Massenproteste in Griechenland - eine Frage der politischen Perspektiven

Die Straßenschlachten, die sich Tausende von Jugendlichen in Athen, Thessaloniki und anderen Städten Griechenlands mit der Polizei und bewaffneten Sicherheitskräften lieferten, haben Schockwellen in den europäischen Hauptstädten ausgelöst.

Die Regierungen in London, Paris, Madrid, Rom und Berlin wissen sehr genau, dass die katastrophalen Verhältnisse an Schulen und Hochschulen keine griechische Spezialität sind. Auch die miserablen Verdienstmöglichkeiten, fehlenden Arbeitsplätze und Zukunftschancen für junge Menschen und selbst die Stumpfsinnigkeit und Brutalität der Polizei sind nicht auf die hellenische Halbinsel beschränkt.

Überall in Europa und weltweit ist die junge Generation mit einer Gesellschaft konfrontiert, deren herrschende Schicht sich auf Kosten der Allgemeinheit hemmungslos bereichert, die Staatskasse plündert, Bildungs- und Sozialsysteme zerstört und ihre Privilegien mit Hilfe einer korrupten Staats- und Parteien-Bürokratie und bewaffneten Polizeieinheiten verteidigt. Millionen Schülern und Studenten werden eine vernünftige Ausbildung, ein zukunftsichernder Arbeitsplatz und eine gesellschaftliche Perspektive verweigert. Stattdessen drohen Arbeitslosigkeit, Billiglohnjobs und zunehmende Militarisierung.

Gerade weil die Probleme nicht auf Griechenland beschränkt sind, sondern europa- und weltweit bestehen, müssen die jüngsten Ereignisse in Athen, Thessaloniki und anderen griechischen Städten in größerem politischen Zusammenhang betrachtet werden.

Die Straßenschlachten der vergangenen Tage machen deutlich, dass viele Jugendliche nicht mehr bereit sind, die untragbaren Verhältnisse hinzunehmen. Die Abscheu gegenüber den Phrasen und Versprechungen einer korrupten Politikerkaste und der Mut und die Furchtlosigkeit, mit der junge Schüler und Studenten den bewaffneten Sondereinheiten der Polizei entgegentraten, sind zu begrüßen. Nichts wird sich ändern ohne das aktive, massenhafte und unerschrockene Eingreifen der Betroffenen.

Die Wut und Empörung, die sich in den Straßenschlachten entlud, hat tief liegende objektive Ursachen und kündigt eine weit größere Rebellion an. Doch Protest, selbst wenn er radikale und aggressive Formen annimmt, reicht nicht aus. Es ist notwendig, eine grundlegende Umwälzung der Gesellschaft vorzubereiten!

Protest, selbst in seinen radikalsten Formen, bleibt auf reformistische Illusionen beschränkt. Er setzt die Herrschenden unter Druck, in der Hoffnung, dass sie ihre Politik ändern werden. Doch die Krise der kapitalistischen Gesellschaft kann nicht mehr durch Reformen überwunden werden. Notwendig ist eine gesellschaftliche Umwälzung, die die herrschende Elite in Wirtschaft und Politik entmachtet und demokratische Verhältnisse schafft, unter denen die Bedürfnisse der großen Mehrheit der Bevölkerung im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung stehen. Das erfordert eine sozialistische Perspektive.

Als erstes muss eine gewissenhafte politische Bestandsaufnahme gemacht werden. Wie in einem Brennglas zeigen sich in dem relativ kleinen Land am östlichen Mittelmeer mit seiner langen Geschichte alle grundlegenden Probleme der europäischen Gesellschaft.

Die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise haben die seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise Griechenlands dramatisch verschärft. Ende November veröffentlichte das Handelsblatt einen Artikel unter der Überschrift "Griechische Reeder in schwerer See". Darin heißt es, die Schlüsselbranche des Landes schippere in "eine tiefe Rezession". Die Erlöse seien "drastisch eingebrochen". Das Blatt zitiert einen Logistikexperten mit den Worten: "Diese Krise übersteigt alles, was wir bisher erlebt haben."

Auch die Industrieproduktion, die nur 13,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht, ist im vergangenen Jahr massiv eingebrochen. Die Bereiche Textil und Bekleidung (-10 Prozent), Metallproduktion (-9,1), Unterhaltungselektronik (-22,3) und Schiffbau (-18,1) haben deutliche Rückgänge erlitten. Die ausländischen Direktinvestitionen sind von 31,3 Milliarden Euro 2006 auf 4,6 Milliarden im letzten Jahr gesunken. Einen ähnlichen Absturz erlebte der Athener Aktienindex ASE General, der seit Jahresbeginn von 5.000 auf unter 1.900 Punkte absackte.

Die Staatsverschuldung wird, trotz massiver Privatisierungen und Kürzungen im Sozialbereich, mit 94 Prozent des BIP in der Eurozone nur noch von Italien überboten. Parallel hat sich die Verschuldung der privaten Haushalte in den letzten sieben Jahren - seit der Einführung des Euro und den damit verbunden Preissteigerungen - von 16,8 auf 93,3 Milliarden Euro mehr als verfünffacht.

Die Löhne sind extrem niedrig.789 Euro beträgt der Durchschnittslohn derzeit - das ist kaum mehr als in Polen (785 Euro) und deutlich weniger als in Portugal (1080 Euro). Die Jugendarbeitslosigkeit liegt offizielle bei 21,4 Prozent und wird in der EU nur von Spanien (25 Prozent) übertroffen.

Mitte Oktober beschloss die Regierung von Kostas Karamanlis ein "Bankenrettungspaket" von 28 Milliarden Euro, um die Spekulationsverluste der Reichen und Superreichen des Landes abzusichern. Damit ist eine neue Runde von Sparmaßnahmen und Sozialkürzungen vorprogrammiert.

Seit Jahrzehnten wird die Politik in Griechenland, wo einst die Wiege der Demokratie stand, von zwei Familiendynastien dominiert: dem Karamanlis-Clan und dem Papandreou-Clan. Beide bilden ein enges Netz aus Korruption und Vetternwirtschaft, das den Staat und alle wichtigen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dominiert.

Der gegenwärtige Regierungschef Kostas Karamanlis ist der Neffe von Konstantin Karamanlis, der 1974 die konservative Nea Dimokratia (Neue Demokratie, ND) gründete und mehrmals Premierminister und Staatspräsident war. Der gegenwärtige Staatspräsident Karolos Papoulias ist ein Gründungsmitglied der Panhellenische Sozialistische Bewegung (PASOK) und ein enger Freund von Andreas Papandreou, dessen Sohn heute Vorsitzender von PASOK ist.

Wie kaum eine andere Partei hat PASOK die griechische Politik seit dem Ende der Militärregierung im Jahr 1974 dominiert. Von 1981 bis 1989 und von 1993 bis 2004 stellte sie die Regierung und übte zudem starken Einfluss auf die Gewerkschaften des Landes aus. Während PASOK in den 80er Jahren noch nationalistische Konzeptionen vertrat, die sich vor allem in antiamerikanischer und antieuropäischer Rhetorik äußerten, und begrenzte Sozialreformen durchführte, hat sie sich, wie andere europäische sozialdemokratische Parteien auch, in den 90er Jahren zunehmend am neoliberalen Wirtschaftsmodell orientiert und unter dem Druck der Europäischen Union einen rigiden Sozialabbau durchgeführt.

Aufgrund ihrer wirtschaftsliberalen Politik und ihrer zunehmend aggressiven Außenpolitik, wie der Unterstützung des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien, verlor PASOK zunehmend an Unterstützung, was der konservativen ND-Regierung von Kostas Karamanlis 2004 an die Macht verhalf.

In dieser Situation eilt die Kommunistische Partei (KKE), beziehungsweise was von ihr noch übrig ist, PASOK zu Hilfe. Die KKE hatte während und in den Jahren nach der Militärdiktatur ein gewisses Ansehen genossen, blieb aber immer eng mit dem stalinistischen Regime in Moskau verbunden. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach auch die KKE ein. Nach der Abspaltung mehrerer Flügel ist heute nur noch ein harter Kern von Ex-Stalinisten übrig geblieben, der seinen Einfluss in den Gewerkschaften nutzt, um die Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten.

Es ist bezeichnend, dass die KKE-Vorsitzende Aleka Papariga unmittelbar nach Beginn der Straßenschlachten die Jugendlichen als "blindwütige Gewalttäter" attackierte und vor "jugendlicher Selbstjustiz" warnte. Die KKE spielt gegenwärtig eine Schlüsselrolle, um ein Übergreifen der Radikalisierung auf die Arbeiterklasse zu verhindern.

Angesichts dieser Rechtsentwicklung der Parteien gibt es unter den Jugendlichen in Griechenland gegenwärtig zwei unterschiedliche Reaktionen. Einige setzen Hoffnungen in ein Linksbündnis, das sich als "Koalition der Linken, der Bewegungen und der Ökologie" bezeichnet. Andere lehnen in anarchistischer Tradition alle Parteien ab und machen die Arbeiter für die Rechtswendung von PASOK, KKE und Gewerkschaften verantwortlich. Beide Positionen sind falsch.

Das so genannte "Linksbündnis" SYRIZA ist ein Sammelbecken verschiedenster radikaler Gruppierungen. Grüne, Pazifisten, Feministen, radikale Linke und selbst ernannte Sozialisten haben sich in ihr vereint. So heterogen die Zusammensetzung der Partei, so schwammig und unklar ist auch ihr Programm. Im Wahlkampf letzten Jahres setzte sie vor allem auf Ökologie als kleinsten gemeinsamen Nenner, nachdem es im Vorfeld immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen war.

Explizit hatte sich die Parteiführung dagegen verwahrt, sozialistische Forderungen aufzustellen. Stattdessen hoffte die Partei auf einen knappen Sieg der PASOK, die dann ihrerseits möglicherweise ein Bündnis mit SYRIZA eingegangen wäre. Nicht zufälligerweise war der Vorsitzende der deutschen Linkspartei, Lothar Bisky, als Gastredner auf Wahlveranstaltungen von SYRIZA aufgetreten. Man muss sich nur die Politik der Linkspartei in der Berliner Landesregierung ansehen, um zu verstehen, dass von diesem "Linksbündnis" nichts Fortschrittliches zu erwarten ist.

Aber auch die anarchistische Verurteilung aller Parteien führt in eine Sackgasse. Sie hat die politische Entwaffnung, Isolation und schließlich politische Frustration der Bewegung zur Folge.

Notwendig ist eine zielstrebige Orientierung auf die Arbeiterklasse in Griechenland und ganz Europa. Das erfordert ein internationales sozialistisches Programm, das sich auf die politischen Erfahrungen der großen Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse stützt und dabei nicht die Augen vor den Niederlagen und Tragödien der vergangenen Jahrzehnte verschließt, sondern daraus politische Lehren zieht.

Die World Socialist Web Site und die europäischen Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die Partei für Soziale Gleichheit in Deutschland und Socialist Equality Party in Großbritannien, treten für die Vereinigung der europäischen Arbeiter in einem gemeinsamen Kampf gegen die EU und für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa ein.

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