Kurz vor Ende seiner Amtszeit hat Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) noch einmal einen Angriff auf ein demokratisches Grundrecht lanciert: Diesmal stellte er einen wesentlichen Bestandteil der Pressefreiheit grundlegend in Frage. Ginge es nach Schily, müsste künftig jede Zeitung, die Missstände im Staatsapparat aufdeckt, mit polizeilicher Durchsuchung ihrer Redaktionsräume und Beschlagnahme ihrer Unterlagen rechnen, jeder Journalist, der einen politischen Skandal enthüllt, Gefängnis befürchten.
Anlass war ein Artikel in der April-Ausgabe der Zeitschrift Cicero, der zwar keineswegs von kritischem Journalismus geprägt war - im Gegenteil - aber dennoch ein Thema behandelte, das von erheblichem Interesse für die Öffentlichkeit ist. Unter dem Titel "Der gefährlichste Mann der Welt" schrieb der Reporter Bruno Schirra über den Terroristen Abu Mussab al Zarqawi.
Er stützte sich dabei auf Informationen des jordanischen und westlicher Geheimdienste, darunter auch ein 125 Seiten starkes Dossier des deutschen Bundeskriminalamts (BKA), aus dem in dem Artikel ausführlich zitiert wird. Behauptet wird darin, Zarqawi werde vom Iran unterstützt und plane Terroranschläge mit chemischen Waffen auch in Europa. Schirra selbst schreibt, das Dossier sei mit "Verschlusssache - nur für den Dienstgebrauch" gekennzeichnet. Dies ist die niedrigste Geheimhaltungsstufe, die es gibt. Sie bedeutet, dass der Inhalt nicht sicherheitsempfindlich ist.
Der Reporter soll mehrere Wochen vor Drucklegung des Artikels das BKA informiert und um ein Gespräch gebeten, die Behörde aber erst nach dem Erscheinen ein solches mit ihm geführt haben. Erst im Juni erstattete das BKA dann Anzeige wegen "Verrat von Dienstgeheimnissen" nach § 353b Strafgesetzbuch (StGB) und suchte erfolglos den Informanten Schirras in den eigenen Reihen.
Mitte September durchsuchte die Polizei schließlich die Redaktionsräume von Cicero in Potsdam und zeitgleich die Privatwohnung Schirras in Berlin. Rechtsgrundlage war ein auf Antrag der Staatsanwaltschaft gefasster Beschluss des Amtsgerichts Potsdam, der Cicero und Schirra Verdacht auf "Beihilfe zum Geheimnisverrat" vorwirft. Dabei wurde das Dossier des BKA, um das es angeblich ging, nicht gefunden, jedoch die gesamte Festplatte von Schirras Computer in der Redaktion kopiert und 15 Kisten Ordner, Mappen und Aktenbehälter, das gesamte Privatarchiv, als "Zufallsfunde" aus dem Keller des Journalisten beschlagnahmt.
Für die strafrechtliche Verfolgung, so schreibt es § 353b StGB vor, ist die Ermächtigung des Innenministeriums von Otto Schily notwendig, die auch erteilt wurde.
Auf einem zwei Wochen später stattfindenden Jahreskongress der deutschen Zeitungsverleger rechtfertigte Schily die Aktion nicht nur, sondern erhob sie regelrecht zur Staatsräson. Alle Journalisten, die aus geheimen Papieren zitierten, werde man künftig verfolgen, die "Diskretion im Staat" mit Hilfe des Gesetzes "durchsetzen".
Kritik aus Medienverbänden und sogar von führenden Vertretern seiner eigenen Partei und deren grünem Koalitionspartner wies Schily aggressiv zurück. Es seien "nur ein paar Hanseln", die ihn kritisierten, deren "törichtes Gerede" sei "an Albernheit nicht zu übertreffen". In einem Interview mit dem Spiegel verglich er Journalisten, die im Besitz geheimer Papiere seien, mit Hehlern. Der Staat habe "einen Anspruch darauf, seine Sphäre zu schützen". Die Durchsuchungen bei Cicero und Schirra verteidigte Schily in vollem Umfang. Auch bei einer Anhörung des Innenausschusses letzte Woche hielt er seinen Standpunkt aufrecht.
Dabei spricht einiges dafür, dass die Durchsuchung rechtswidrig war. Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht bereits vor über 40 Jahren betont, dass Durchsuchungen wegen des Verdachts der Teilnahme nicht als Vorwand benutzt werden dürfen, um undichte Stellen im Staatsapparat zu finden. Der Informantenschutz sei ein unabdingbarer Bestandteil der Pressefreiheit. Zum anderen sieht § 97 Absatz V Strafprozessordnung ausdrücklich vor, dass auch bei Teilnahmeverdacht die Beschlagnahme unter Berücksichtigung des Grundrechts der Pressefreiheit verhältnismäßig sein muss. Die besondere Erwähnung des Grundrechts im Gesetzestext ist außergewöhnlich. Damit sollte nach dem Willen des Gesetzgebers der "Gefahr der Überbetonung des Strafverfolgungsinteresses wirksam begegnet" werden.
Inzwischen zeigt sich, was die "Durchsetzung der Diskretion im Staat" konkret bedeutet. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat mittlerweile ebenfalls Strafverfahren gegen Schirra eingeleitet, bei denen es um die "Zufallsfunde" aus seinem Keller geht. Wieder lautet der Vorwurf "Beihilfe zum Verrat von Dienstgeheimnissen". Diesmal geht es in den geheimen Papieren um die Leuna-Affäre, Panzerlieferungen, die CDU-Parteispendenaffäre. Über all diese Skandale hatte Schirra früher als Reporter für die Zeit berichtet. Nun soll es strafbar sein, derartige Affären aufzudecken.
Es ist durchaus fraglich, ob Schily bei der Durchsuchung nicht eine größere Rolle gespielt hat, als nur die Verantwortung für die Ermächtigung zur Strafverfolgung zu tragen. Nach Informationen der Welt hielt ab dem Zeitpunkt, zu dem die Beamten das Kellerarchiv Schirras betraten, der begleitende Staatsanwalt über Stunden telefonischen Kontakt - wohl mit seinen Vorgesetzten in Potsdam. Die Frage, ob diese angesichts des brisanten Funds beim BKA oder Stellen im Bundesinnenministerium Rücksprache hielten, wollte der Innenminister am Rande des Innenausschusses nicht eindeutig beantworten. "Er dementierte oder bestätigte nichts, sondern wies die Frage zurück", schrieb die Welt.
Der Medienexperte Johannes Ludwig geht sogar davon aus, dass Schily Druck ausgeübt habe. Er sagte dem Online-Magazin Telepolis : "Vor einigen Jahren haben die Generalstaatsanwälte in Deutschland den richtungsweisenden Beschluss gefasst, solche Aktionen gegen Medienvertreter nicht mehr durchzuführen. Erstens konnte der Verdacht auf Beihilfe noch nie erhärtet werden. Zweitens provozieren polizeiliche Aktionen gegen die Presse immer negative Reaktionen in der Öffentlichkeit. Und das schadet langfristig dem Ansehen und damit der Arbeitsfähigkeit von Staatsanwaltschaften.... Über dem Staatsanwalt steht der Oberstaatsanwalt, über dem der Generalstaatsanwalt - und dann bleibt nur noch die Ministerialebene. Wenn ein zuständiger Minister nur laut denkt, dann gibt [es] auf den unteren Ebenen oft eine Art vorauseilenden Gehorsam, denn niemand will sich die Karriere verbauen. Im vorliegenden Fall hat offenbar Otto Schily Druck ausgeübt."
Der Minister wollte offenbar einen Dammbruch erzwingen. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft Berlin zeigt, dass ihm das teilweise gelungen ist. Es möge ja "tägliche Praxis" für Journalisten sein, aus vertraulichen Unterlagen zu berichten, so laut der taz Frank Thiel, Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft. "Strafbar bleibt es trotzdem." Er verstieg sich sogar zu dem Vergleich: "Im Bauwesen ist es auch gängig, Schmiergelder zu zahlen - und es ist dennoch weiterhin strafbar."
Das Gesetz, auf das sich Schily, Staatsanwälte und Polizisten berufen, ist durch und durch undemokratisch. Es soll nach seinem Wortlaut immer dann eingreifen, wenn Dienstgeheimnisse "offenbart" und dadurch "wichtige öffentliche Interessen gefährdet" werden. Damit sind gerade nicht die Interessen der Öffentlichkeit gemeint, vielmehr soll auch, so ein führender Kommentar zum StGB, verhindert werden, "dass das Vertrauen der Allgemeinheit in die Unparteilichkeit, Unbestechlichkeit und Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung erschüttert wird".
Nicht zufällig wurde der heutige Paragraf 353b im Jahr 1936 von den Nazis ins StGB eingefügt. Auch wenn der Faschismus noch nicht wieder vor der Tür steht, wird auch heute das Offenbarwerden von Missständen von mächtigen Teilen des Staatsapparates wieder als strafbare Gefährdung öffentlicher Interessen angesehen.