf ihre bisherige militärische Stärke stützt.
Die Tatsache, dass die weitergefassten Interessen der Türkei ihre wirtschaftliche Entwicklung erfordern, gerät mit der Tradition des Landes von Herrschaft und Nationalstolz in Konflikt. Die Wirtschaftskreise sehen diese alte Tradition als gefährliches Hindernis an, da sie von allen Seiten kritisiert werden, wenn sie Handel treiben wollen. Im Moment gibt es einen Interessenkonflikt zwischen militärischen Herrschern und handelsorientierten Industriellen. Man sollte auch auf die Möglichkeit der Tatsache hinweisen, dass die Industriellen die kurdische Region lieber durch Investitionen und Ausbeutung in Besitz nehmen wollen, wenn dort kein Krieg mehr herrscht. (...) Die Tatsache, dass sich die Türkei möglicherweise als militärisch stärker erwiesen hat, mindert die Rechte der Kurden nicht herab. Wichtig ist, dem auf politischer und rechtlicher Ebene Ausdruck zu verleihen."
Unverblümter kann man die Beweggründe und den sozialen Inhalt der Wende der PKK kaum aussprechen. Mit einer Bekehrung zur Demokratie hat dies nicht das geringste zu tun. In Wirklichkeit wird die jüngste Politik mit brutaler Gewalt gegen jede Opposition von Seiten der Kurden durchgesetzt. So soll während des Kongresses im Nordirak Mitte Januar bei einer Schießerei ein Parteiführer verletzt, zwei seiner Leibwächter getötet, und daraufhin möglicherweise eine Gruppierung von 20 oppositionellen Parteimitgliedern "verhaftet" und "verhört" worden sein.
Bereits Anfang des Jahres hatte das Zentralkomitee der PKK eine Erklärung veröffentlicht, die durchblicken lässt, wie mit innerparteilichen Kritikern verfahren wird: "In dieser kritischen Zeit haben sich auch Provokateure innerhalb unserer Partei den Zielen der am internationalen Komplott Beteiligten angeschlossen. Trotz positiver Bemühungen seitens unserer Partei haben diese Armseligen, die sich beharrlich zum Verrat bewegten, sich zum verlängerten Arm der Kriegsgewinnler und der internationalen Komplottbeteiligten gemacht."
Ein weiteres Zitat aus derselben Erklärung: "Die Vertreter dieser Tendenz stellen innerhalb unserer Partei die verlängerten Verbindungen zum Cliquentum dar, indem sie sich gegen jegliche Form von Veränderung und Erneuerung stellen, auf Bandentum beharren und somit unsere Partei gegenüber dem internationalen Komplott unorganisiert, unvorbereitet und schwach halten."
Der deutsche Kurdistan-Rundbrief, der diese Erklärung veröffentlicht hatte, kam nicht umhin, in einem späteren Artikel seine Besorgnis zu äußern: "Die heftige und überzogene Wortwahl in der Erklärung des ZK der PKK ist beunruhigend. Sie verstärkt den ohnehin in letzter Zeit zunehmenden Eindruck auch bei engen Freundinnen und Freunden der kurdischen Sache, die PKK und ihre Institutionen seien geschwächt und ratlos und würden auf Kritik zunehmend nicht mit Argumenten, sondern mit Diffamierung und Schmähung der KritikerInnen reagieren. Wenn das so weiter geht, sind weitere Übergriffe wie die gegen Selahattin Celik oder weitere direkte Drohungen wie gegen Necdat Buldan zu befürchten."
Um jede Kritik zu ersticken, wird außerdem der Führerkult um Öcalan weiter verstärkt. Der Kurdish Oberserver berichtete am 15. Februar von einer einstimmig angenommenen Resolution des Parteikongresses, die "unsere Sonne" Öcalan zum "universalen nationalen Führer" verklärte und sinnlose Selbstverbrennungen von Kindern und alten Leuten aus Protest gegen seine Verhaftung rühmte.
In der Zeitschrift Serbesti, die von einem ehemaligen Rechtsanwalt und Strafverteidiger Öcalans herausgegeben und bereits mehrmals staatlich zensiert worden ist, führte der kurdische Autor Cemil Gündogan aus: "Die von der PKK gegründeten Einrichtungen, die im Namen der Kurden diplomatisch tätig sein sollen, arbeiten jetzt an der Aufnahme der Türkei in die Europäische Union. Wenn also heute jemand versucht, den türkischen Staat zu demaskieren‘, so wird er von der PKK kritisiert. Der kurdische Fernsehsender und die Printmedien, die mit Geldern jener Kurden unterhalten werden, die aufgrund ihrer Verfolgung durch den türkischen Staat nach Europa flohen, kritisieren mittlerweile nicht mehr den türkischen Staat, sondern dessen Kritiker. Mit anderen Worten, die Masse der kurdischen Bewegung unter Führung der PKK entfernt sich immer weiter von der Rolle einer demokratischen politischen Kraft und verwandelt sich in eine Kraft der Restauration." (zitiert nach turkish daily news 24. Januar 2000)
Auch in den Reihen der legalen Organisationen, die mit der PKK zusammenarbeiten oder ihr nahe stehen, findet eine entsprechende Umorientierung statt.
Seit Ende des letzten Herbstes formiert sich die sogenannte "Initiative für eine Demokratie-Bewegung", die stark von der (noch) legalen kurdisch-nationalistischen Partei HADEP - die in der Südosttürkei die meisten Bürgermeister stellt - und Funktionären verschiedener bereits verbotener Kurdenparteien unterstützt wird. Außerdem gibt es noch eine ähnliche Initiative kurdischer Intellektueller und Politiker, die weiter rechts steht als die "Demokratie-Bewegung", aber ebenfalls enge Kontakte zur HADEP-Führung unterhalten soll. Es wird vermutet, dass sich aus diesen Initiativen eine oder zwei neue Parteien entwickeln könnten, die der Gefahr eines Verbots weniger ausgesetzt sein sollen als jetzt die HADEP und frühere Kurdenparteien.
Die turkish daily news hat die bisher drei Kongresse der Initiative aufmerksam verfolgt und immer wieder ausführlich und wohlwollend darüber berichtet.
Die Zeitung zitierte Redebeiträge wie den des Anwalts und früheren Parlamentsabgeordneten der inzwischen verbotenen pro-kurdischen DEP Sedat Yurttas auf dem zweiten Kongress Ende Januar, der die Perspektive der kurdischen Nationalisten recht unverhohlen deutlich machte: "Eines seht fest: Ost- und Südostanatolien, die bis vor kurzem von der Türkei-Politik vernachlässigt worden sind, öffnen sich jetzt für die globale Wirtschaft, die globale Politik und die globale Diplomatie.
In Diyarbakir soll in den nächsten beiden Tagen eine Zusammenkunft der Vereinten Nationen stattfinden, auf der über das Embargo gegen den Irak gesprochen werden soll. Wenn man sich diese Entwicklung unter einem konstruktiven Gesichtswinkel betrachtet, so bedeutet sie eine Öl-Pipeline und vielleicht eine Gas-Pipeline... Um uns alle Rechte zu sichern, die von der EU-Gesetzgebung garantiert werden, müssen wir unsere organisatorische Struktur vervollkommnen und einige plausible Projekte entwickeln."
Ob die neue Strategie allerdings aufgeht, ist zweifelhaft. Die ständige Aufrüstung der Türkei als einem militärischen Vorposten des Imperialismus und die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten durch die wirtschafts- und sozialpolitischen Diktate von EU und IWF stärken zwangsläufig das politische Gewicht der Militärs und extremen Rechten, also jenen Kräften, die keine Kompromisse in der Kurdenfrage wollen.
Fest steht allerdings, dass die Perspektiven der PKK und ihrer Unterstützer ungeeignet sind, die kurdischen und türkischen Massen von Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien.