Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

Schere zwischen Arm und Reich erneut gewachsen

Die soziale Polarisierung in Deutschland schreitet weiter voran. Dies geht aus dem Entwurf für den dritten Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hervor, den Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) am Montag vorstellte.

Er trat nicht aus freien Stücken mit den Zahlen an die Öffentlichkeit. Der Berichts-Entwurf der Wissenschaftler liegt offensichtlich schon seit längerem in seinem Ministerium, wo er - wie in den Jahren zuvor - geschönt werden sollte. Nachdem aber mehrere Zeitungen Zahlen aus dem Entwurf genannt hatten, ging Scholz in die Offensive.

Der Bericht beginnt mit den Sätzen: "Armut ist ein gesellschaftliches Phänomen mit vielen Gesichtern. Es entzieht sich deshalb einer eindeutigen Messung." Frei nach diesem Motto nutzt Scholz nun eine andere Datenbasis als noch in den letzten beiden Armuts- und Reichtumsberichten, nämlich die Daten der EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions) anstatt des Sozioökonomischen Panels (SOEP). Offiziell wird dies mit der besseren internationalen Vergleichbarkeit begründet.

Mit Hilfe dieser Änderung konnte Scholz vermelden, dass 2005 in Deutschland 13 Prozent der Einwohner oder 10,7 Millionen Menschen als arm galten. Seit 2003 sei dies "nur" ein Anstieg von einem Prozentpunkt, den Scholz auch noch damit wegredet, dass der wirtschaftliche Aufschwung ja erst im Jahre 2006 begonnen habe. Dieser sei bei allen Teilen der Bevölkerung angekommen, jedoch in den Zahlen des aktuellen Berichts noch nicht "abgebildet".

Mit der Änderung der Datenbasis senkt Scholz die Schwelle deutlich nach unten, ab der jemand als arm gilt: von 935 Euro auf 781 Euro netto im Monat für Alleinstehende. Dies hat zur Folge, dass die Armutsschwelle für Familien unterhalb des durch Hartz-IV-Leistungen gewährten Existenzminimums liegt.

Geht man von der alten Datenbasis aus - sie findet sich versteckt im Anhang des 413 Seiten starken Entwurfs unter dem Kapitel "Kernindikatoren" -, so liegt die Armutsquote wesentlich höher: Bei 18 Prozent im Jahr 2005 und - trotz wirtschaftlichem Aufschwung - bei 18,3 Prozent im Jahr 2006

Bei der Kinderarmut gehen die Zahlen noch weiter auseinander. Nach Aussage des SOEP lag sie 2005 bei 26 Prozent, die EU-SILC-Statistik kommt dagegen nur auf 12 Prozent. Während die Kinderarmut nach SOEP-Angaben zwischen 2003 und 2005 um drei Prozentpunkte stieg, sank sie nach EU-Angaben im selben Zeitraum um drei Prozent. Dies widerspricht allen neueren Studien, die alle ein Ansteigen der Kinderarmut feststellen. So ist jedes sechste Kind in Deutschland, insgesamt fast zwei Millionen, auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen.

Ein ähnliches Bild ergibt sich auch bei den Zahlen für Ostdeutschland, für Alleinerziehende und für Niedrigverdiener. Laut Scholz’ EU-Statistik sank die Armutsquote in Ostdeutschland zwischen 2003 und 2005 von 19 auf 15 Prozent; laut SOEP stieg sie von 20 auf 22 Prozent. Laut Scholz sind 24 Prozent der Alleinerziehenden arm, 12 Prozentpunkte (!) weniger als noch zwei Jahre zuvor; laut SOEP ist die Zahl seit sieben Jahren konstant hoch und liegt nun bei 36 Prozent. Scholz kommt auf 6 Prozent "Working Poor", also Menschen, die trotz Job in Armut leben; die SOEP errechnet 12 Prozent.

Dabei attestiert auch Scholz’ Bericht eine "Zunahme des Niedriglohnbereichs". Im Jahr 2005 waren mehr als ein Drittel aller Beschäftigten dem Niedriglohnbereich zuzurechnen. Anfang der 1990er Jahre waren es noch etwas mehr als ein Viertel.

Scholz versucht mit seinen Zahlentricks die Konsequenzen der Politik der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) zu verschleiern. Die Agenda 2010, insbesondere die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV), ist für die stetig wachsende Armut maßgeblich verantwortlich.

Soziale Ungleichheit wächst

Trotz aller Versuche der Schönfärberei konnten die Bundesregierung und ihr Arbeitsminister nicht vertuschen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich tiefer wird. "Sowohl am unteren als auch am oberen Rand der [Einkommens-]Verteilung hat der Anteil der Personen zugenommen", heißt es in dem Bericht. Dementsprechend geschrumpft ist die sogenannte "Mittelschicht".

Als reich (mindestens 200 Prozent des mittleren Einkommens oder 3.268 Euro netto pro Monat) gelten 6,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zieht man die Vermögen hinzu (Personen mit mehr als 3.418 Euro netto pro Monat), beträgt der Anteil 8,8 Prozent. Dieses auf Personen bezogene Einkommen gilt für Alleinlebende. Ein Paarhaushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren muss ein Netto-Einkommen von 6.863 Euro haben, um als reich zu gelten.

Wie sehr die unteren Einkommen sinken, zeigt folgende Zahl: 2002 gingen noch 30,4 Prozent aller Nettoeinkommen an die untere Hälfte der Einkommensbezieher, 2005 waren es nur noch 28,7 Prozent. Profitiert davon haben vor allem die reichsten zehn Prozent. Sie - und nur sie - konnten allein zwischen 2004 und 2005 ihren Anteil am gesamten Nettoäquivalenzeinkommen um 1,6 Prozentpunkte ausweiten.

Diese Umverteilung fand vor dem Hintergrund sinkender Bruttolöhne und -gehälter statt. Sie "gingen in den Jahren zwischen 2002 und 2005 real von durchschnittlich 24.873 Euro auf 23.684 Euro und damit um 4,7% zurück", schreibt die Bundesregierung.

Auch die Nettolöhne sind gesunken. Bedenkt man dann noch, dass die Preise für Lebensmittel und Energie überdurchschnittlich stark angestiegen sind - der Bericht gibt den Preisanstieg allein der Energiekosten von 2002 bis 2006 mit 7,3 Prozent pro Jahr an -, wird deutlich, was bei den unteren Einkommensbeziehern vom Lohn und Gehalt übrig bleibt.

Zu den Vermögen in Deutschland finden sich nur spärliche Angaben im Anhang des Berichts. Danach belief sich das gesamte Nettovermögen der privaten Haushalte Ende 2002 auf rund 7,8 Billionen Euro. Durchschnittlich ergibt das ein Vermögen von 199.000 Euro pro Haushalt oder 94.500 Euro pro Person, vom Baby bis zum Greis. Allerdings nennen die oberen zehn Prozent 56 Prozent des Gesamtvermögens ihr Eigen, die unteren 50 Prozent dagegen nur zwei Prozent.

Reaktionen

Der Armuts- und Reichtumsbericht hat eine Vielzahl politischer Reaktionen ausgelöst. Politiker und Parteien haben alte Forderungen wieder aufgewärmt. Sie reichen von Steuer- und Sozialabgabensenkungen für den Mittelstand (CDU), Steuererhöhungen für die Reichen (Die Linke) bis zur Einführung von Mindestlöhnen (SPD, DGB), usw. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, die Berliner Politik werde aufgrund der neuen Zahlen von ihrer Politik der sozialen Umverteilung ablassen. SPD und CDU haben bislang auf Druck von unten immer mit einem Rechtsschwenk reagiert.

Der Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung macht schon in der Einleitung deutlich, dass die bisherige Politik der sozialen Umverteilung weitergeführt wird: "Allerdings ist der finanzielle Spielraum für investive, aktivierende und präventive Maßnahmen zur Armutsvermeidung durch die Verschuldung der öffentlichen Haushalte begrenzt. Im Bundeshaushalt 2008 werden rund 15% der Ausgaben in Höhe von 283 Mrd. Euro ausschließlich für Zinszahlungen veranschlagt. Deshalb bleibt die Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung unverändert notwendig", heißt es da.

Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) hat dementsprechend allen Forderungen nach Steuersenkungen eine Absage erteilt: "Sollte das ernst gemeint sein, wird da mit der Verlässlichkeit und Stetigkeit der Koalitionsregierung gespielt", warnte er.

Mögliche Reaktionen werden vor allem kosmetischer Natur sein. In den Regierungsparteien wächst die Sorge, der wachsende Unmut könnte sich gegen sie richten. Laut einer Umfrage im Auftrag der britischen Financial Times sind 87 Prozent der Deutschen der Meinung, die soziale Ungleichheit sei zu groß.

Auch das wird im Armutsbericht thematisiert, der sich erstmals auch mit subjektiven Haltungen und Auffassungen zum Reichtum befasst. "Die gesellschaftliche Akzeptanz von Reichtum hängt stark davon ab, inwiefern es gelingt, die Umverteilungsmechanismen aus der Sicht der Bürger fair zu gestalten", heißt es darin. "Werden die Unterschiede zwischen Arm und Reich als zu groß und schwer überwindbar wahrgenommen, kann dies die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft und der Demokratie in Frage stellen."

Und weiter: "Ein großer Teil der Bevölkerung ist der Auffassung, dass man nur dann reich wird, wenn man über günstige Beziehungen und Ausgangsbedingungen verfügt." Jeweils rund 80 Prozent der Befragten haben angegeben, dies seien die wichtigsten beiden Gründe, um reich zu werden. Dass man mit "harter Arbeit" reich wird, glauben bedeutend weniger. Eher helfe einem noch "Unehrlichkeit". Der Bericht schließt: "Diese Einschätzung ist allerdings mit dem allgemeinen Verständnis von Chancengleichheit nicht vereinbar."

Es wachsen aber auch die Stimmen, die eine Politik ohne jede Rücksichtnahme auf die Stimmung der Bevölkerung fordern. Das wurde in der Reaktion auf die Rücknahme der Diätenerhöhungen für Bundestagsabgeordnete deutlich. Nachdem die geplante Erhöhung von mehr als 1.100 Euro im Monat auf eine Welle der Empörung gestoßen war, hatten die beiden Fraktionschefs Peter Struck (SPD) und Volker Kauder (CDU) vereinbart, sie vorerst aufzuschieben.

Dafür ernteten Struck und Kauder heftige Kritik, sie hätten dem Druck der Straße nachgegeben. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) sagte im ZDF: "Druck nachzugeben hat sich noch nie ausgezahlt." Der CDU-Politiker Jürgen Gehb sprach von einem "Armutszeugnis für die Verlässlichkeit der Politik" und warf der SPD "Populismus" vor. Zeitungskommentare griffen die "fehlende Autorität" von CDU und SPD, ihren "mangelnden Mut", ihre "Unbeholfenheit" und "Feigheit" an.

Die Massenarmut und soziale Polarisierung ist für die Bundesregierung nicht vom Standpunkt der Betroffenen von Bedeutung, sondern vom Standpunkt der Stabilität des Status Quo. Sie wird daher die Aufrüstung des Staates und dessen Vorbereitung auf Massenproteste forcieren, um die Armen, anstatt die Armut, bekämpfen zu können.

Siehe auch:
Managergehälter und Mindestlohn
(19. Dezember 2007)
Das Resultat langjähriger Gewerkschaftspolitik: Arbeiterlöhne sinken - Managergehälter steigen
(13. April 2007)
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