Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am Mittwoch in einem fundamentalen Angriff auf das demokratische Grundrecht der Versammlungsfreiheit das polizeiliche Verbot einer Demonstration gegen den G-8-Gipfel bestätigt, die am 7. Juni in Form eines Sternmarsches zum Tagungsort Heiligendamm stattfinden sollte.
Dies obwohl die Richter praktisch anerkannten, dass das Verbot und dessen Bestätigung durch das Oberwaltungsgericht von Mecklenburg-Vorpommern verfassungswidrig waren. Aufgrund der gewalttätigen Auseinandersetzungen in Rostock in den letzten Tagen könne die Verfassungswidrigkeit des polizeilichen Sicherheitskonzeptes aber "dahinstehen", heißt es in der Urteilsbegründung.
Gleichzeitig gibt es immer konkretere Hinweise darauf, dass diese Gewalttätigkeiten durch Provokateure der Polizei selbst ausgelöst wurden. Am Abend bevor das Gericht seinen Beschluss fasste, wurde am Sicherheitszaun in Heiligendamm eine Gruppe von fünf Polizeibeamten von Demonstranten enttarnt, die als Zivilpolizisten im Stil des so genannten "Schwarzen Blocks" gekleidet waren und versuchten, die Protestierenden zu Straftaten aufzuhetzen.
Die Demonstration war bereits am 30. Oktober letzten Jahres angemeldet worden, am 10. Mai führte das aus verschiedenen linken Gruppen bestehende Sternmarschbündnis Gespräche mit der Polizei, in der diese erklärte, dass der Marsch nicht werde stattfinden können. Die geplante Demonstrationsroute führte durch einen etwa 40 Quadratkilometer umfassenden Sicherheitsbereich um Heiligendamm, der auf einer Karte markiert war und für dessen Eingrenzung die Errichtung einer technischen Sperranlage vorgesehen war. In diesem Sicherheitsbereich müssten die Straßen freigehalten werden, verlangte die Polizei.
Die Veranstalter erklärten, sie planten keine Blockaden des Gipfels und meldeten mehrere Ersatzrouten an. Eine Woche später verbot die Polizei den Sternmarsch sowohl für die angemeldeten als auch für die Ersatzrouten.
Gegen dieses Verbot wandten sich die Anmelder der Demonstration zunächst an das Verwaltungsgericht Schwerin, das ihnen Recht gab. Das Verbot sei völlig unverhältnismäßig. Das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg Vorpommern hob diesen Beschluss aber wieder auf und entschied, lediglich in den Nachbarstädten dürften Demonstrationen stattfinden.
Das Bundesverfassungsgericht legt seitenweise dar, welch hohes Gut das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit darstellt und dass weder das Sicherheitskonzept der Polizei noch die dieses Konzept bestätigende Entscheidung des Oberverwaltungsgericht dem Rechnung tragen.
Es weist darauf hin, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit das Interesse des Veranstalters schützt, seinen Protest durch "eine möglichst große Nähe zu dem symbolhaltigen Ort, hier des G8-Gipfels" stattfinden zu lassen. Ansonsten werde der Zweck der Versammlung möglicherweise verfehlt. Auch "Empfindlichkeiten ausländischer Politiker" könnten Beschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht rechtfertigen. Der "verfassungsrechtliche Schutz von Machtkritik" sei "nicht auf Kritik an inländischen Machthabern begrenzt". Das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern hatte seine Bestätigung des Verbots unter anderem mit dem "internationalen Ansehen Deutschlands" begründet.
Das Bundesverfassungsgericht rügt: "Auch die auf Anforderung des Gerichts erfolgte Darstellung des Sicherheitskonzepts durch die Polizeidirektion Rostock geht in keinerlei Hinsicht auf die Frage der Berücksichtigung berechtigter Belange zur Durchführung von Demonstrationen ein. Nach den vorliegenden Unterlagen ging es in dem Sicherheitskonzept ausschließlich darum, Sicherheit gegen Demonstranten und gegen die möglicherweise im Umfeld der Demonstration sich aufhaltenden potentiellen Gewalttäter zu ermöglichen."
All das sind aber letztlich nichts als schöne Worte. Das Bundesverfassungsgericht räumt zwar unter Bezugnahme auf seine frühere Rechtsprechung sogar ein, dass für friedliche Teilnehmer der Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben muss, wenn eine Minderheit Ausschreitungen begeht, und erläutert: "Andernfalls hätten Minderheiten es in der Hand, Demonstrationen umzufunktionieren’ und entgegen dem Willen der anderen Teilnehmer rechtswidrig werden zu lassen; praktisch könnten viele Großdemonstrationen verboten werden, nämlich alle, bei denen sich Erkenntnisse über unfriedliche Absichten eines Teils der Teilnehmer beibringen lassen." Genau um solche "Ausschreitungen unfriedlicher Minderheiten" - das Verfassungsgericht übernimmt unkritisch die von der Polizei angegebene Zahl von 2.000 - geht es hier.
Und die Karlsruher Richter begründen dann in fünf Absätzen mit "Erkenntnissen" der Polizei über angeblich geplante Ausschreitungen, das Demonstrationsverbot dann doch zu bestätigen. Es "bestehe [laut Polizei] die Gefahr, dass der geplante Sternmarsch zu einem besonderen Anziehungspunkt für militante Störer werde".
Mit erhobenem Zeigefinger dozieren die Verfassungsrichter im beschaulichen Karlsruhe über "nach Angaben der Polizei mehrere hundert verletzte Polizeibeamte" und "erhebliche Sachbeschädigungen" am 2. Juni in Rostock. Diese Angaben werden weder kritisch überprüft, noch nach der Verantwortung der Polizei für die Eskalation gefragt, noch überhaupt erwähnt, dass hunderte friedlicher Demonstranten Opfer polizeilicher Gummiknüppel, Wasserwerfer und Reizgas wurden. Dass der Zweck der Demonstration wahrscheinlich kaum noch erreicht werden kann, wenn sie kilometerweit von dem Ort verbannt wird, gegen die sich richtet, sei "hinzunehmen", so die Karlsruher Richter lapidar.
Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts läuft letztlich darauf hinaus, dass durch gewalttätige Ausschreitungen einer Minderheit bei einer Grossdemonstration, die dann zu einer Eskalation der Situation führt, selbst ursprünglich verfassungswidrige Demonstrationsverbote im Nachhinein rechtmäßig werden können. Besonders unheilvoll wird diese Entscheidung durch die sich häufenden Anhaltspunkte, dass diese Ausschreitungen in Rostock von den Sicherheitsbehörden selbst provoziert wurden. Dies ist ein fundamentaler Angriff auf die Versammlungsfreiheit. Der Staat hat es damit fast nach Belieben in der Hand, mit Verweis auf angeblich drohende Gewalttätigkeiten Demonstrationen zu unterdrücken.