Nach der Veröffentlichung des National Intelligence Estimate (NIE), des Berichts der US-Geheimdienste zum Iran am 3. Dezember haben führende europäische Politiker die Notwendigkeit betont, Sanktionen gegenüber Teheran aufrecht zu erhalten und weiterhin politischen Druck auszuüben.
Der NIE stützt sich auf Ergebnisse, die von 16 amerikanischen Geheimdiensten zusammengestellt wurden, und liefert die Bestätigung, dass der Iran kein Programm zur Entwicklung von Atomwaffen verfolgt. Der Bericht - der den Aussagen früherer NIE-Berichte eindeutig widerspricht - macht deutlich, dass die Kriegspropaganda Washingtons gegen den Iran auf einem Lügennetz basiert, das ein ähnliches Muster aufweist wie die Kampagne, die dem Irakkrieg voranging. Es baut auf der Behauptung auf, vom Iran gehe eine nukleare Bedrohung aus.
Dennoch haben führende politische Kreise und einflussreiche Medien in Europa auf den Bericht reagiert, indem sie ihre Appeasement-Politik gegenüber Washington fortsetzen. Obwohl ihnen die Brisanz der Ergebnisse des NIE völlig bewusst ist, kritisieren die Politiker in London, Paris und Berlin die Regierung Bush nicht und praktizieren ein "Weiter wie gehabt" - das heißt, sie halten an internationalen Sanktionen und wirtschaftlichem und politischem Druck gegenüber Teheran fest. So übernehmen sie wieder die gleiche kriminelle Rolle, die sie schon im Vorfeld des Irakkrieges spielten.
US-Außenministerin Condoleezza Rice war am 6. Dezember zu einem Nato-Treffen nach Brüssel gekommen, um die europäischen Verbündeten von einer Kursänderung in der Iranpolitik abzuhalten. Der belgische Außenminister Karel De Gucht verkündete nach dem Treffen, alle seien sich einig, dass die derzeitige Haltung nicht verändert werde. Der Iran halte an der Urananreicherung fest. Dies sei ein Hinweis auf die Ambitionen des Regimes, Atomwaffen herzustellen.
Führende europäische Politiker hatten bereits vor dem Treffen signalisiert, dass sie die Regierung in Washington und die Initiativen von Rice trotz der Enthüllungen des NIE weiterhin unterstützen wollen.
Die Sprecherin des französischen Außenministeriums Pascale Andréani erklärte: "Der Iran respektiert seine internationalen Verpflichtungen nicht, daher bleibt unsere Haltung unverändert." Sie sprach für den französischen Präsidenten und sagte, dass Frankreich "weiterhin im Rahmen der Vereinten Nationen Maßnahmen (Sanktionen) ergreifen wird".
Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) enthielt sich in einem Kommentar zum NIE-Bericht jeglicher Kritik an der anti-iranischen Kampagne der Regierung Bush und bemerkte lediglich, dass der Bericht die Möglichkeit der Ausweitung des Dialoges eröffne. Er ließ wissen, dass die beschlossene Politik der Sanktionen fortgesetzt werde, und unterstrich die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für einen atomwaffenfreien Nahen Osten.
Für den Koalitionspartner CDU erklärte ihr außenpolitischer Experte Eckhard von Klaeden ebenfalls, dass der Druck auf den Iran aufrecht erhalten werden müsse. Gegenüber der Berliner Zeitung sagte er: "Iran baut immer noch an einem Raketenabschusssystem, arbeitet immer noch nicht vollständig mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zusammen und unterstützt international agierende Terrororganisationen, wie Hamas und Hisbollah."
Die Reaktionen der Presse
Zahlreiche deutsche Zeitungen reagierten mit einem vernehmbaren Aufatmen auf den NIE-Bericht, da er angeblich die Gefahr einer Militäraktion gegen den Iran beseitigt habe. Spiegel Online erklärte: "Die Apokalypse, von US-Präsident George W. Bush zuletzt noch in Form eines drohenden Dritten Weltkriegs’ beschworen, ist vorerst abgesagt."
Auch die Süddeutsche Zeitung begrüßte die Veröffentlichung des NIE: "Jetzt kennen sie alle, und er [Bush] wird sie nicht länger ignorieren können. Bush wird auf seine letzten Tage im Weißen Haus nicht den dritten Krieg seiner Amtszeit beginnen, jedenfalls nicht gegen Iran." In einem euphorisch mit "Putsch der Tauben" überschriebenen Artikel erklärte die Wochenzeitung Die Zeit: " Der Geheimdienstbericht ist ein Sieg der Tauben."
Andere Kommentare über den NIE sahen weitreichende Rückwirkungen auf die amerikanische Hegemonie in anderen Weltregionen voraus. Karl Grobe bemerkt in der Frankfurter Rundschau zu den amerikanischen Plänen, unter dem Vorwand einer angeblichen iranischen Gefahr in Osteuropa Raketenabwehrbasen zu errichten: "...der mit dem Eilt-Stempel versehene Plan, in Polen und Tschechien eine Raketenabwehrstellung zu installieren, (war) nicht rational begründbar, sondern ideologisch motiviert."
Die rechten, konservativen und der Wirtschaft nahstehenden Blätter schlagen denselben Ton an wie die meisten europäischen Regierungen. Sie versuchen die neuen Erkenntnisse herunterzuspielen.
Der französische Figaro warnt vor "nachlassender Vorsicht" gegenüber dem Iran.
Die Welt wiederholt Präsident Bushs verquere Argumentation, wonach der Iran irgendwann zwischen 2010 und 2015 ausreichende atomare Ausrüstung zum Bau eines atomaren Sprengkopfes besitzen könnte, was kein langer Zeitraum mehr sei. Daher gebe es keinen Grund, sich zur Ruhe zu setzen.
Die Financial Times Deutschland schreibt, der NIE-Bericht sei kein Grund zur Entwarnung. Das Blatt fordert die amerikanische und europäische Seite auf, dem Druck Russlands und Chinas, die umfassende Sanktionen ablehnen, auch weiterhin zu widerstehen.
Den unterschiedlichen Reaktionen deutscher Zeitungen auf den NIE-Bericht entsprechen im Allgemeinen die der britischen Medien. Der Guardian überschrieb seinen Leitartikel mit "Verschobener Krieg", der Independent begrüßte den Bericht voll und ganz. Demgegenüber warnten konservative Blätter wie die Times und der Telegraph vor nachlassendem Druck gegenüber dem Iran.
Spaltungslinien in Europa
Die verschiedenen Reaktionen auf den NIE-Bericht zeigen tiefgreifende Meinungsunterschiede innerhalb der europäischen politischen Elite über die Frage, wie sie ihre eigenen Interessen im Nahen Osten am besten durchsetzen können. Alle wichtigen europäischen Mächte verfolgen imperialistische Interessen in der Region und haben keine Skrupel, selbst militärische Gewalt einzusetzen, wenn sie es für nötig halten. Gleichzeitig fragen sich einflussreiche politische Kreise in Europa wegen der aggressiven amerikanischen Außenpolitik und besonders dem amerikanischen Debakel im Irak, ob es wirklich sinnvoll ist, eine Außenpolitik an der Nabelschnur Washingtons zu betreiben.
Mit der Wahl des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy im Mai dieses Jahres schwenkte eine große europäische Macht außenpolitische in Richtung Washington. Sarkozy macht kein Hehl aus seiner Bewunderung für den amerikanischen Präsidenten. Seit seiner Wahl tritt er als energischer Verfechter von Strafaktionen gegen den Iran auf. Insbesondere im Libanon arbeitet die französische Außenpolitik bei der Isolierung eines der wichtigsten regionalen Verbündeten des Iran, der Hisbollah, eng mit den USA zusammen.
Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die im Jahr 2005 an die Macht kam, steht für engere Bindungen an die USA. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) hatte sie schon 2003 den amerikanischen Kriegsgang gegen den Iran ausdrücklich unterstützt. Ihre unkritische Haltung gegenüber Washington hat jedoch innerhalb ihrer brüchigen Koalition zu wachsenden Spannungen geführt.
Kürzlich hat Außenminister Steinmeier mit seiner Kritik an Merkels Entscheidung, den Dalai Lama in Berlin zu empfangen, für Aufsehen gesorgt. Dieser Empfang war ein eindeutiger Affront gegen die chinesische Regierung, mit der die deutsche Regierung ausgiebige Geschäfts- und Handelsverbindungen pflegt.
Obwohl die deutsche Kanzlerin selbst außenpolitisch sehr aktiv ist, hat Steinmeier die offizielle deutsche Position zum Iran und zum NIE-Bericht formuliert. Er tritt für eine Kombination von Sanktionen und direkten Verhandlungen mit der iranischen Führung ein. Unterstützt wird Steinmeier von dem früheren Außenminister Joschka Fischer von den Grünen. Dieser argumentierte vor kurzem in der Zeit ähnlich wie Steinmeier. Steinmeier war auch maßgeblich daran beteiligt, eigenständige europäische Initiativen auf den Weg zu bringen, wie kürzlich die Reise der Außenminister von Großbritannien, Frankreich und Deutschland nach Teheran.
Trotz der Differenzen zwischen den europäischen Regierungen über das Verhalten gegenüber dem Iran besteht Einmütigkeit in einer Kernfrage: die Unterstützung für Israel wird nicht hinterfragt. In den Kommentaren europäischer Politiker und Medien fällt das Fehlen jeglicher Kritik an Stellungnahmen israelischer Politiker auf, obwohl diese den NIE-Bericht umgehend öffentlich angeprangert und ihre Angriffsdrohungen gegen den Iran wiederholt haben.
Israel hat erklärt, es erkenne in dem Bericht keinen Grund, von seinen Vorbereitungen eines Militärschlages gegen den Iran abzulassen, auch stellvertretend für die USA. Die Option, dass Israel einen Militärschlag gegen den Iran durchführt, der Gegenmaßnahmen von Teheran provoziert, die dann wiederum als Vorwand für eine Intervention der USA dienen, wird in Washingtoner Kreisen seit einiger Zeit diskutiert..
Dass Israel und die USA bei der Vorbereitung eines Militärschlags gegen den Iran politisch, militärisch und geheimdienstlich eng zusammenarbeiten und sich abstimmen, ist für westeuropäische Nachrichtendienste kein Geheimnis. Diese sind sich auch völlig im Klaren, dass Präsident Bush die Ergebnisse des NIE-Berichts während der jüngsten Konferenz in Annapolis mit dem israelischen Premierminister Ehud Olmert diskutierte.
Wären die europäischen Mächte wirklich an einer friedlichen Lösung des Konflikts mit dem Iran interessiert, hätten ihre Außenminister die Kriegshetze aus Israel umgehend verurteilt. Den europäischen Großmächten Großbritannien, Deutschland und Frankreich gilt Kritik an Israel jedoch als unzulässig.
Während das Kriegsgetrommel gegen den Iran ähnliche Formen annimmt, wie die Vorbereitungen der Bush-Administration auf den Irakkrieg - eine systematische Kampagne von Lügen und Provokationen, die in der Demokratischen Partei der USA auf keine wirkliche Opposition trifft -, weist auch die Iranpolitik der europäischen Länder auffällige Ähnlichkeiten zu der auf Rolle, die sie im Vorfeld des Irakkrieges spielten.
Frankreich, Deutschland und Großbritannien hatten die Sanktionsbeschlüsse gegen den Irak unterstützt, die zum Tod von schätzungsweise 500.000 Kinder führten. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatten die Staatschefs und die Außenminister dieser Länder erklärt, die Unterstützung der von Washington diktierten Sanktionen sei die einzige Möglichkeit, Einfluss auf die amerikanische Politik zu behalten und einen offenen Krieg zu verhindern.
2003 konnte die Regierung Bush dann den Umstand, dass der Irak durch jahrelange Sanktionen geschwächt worden war, für die Invasion und die anschließende Besetzung des Landes ausnutzen. Einige europäische Regierungen, wie Frankreich und Deutschland, lehnten zwar den US-geführten Krieg ab, unternahmen aber nichts gegen den Krieg und leisteten hinter den Kulissen taktische Unterstützung für die amerikanische Kriegsmaschinerie.
Es gab natürlich Differenzen über den Irakkrieg zwischen einigen europäischen Regierungen und den USA, diese waren jedoch ausschließlich taktischer Natur. Die europäischen Mächte und ihr transatlantischer Verbündeter verfolgen das gleiche Interesse - sie möchten die riesigen Bodenschätze im Nahen Osten für den Westen sichern.
Jetzt finden wir dasselbe Szenario in Bezug auf den Iran wieder. Die europäischen Regierungen sind wegen den politischen Konsequenzen eines amerikanischen Militärschlags gegen den Iran zwar ohne Zweifel alarmiert. Die möglichen katastrophalen Folgen eines solchen Konflikts sind die Ursache wachsender Spannungen und Differenzen innerhalb der europäischen Bourgeoisie. Wie schon beim Irak argumentieren die europäischen Außenminister erneut, europäische Unterstützung für Sanktionen sei die einzige Möglichkeit, einen amerikanischen Militärschlag gegen den Iran zu verhindern.
In Wirklichkeit haben Appeasement und die Unterordnung Europas unter Washington in den Neunzigerjahren der amerikanischen Irakintervention den Weg geebnet. Es wäre eine Selbsttäuschung, wegen des NIE-Berichts oder wegen der europäischen Diplomatie im Nahen Osten an eine verringerten Gefahr eines amerikanischen Militärschlag gegen den Iran zu glauben.