Eine vulgäre, zynische Rede von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany hat in Ungarn eine Welle von Massendemonstrationen und gewaltsamen Auseinandersetzungen ausgelöst.
Die Rede wurde am 26. Mai in einer geschlossenen Fraktionssitzung der Sozialistischen Partei (MSZP) gehalten, gelangte aber erst am vergangenen Sonntag an die Öffentlichkeit, als das ungarische Radio einen zugespielten Tonbandmitschnitt sendete. Gyurcsany hat sich anschließend zu dem Text bekannt und ihn auf seine eigene Website gestellt. Der Mitschnitt zeigt das Ausmaß der Verachtung und die Abgehobenheit Gyurcsanys und seiner Regierung gegenüber der Bevölkerung.
Der Ministerpräsident hatte die umstrittene Rede kurz nach der Parlamentswahl vom 23. April gehalten. Sie sollte die MSZP, die Nachfolgeorganisation der früheren stalinistischen Staatspartei, auf das Sparpaket einschwören, das zwei Wochen später verabschiedet wurde. Gyurcsany gibt in der Rede freimütig zu, dass er die Wähler bewusst und absichtlich belogen und für notwendig erachtete Sparmaßnahmen aufgeschoben hatte, um die Wahl zu gewinnen.
"Wir haben die letzten eineinhalb Jahre durchgelogen. Es war ganz klar, dass nicht wahr ist, was wir sagen," erklärte er seinen Parteikollegen. "Wir haben morgens gelogen, wir haben abends gelogen." Er könne "keine einzige bedeutsame Regierungsentscheidung nennen", fuhr er fort, "auf die wir stolz sein können, außer dass wir zum Schluss die Regierungsarbeit aus der Scheiße gefahren haben".
Gyurcsany ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sein Sparpaket zutiefst unpopulär sei und die Partei massenhaft Stimmen kosten werde. Doch um die Meinung der Wähler, beschwor er die Fraktion, dürfe man sich ebenso wenig kümmern, wie um die Wahlversprechen von gestern.
"Die ersten paar Jahre werden furchtbar sein", sagte er. "Es ist völlig uninteressant, dass nur zwanzig Prozent der Bevölkerung für uns stimmen werden. (...) Was wäre, wenn wir unsere Popularität einmal nicht verlieren, weil wir Arschlöcher zueinander sind, sondern weil wir große gesellschaftliche Dinge machen wollen? Und es ist auch kein Problem, wenn wir dann für einige Zeit unsere Popularität in der Gesellschaft verlieren."
Gyurcsany unterstrich seine provokativen Äußerungen mit zahlreichen Fäkalausdrücken. Seine Gossensprache fällt selbst in den nicht gerade zimperlichen politischen Kreisen Ungarns aus dem Rahmen.
Das Bekanntwerden von Gyurcsanys Rede löste in Ungarn die heftigsten Auseinandersetzungen seit dem Ende des stalinistischen Regimes 1989 aus. In der Nacht von Montag auf Dienstag kam es in mehreren Städten des Landes zu Protesten, an denen sich mehrere Tausend Menschen beteiligten.
Die Situation eskalierte, als etwa 2.000 Regierungsgegner den Sitz des staatlichen Fernsehsenders in Budapest stürmten. Kurzfristig musste der Sender sogar das Programm unterbrechen. Zahlreiche Autos und Geschäfte in der Innenstadt gingen in Flammen auf. Die Polizei ging gegen die Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas vor. Es wurden etwa 100 Polizisten und 50 Demonstranten verletzt und Dutzende Personen festgenommen.
Die Brandstifter und Provokateure sind aber nur eine kleine Minderheit unter den Demonstranten. Am Dienstag gingen im ganzen Land mehrere Zehntausend auf die Straße, um ihre Empörung über die Rede Gyurcsanys kundzutun. Allein auf dem Kossuth-Platz vor dem ungarischen Parlament demonstrierten rund 10.000 Menschen für den Rücktritt des Regierungschefs. Nachts kam es dann wieder zu Kämpfen zwischen der Polizei und Randalierern. Diese versuchten, in die Parteizentrale der MSZP einzudringen.
Politisch versuchen vor allem rechte und rechtsradikale Kräfte aus der Empörung über den Regierungschefs Kapital zu schlagen.
Der Fidesz von Oppositionsführer Victor Orban plant für Samstag eine Großdemonstration. Seit die rechtskonservative Partei 2002 die Macht an die Sozialisten verlor, hat sie sich weit nach rechts orientiert und gezielt in faschistischen Kreisen Unterstützung gesucht. Programmatisch knüpft sie an den großungarischen Chauvinismus der Horthy-Diktatur an und verbindet ihn mit sozialer Demagogie. Auf der Budapester Kundgebung vom Dienstag sprach mit György Ekrem Kemal, dem Chef des Bundes "Verfolgte des Kommunismus", auch ein bekannter Neonazi.
Auch für die gewalttätigen Ausschreitungen der letzten Tage waren vorwiegend Neonazis und Hooligans verantwortlich, die Woche für Woche die ungarischen Fußballstadien unsicher machen. Sie wurden von den rechten Parteien teilweise offen unterstützt. So sprach der Sprecher des Fidesz, Peter Szijjarto, den Randalierenden Montagnacht seine "Solidarität" aus.
Trotz der Bemühungen der Rechten haben die Proteste gegen die Regierung aber in erster Linie sozialen Charakter. Viele Demonstrationsteilnehmer erklärten den Medien, sie seien wegen der drastischen Sparmaßnahmen gekommen. Das unmittelbar nach Gyurcsanys Rede beschlossene Sparpaket hat weitreichende Auswirkungen auf die breite Masse der Bevölkerung. Durch radikale Maßnahmen soll das Haushaltsdefizit bis 2008 von zehn auf drei Prozent sinken, damit 2010 der Euro eingeführt werden kann. Das ist nur durch eine drastische Senkung des Lebensstandards breiter, ohnehin verarmter Bevölkerungsschichten möglich.
Das Paket beinhaltet Steuererhöhungen, insbesondere eine Anhebung der Mehrwertsteuer, die die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen überdurchschnittlich belastet. Durch den Abbau von staatlichen Subventionen auf Strom und Gas sind die Preise dafür bereits um bis zu 30 Prozent gestiegen. Die Preise für öffentliche Verkehrsmittel sind mittlerweile derart in die Höhe geschossen, dass viele Ungarn sich die tägliche Busfahrt zur Arbeit schlichtweg nicht mehr leisten können.
Personaleinsparungen im öffentlichen Dienst haben teilweise katastrophalen Folgen für die öffentlichen Schulen. Die geplante Einführung von Studiengebühren wird dazu führen, dass nur noch die Kinder Besserverdienender eine angemessene Bildung erhalten. Nach dem Willen der Regierung stehen auch massive Einschnitte in das Gesundheitssystem bevor. Gyurcsany befürwortet die Einführung einer Praxisgebühr, sowie einen Eigenanteil zur Krankenhausbehandlung und eine Zuzahlung bei Medikamenten.
Dass die Wut und Empörung gegen diese Angriffe bisher kaum einen linken, progressiven Ausdruck finden, liegt an den Verbrechen des Stalinismus und seiner heutigen Nachfolger. In diesem Jahr jährt sich zum fünfzigsten Mal die Niederschlagung des Ungarnaufstands durch sowjetische Panzer. Seit diesem Ereignis ist der von den Stalinisten missbrauchte Begriff "Kommunismus" in den Augen vieler Ungarn mit der blutigen Unterdrückung eines Volksaufstands verbunden.
Wenn die heutigen Nachfolger der Stalinisten unter dem Etikett "Sozialisten" segeln, macht das die Sache nicht besser. Gyurcsany ist ein typischer Vertreter jener Wendehälse, die sich nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regimes schamlos das öffentliche Eigentum unter den Nagel rissen, sich selbst bereicherten und sich ausschließlich den Interessen der Unternehmen und der Reichen verpflichtet fühlen. Während sich Armut und Arbeitslosigkeit im Land rasant ausbreiteten, legte Gyurcsany in den "wilden Privatisierungen" Anfang der neunziger Jahre den Grundstein für seinen persönlichen Reichtum. Der ehemalige Vorsitzende des Kommunistischen Jugendverbandes gehört heute zu den einhundert reichsten Individuen des Landes.
In seiner Regierung sitzen neben ehemaligen stalinistischen Funktionären auch Vertreter der neuen Wirtschaftselite. Neun Minister stammen aus der Sozialistischen, drei aus der Liberalen Partei (SZDSZ).
Finanzminister ist Jozsef Veres, ein ehemaliger Funktionär der stalinistischen Staatspartei, der maßgeblich an deren Umwandlung in eine sozialdemokratische, wirtschaftshörige Partei beteiligt war. In den neunziger Jahren trug er Mitverantwortung für das Bokros-Paket, einen ersten Schub neoliberaler "Reformen", der die Anerkennung der internationalen Finanzmärkte fand. Wie Gyurcsany war er in den Neunziger Jahren "unternehmerisch" tätig und häufte ein beträchtliches Vermögen an.
Wirtschaftsminister ist der Liberale Janosz Koka, ehemaliger Direktor eines Internetanbieters. Sein Eintreten für radikale Wirtschaftsreformen machte ihn zu Gyurcsanys Mann für diesen Posten.
Wie in Polen und vielen anderen osteuropäischen Ländern spielt sich das offizielle politische Leben auch in Ungarn in einem kleinen Kreis ab, der keinen Raum für die Artikulierung der Interessen der Bevölkerung bietet. Zu Reichtum gekommene Altstalinisten liefern sich erbitterte Schlachten mit ehemaligen Oppositionellen - wie Victor Orban in Ungarn oder den Kasczynski-Brüdern in Polen - deren Antikommunismus sie in die äußerste rechte Ecke des politischen Spektrums getrieben hat. Dabei geht es ausschließlich um wirtschaftliche Pfründen und politischen Einfluss, die sozialen Belange der Bevölkerung werden höchstens zu Wahlkampfzwecken instrumentalisiert.
Die Offenheit, mit der Gyurcsany seine Verachtung für die eigenen Wähler bekundet, mag außergewöhnlich sein; die Verachtung selbst teilt er mit zahlreichen anderen Politikern - und das nicht nur in Ungarn. Verglichen mit den Lügen, mit denen etwa sein bewundertes Vorbild Tony Blair den Irakkrieg rechtfertigte, ist Gyurcsany immer noch ein Anfänger.