Von Tag zu Tag wird deutlicher, dass die bevorstehende Gesundheitsreform einen grundlegenden Systemwandel zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung einleiten soll.
Am 18. August berichtete die Frankfurter Rundschau, die große Koalition plane, den Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform entgegen dem ursprünglichen Zeitplan nicht sofort "nach der Sommerpause" Anfang September, sondern erst nach den Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern am 17. September vorzulegen. CDU und SPD fürchteten, dass ihnen die öffentliche Diskussion der Reformdetails bei den beiden bevorstehenden Landtagswahlen schaden wird.
Um die Umsetzung der Gesundheitsreform zum 1. Januar 2007 dennoch zu gewährleisten, sollen Absprachen mit den Landesregierungen getroffen werden, die dem Gesetzentwurf im Bundesrat zustimmen müssen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte sich zuversichtlich, dass die Gesundheitsreform wie geplant am 1. Januar nächsten Jahres starten werde.
Der geplante Gesundheitsfonds - Kernstück der Reform - wird voraussichtlich erst zum 1. Juli 2008 eingeführt. Alle Kassen sollen pro Versicherten in etwa die gleichen Beträge erhalten. Wenn eine Kasse damit nicht auskommt, kann sie eine Zusatzprämie von ihren Mitgliedern fordern. Dies wird von Seiten der Bundesregierung stets als ein Kompromiss zwischen der von der Union geforderten Kopfpauschale und der von der SPD angeblich favorisierten Bürgerversicherung dargestellt. In Wirklichkeit ist von der Bürgerversicherung nichts übrig geblieben. Der Gesundheitsfonds soll offensichtlich einer späteren, tiefer greifenden Reform den Weg ebnen. Wenn der Fonds einmal eingerichtet ist, lässt sich leicht eine "große" Kopfpauschale einführen.
Denn der Beitragssatz für Unternehmen und Arbeitgeber soll alljährlich vom Bundestag festgelegt werden. Da die Beiträge für die Unternehmen höchstwahrscheinlich eingefroren, wenn nicht gar gekürzt werden ("Senkung der Lohnnebenkosten"), führt dies schnell zu Defiziten bei den Krankenkassen.
In dem Fall müssen diese dann ihren Finanzierungsbedarf über Zuschläge bei den Versicherten eintreiben - entweder als Pauschale oder einkommensbezogenen Zuschlag.
In einem früheren Artikel schrieb die WSWS : "Die neue Regelung hat für die Regierung den Vorteil, dass Kürzungen nicht mehr politisch verordnet werden, sondern sich als Sachzwang’ aus der finanziellen Situation der Krankenkassen ergeben. Es ist klar, dass dies vor allem die großen Orts- und Ersatzkrankenkassen betreffen wird, die einen überproportionalen Anteil von Älteren, chronisch Kranken und Armen unter ihrer Mitgliedschaft haben."
Die heftige Kritik an der Reform und speziell dem Gesundheitsfonds von Teilen der Medien, der Wirtschaft und der für sie sprechenden Politiker aller Berliner Parteien richtet sich selbstverständlich nicht gegen diesen grundsätzlichen Aspekt.
Vielmehr geht diesen Kritikern die Deregulierung im Gesundheitswesen nicht schnell und weit genug. Es ist müßig, sich mit den Freidemokraten auseinanderzusetzen, die in der Debatte um die Gesundheitsreform einmal mehr über die Wiedereinführung des "Sozialismus und der Planwirtschaft" geifern und eine völlige Liberalisierung anstreben. Dabei ist für jeden Beobachter, der nicht mit ideologischen Scheuklappen durchs Leben läuft, offensichtlich, dass hier das staatliche Eingreifen in das Gesundheitswesen eben nicht dazu dient, bestimmte Standards zu sichern, sondern diese im Gegenteil abzuschaffen.
Die Kritik der Union
Die Diskussion innerhalb der CDU unterscheidet sich inhaltlich nicht allzu sehr vom Standpunkt der FDP, kommt allerdings nicht ganz so marktschreierisch daher. Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) etwa kritisierte die Reform als "kleinsten gemeinsamen Nenner". Er hält eine weitere Gesundheitsreform in den nächsten Jahren für notwendig, bei der insbesondere die Eigenbeteiligungen steigen sollten. "Die Zuzahlungen sollten im Schnitt bei zehn Prozent der Behandlungskosten liegen", schlug Oettinger vor. Wenn dann schrittweise Steuermittel für die Krankenkassen hinzukämen, könnten die Versicherungsbeiträge unter 13 Prozent sinken. Der Hinweis, dass vor allem Patienten mit gutem Einkommen oder Vermögen stärker als bisher "Spitzenleistungen der Medizin auf dem Markt einkaufen" sollten, täuscht über die Realität hinweg. "Spitzenleistungen" werden ohnehin nicht mehr von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt. Deren Versicherte sind von diesen Leistungen schlicht ausgeschlossen, während Reiche diese seit jeher "auf dem Markt" einkaufen.
Wenn Oettinger aber fordert, dass der Beitragssatz so auf 13 Prozent (von derzeit 14,2 Prozent) sinken sollte, bedeutet dies für die gesetzlichen Kassen Mindereinnahmen, die diese über Zusatzbeiträge bei ihren Versicherten wieder hereinholen müssen - zusätzlich zu der zehnprozentigen Beteiligung an allen Behandlungskosten.
Ins gleiche Horn stießen andere CDU-Politiker. Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister Dietrich Austermann forderte Leistungskürzungen. Die Kassen sollten nur noch für den "Gesundheitsbereich" zahlen. "Private Risiken, vom Rauchen über schädliches Übergewicht bis zum Extremsport müssen endlich selbst getragen werden."
Der "Parlamentskreis Mittelstand" der Unionsfraktion erklärte in einem Papier, die Reform erfülle "keineswegs die Notwendigkeiten und im Vorfeld genährten Hoffnungen auf eine umfassende Strukturreform". Die Krankenversicherung müsse vielmehr "auf medizinisch notwendige Kernleistungen" beschränkt werden.
Und der wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion Laurenz Meyer sagte der Zeitschrift Focus, als Wirtschaftspolitiker hätte er sich "schon gewünscht, dass wir die Beiträge in viel stärkerem Maße von den Arbeitskosten abkoppeln". Wenn die SPD Mut hätte, könnte man ganze Blöcke aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgliedern und so den Beitragssatz auf zehn Prozent senken.
Mit anderen Worten, die CDU fordert im Interesse der Wirtschaft die weitgehende Deregulierung und Privatisierung des Gesundheitswesens mittels rigoroser Leistungskürzungen und höherer Selbstbeteiligungen. Dies würde den schon durch die rot-grüne Bundesregierung forcierten Trend der schleichenden Privatisierung in der Gesundheitsversorgung weiterführen und verschärfen.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamts gab die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 2004 mit insgesamt 131,6 Milliarden Euro vier Milliarden weniger als im Vorjahr aus. Auf der anderen Seite mussten die privaten Haushalte für ihre Gesundheitsversorgung im Vergleich zum Vorjahr 3,6 Milliarden mehr aufwenden. Ihr Anteil stieg auf 32,1 Milliarden Euro.
Über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg zeigt sich laut Bundesamt eine deutliche Verschiebung: Der Anteil der Krankenkassen an den Gesamtausgaben ging von 60 auf 56 Prozent zurück, gleichzeitig stieg der Anteil der Privathaushalte von zehn auf 14 Prozent.
Die Kritik der SPD
Die Debatte innerhalb der Sozialdemokratie läuft nach dem alten Muster ab. Einige SPD-Politiker kritisieren einzelne Punkte oder wie der Juso-Vorsitzende Björn Böhning gar die ganze Ausrichtung der vereinbarten Eckpunkte zur Gesundheitsreform. So warnt Böhning berechtigterweise vor der "Privatisierung der gesetzlichen Krankenversicherung", einer "großen Kopfpauschale" und einer Aufkündigung der Solidarität. Doch ist dies reine Augenwischerei. Schon immer haben die Juso-Vorsitzenden diese Rolle des Ventils zum Druckablassen übernommen. Denn sie haben im Vorstand der SPD ohnehin nichts zu melden. Die Politik wird von anderen gemacht, derzeit vor allem von Vizekanzler und Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD). Er hat die Eckpunkte maßgeblich mit ausgearbeitet und stellt jetzt sogar noch weitere Forderungen, wie die Bevölkerung zur Kasse gebeten werden müsse.
Die Eckpunkte zur Reform des Gesundheitssystems sehen vor, dass 2008 rund 1,5 Milliarden und 2009 rund drei Milliarden Euro Steuermittel in die beitragsfreie Kinderversicherung fließen sollen. Dieser Anteil soll bis zu einer Höhe von 16 Milliarden Euro jährlich ansteigen. Offen ist jedoch, woher das Geld kommen soll. Müntefering hatte daher in einem Zeitungsinterview gesagt, Steuererhöhungen für die Gesundheitsreform seien noch "nicht vom Tisch".
Inzwischen ist auch von einem noch höheren Beitragssatz für die Krankenversicherung als bereits geplant die Rede. Ein Arbeitspapier des Gesundheitsministeriums zur Umsetzung der Koalitionseckpunkte geht von einem Satz im Jahre 2008 von bis zu 15,7 Prozent aus. Bislang hieß es von Seiten der Regierung, dass der Durchschnittssatz von 14,2 Prozent im nächsten Jahr um 0,5 Punkte steigt.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert die stärkere Steigerung der Beiträge oder einen erhöhten Steuerzuschuss. "Eine Umstellung des Systems kann nur erfolgen, wenn der Beitragssatz so hoch ist, dass nicht einzelne Kassen zum Fondsstart Zusatzbeiträge erheben", sagte er der Nachrichtenagentur dpa. Eine reine Entschuldung der Kassen reiche nicht, da die verschuldeten Kassen hohe laufende Kosten hätten und somit rasch mehr bräuchten als die vom Bundestag abgesegneten Einheitsbeträge aus dem Fonds. "Es ist zwar bitter, dass der Beitragssatz dann vorher stark steigen muss, aber das lässt sich nicht vermeiden", so Lauterbach.
Der "einzige Weg", weitere Beitragssatzsteigerungen 2008 zu vermeiden, bestehe darin, Steuermehreinnahmen in die gesetzliche Krankenversicherung zu leiten. Das ist natürlich absurd. Der bislang bezahlte Bundeszuschuss, in diesem Jahr 4,2 Milliarden Euro (aus Einnahmen der von Rot-Grün extra dazu erhöhten Tabaksteuer), wird gerade gestrichen. Und wenn der Steuerzuschuss im Rahmen der steuerfinanzierten Kinderversicherung weiter ansteigt, ist eine neue "Gesundheitssteuer", wie sie Müntefering bereits ankündigte, geradezu zwangsläufig.
Wie man die Gesundheitsreform auch dreht und wendet, die Zeche zahlt die arbeitende Bevölkerung: durch immer größere finanzielle Belastungen und eine Einschränkung der Leistungen. Die eigentlichen Gründe für die Unterfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sind aber die stetige Kürzung der Bundeszuschüsse, das Anwachsen der Massenarbeitslosigkeit und damit das Absinken der Einnahmebasis sowie die gerade in den letzten Jahren ungehemmte Bereicherung der Pharmaindustrie. Die Gesundheitsreform ist somit Teil der Offensive der herrschenden Elite in Deutschland gegen Löhne, Arbeitsbedingungen und soziale Errungenschaften.
Die Kritik von Kassen, Kliniken und Ärzten
Die Kampagne der Kassen gegen die Gesundheitsreform ist trotz berechtigter Einwände - wie beispielsweise der Warnung vor einer zwangsläufigen Einführung und anschließenden Erhöhung der Kopfpauschale - stark von Eigeninteressen geleitet. Das Bundesgesundheitsministerium plant die sieben Spitzenverbände aufzulösen: die Bundesverbände der Orts- (AOK), Betriebs- (BKK), Innungs- (IKK), Angestellten- (u.a. DAK, BEK), Bergarbeiter- (Knappschaft), Landwirtschafts- und See-Krankenkassen. Außerdem hat sich das Ministerium das Ziel gesetzt, die Zahl der Krankenkassen von derzeit rund 250 auf etwa 50 zu reduzieren. Davon wären dann nicht nur kleine Kassen betroffen, sondern auch große, aber finanzschwache Kassen, wie z. B. die Ortskrankenkassen in Ostdeutschland.
In der Vergangenheit ist die Verringerung der Anzahl der Krankenkassen nicht Garant für die Verringerung der Ausgaben in der Gesundheitsversorgung gewesen, im Gegenteil. 1991 gab es noch mehr als 1.200 Krankenkassen, jetzt sind es etwa 250. Die Verwaltungskosten der Krankenkassen sind in dieser Zeit um fast 50 Prozent gestiegen.
Die Zusammenlegung oder gar Auflösung der Spitzenverbände genauso wie die Fusion von Krankenkassen würde daher nicht die Ausgaben senken, allerdings die Anzahl der Vorstandsetagen dezimieren und so nicht wenige Spitzenverdiener mit auskömmlichen Gehältern von ihren Pfründen trennen.
Die Kritik der Ärzte- und Klinikvertreter ist - obwohl hier natürlich ebenfalls die Eigeninteressen der Spitzenverbände im Spiel sind - weitgehend gerechtfertigt. Die angepeilte Kürzung im Klinikbereich ist drastisch. Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) Rudolf Kösters nannte die geplante Kürzung der Klinikbudgets um jährlich 750 Millionen Euro eine "Provokation". Dies setze die flächendeckende 24-Stunden-Versorgung in den Kliniken aufs Spiel.
Die Streiks der Klinikärzte in den letzten Monaten haben ein Licht auf die katastrophalen Bedingungen geworfen, die in den Krankenhäusern vorherrschen. Das Ziel der Regierung ist es, auch hier den privatwirtschaftlichen Wettbewerb zu forcieren. Studien gehen davon aus, dass in den nächsten vier bis fünf Jahren 20 bis 30 Prozent der deutschen Kliniken schließen werden.
Im Zuge der Gesundheitsreform soll z. B. im nächsten Jahr das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWIG) deutlich aufgewertet werden. Vor kurzem wurde beschlossen, dass bestimmte Insuline von den Kassen nicht mehr übernommen werden dürfen. Ab dem kommenden Jahr soll das Institut dann auch Kosten-Nutzen-Analysen vorlegen. Ziel ist es, die Therapiefreiheit der Ärzte einzuschränken und gerade teure Therapien für Kassenpatienten unzugänglich zu machen. Diese zum Teil schon jetzt praktizierte Vorgehensweise würde für Tausende lebensbedrohliche Ausmaße annehmen. So könnten zum Beispiel künstliche Gelenke oder Herztransplantationen ab einem bestimmten Alter von den Krankenkassen nicht mehr übernommen werden. Genau das hatten in der Vergangenheit bereits Vertreter von CDU und FDP gefordert.
Schon jetzt sorgen sich viele Ärzte, dass die Belange der Patienten zu kurz kommen. Radioredakteur Ingo Zander vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) berichtete am 23. August von einer Studie über die Einführung der Fallpauschalen (Englisch: Diagnostic related Groups, DRG). Sie zeigt die gesundheitsgefährdende Verschlechterung der medizinischen Versorgung in den Kliniken auf. Redakteur Zander schloss seinen Beitrag mit den Worten: "Man kann die Studie Wandel von Medizin und Pflege im DRG-System’ auch so deuten: über kurz oder lang bestimmt das Kalkül des Betriebswirts das Handeln in den Krankenhäusern und nicht mehr der Hippokratische Eid."
Dieses Fazit lässt sich auf das gesamte Gesundheitssystem übertragen. Nicht die Gesundheit der Bevölkerung steht im Mittelpunkt, sondern die Bereicherung einer kleinen, aber einflussreichen Elite.