Durch Dokumente und Fotografien, die zum Fernsehsender ITV durchgesickert sind, wird die gesamte Darstellung der Polizei, der Medien und der Regierung als Lüge entlarvt, mit der die Tötung des jungen Brasilianers Jean Charles de Menezes in London entschuldigt werden sollte.
Jedes wichtige Detail, das der Öffentlichkeit präsentiert wurde, war erfunden. Statt das unbeabsichtigte Opfer einer Antiterror-Operation, war de Menezes absichtlich das Ziel einer staatlichen Hinrichtung. Die Absicht die mit dieser Operation verfolgt wurde bestand darin, der britischen Öffentlichkeit zu signalisieren, daß demokratische Rechte nicht mehr zählen - eine Botschaft, die von Premierminister Tony Blair mit den Worten verdeutlicht wurde, daß die "Spielregeln" sich jetzt geändert hätten.
Unmittelbar nach der Tötung von de Menezes am 22. Juli hatten angeblich von Augenzeugenberichten untermauerte Medienberichte behauptet, daß der junge Brasilianer beim Verlassen der Wohnung eines mutmaßlichen Terroristen beobachtet worden war und dabei trotz der heißen Witterung einen weiten Mantel trug. Als er von der Polizei auf der Untergrundbahnstation Stockwell gestellt wurde, habe er zu fliehen versucht und dabei eine Fahrscheinkontrollsperre übersprungen, bevor er überwältigt wurde und mehrere Male in den Kopf geschossen wurde, um die mögliche Detonierung einer Bombe zu verhindern.
Erklärungen und Fotografien, die von der mit der Untersuchung des Schußwechsels betrauten Unabhängigen Kommission für Beschwerden gegen die Polizei (IPCC) an die Öffentlichkeit durchgesickert sind, zeigen, daß nichts von alledem wahr ist.
De Menezes verließ seine Wohnung und nahm einen Bus zur Arbeit, von welchem Zeitpunkt an er unter Beobachtung gestellt und verfolgt wurde. Als einzigen Grund dafür gab die Polizei an, daß er "Schlitzaugen" gehabt habe und verdächtig aussah. Ebenfalls im Gegensatz zu früheren Behauptungen wurde das gesamte Geschehen auf der Station Stockwell von Überwachungskameras gefilmt. Das Filmmaterial zeigt:
· De Menezes trug weder einen Gürtel noch einen Mantel, in der man Waffen hätte verbergen können - er trug eine Jeansjacke.
· Zu keinem Zeitpunkt wurde er von den Polizeikräften, die alle in Zivil waren, zur Rede gestellt. Dies widerspricht direkt der Erklärung des Polizeichefs der Hauptstadt, Sir Ian Blair, daß de Menezes sich geweigert habe, Anweisungen der Polizei Folge zu leisten.
· De Menezes ist nicht über die Fahrscheinkontrollsperre gesprungen, sondern gelangte auf normalem Wege auf den Untergrundbahnhof, wo die Schüsse fielen.. Er floh nicht vor der Polizei, da er keinerlei Ahnung hatte, daß er verfolgt wurde. Stattdessen nahm er sich eine kostenlose Zeitung, bevor er auf der Rolltreppe langsam zum Bahnsteig hinunterfuhr.
· De Menezes stolperte oder strauchelte nicht beim Versuch, zur Vermeidung seiner Festnahme auf den Zug zuzulaufen, bei dem die Polizei ihn "festsetzte". Stattdessen hatte er den Zug bestiegen und einen Sitzplatz eingenommen, als er in den Kopf geschossen wurde.
An dieser Stelle in den jetzt zugänglich gemachten Dokumenten unterscheiden sich die Darstellungen des Tathergangs ein wenig. Nach einer Version ist ein Polizeibeamter zu de Menezes gelaufen und hat ihn ohne Vorwarnung mehrfach in den Kopf geschossen. Eine andere Version gibt ein widersprechendes, aber gleichermaßen niederdrückendes Bild.
Ein Polizist der Überwachungseinheit, die de Menezes folgte, behauptet, er habe Geschrei vernommen, in dem das Wort "Polizei" vorkam, und sich daraufhin dem Mann in der Jeansjacke zugewandt.
"Er stand sofort auf und ging zu mir und den anderen Beamten.... Ich habe den Mann in der Jeansjacke gepackt, indem ich meine beiden Arme um seinen Rumpf legte und dabei seine Arme an der Seite fixierte. Ich habe ihn dann auf den Sitz zurückgestoßen, auf dem er vorher gesessen hatte.... Ich habe dann ganz nah an meinem linken Ohr einen Schuß gehört und wurde zum Boden des Wagens gezogen."
Selbst wenn diese Version der Ereignisse wahr ist, dann gab es keinen Grund, de Menezes zu erschießen, da seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt war und er keine Bombe zur Explosion hätte bringen können.
ITV News zeigte Fotografien des auf dem Boden innerhalb des Wagens liegenden Toten, mit Blut auf dem Sitz, auf dem er gesessen hatte. Er wurde nicht fünfmal in den Kopf geschossen, wie die Presse seinerzeit berichtete. Nach ITV News bekam er acht Schüsse ab, davon sieben in den Kopf und einen in die Schulter, die von zwei Beamten aus nächster Nähe abgefeuert wurden.
Niemand hat die Verantwortung dafür übernommen, de Menezes fälschlicherweise als Terroristen identifiziert zu haben. Der für den Betrieb der auf den Wohnblock gerichteten Überwachungskameras zuständige Beamte behauptet, er habe sich gerade "erleichtert", d.h. er sei auf der Toilette gewesen, als de Menezes seine Wohnung verließ, und er habe daher ersucht, daß jemand anderes dessen Identität überprüft.
Wie dem auch sei, klar ist, daß an höchster Stelle die Entscheidung getroffen wurde, die von der Polizei vor mehr als zwei Jahren heimlich ausgearbeitete Todesschuss-Richtlinie in die Praxis umzusetzen - mit den Terroranschlägen vom 7. Juli als Vorwand.
Die Zeitungen berichten, daß "das gold command’ [strategische Führungsebene] die Entscheidung getroffen hat und Anweisung gegeben hat, daß de Menezes davon abgehalten werden solle, die Untergrundbahn zu betreten. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Operation auf Code-Rot-Taktik gesetzt und die Verantwortung an die CO19 [bewaffnete Spezialeinheit] übertragen."
Als "gold command" im Polizeihauptquartier fungiert eine Geheimabteilung, die dafür zuständig ist, grünes Licht für Todesschußoperationen im Rahmen der sogenannten "Operation Kratos" zu geben. ["Operation Kratos" ist eine israelische Spezialtaktik im Kampf gegen Selbstmordattentäter.]
Die Dokumente zitieren den befehlshabenden Beamten der CO19 dahingehend, er habe seiner Einheit erzählt, "es könnte nötig werden, heute wegen der Örtlichkeiten, in denen sie sich befänden, ungewöhnliche Taktiken anzuwenden." Als er um Klarstellung gebeten wurde, soll er geantwortet haben: "Wenn wir zum Abfangen einer Person eingesetzt werden und es eine Gelegenheit gibt, sie zu stellen, aber wenn die Person nicht gehorcht, dann kann ein kritischer Schuß abgegeben werden."
Die Ereignisse zeigen, daß de Menezes niemals die Gelegenheit erhielt, der Polizei zu gehorchen. Bis zu dem Augenblick, an dem er getötet wurde, konnte er keine Vorstellung davon haben, was mit ihm geschehen sollte. Im Gegensatz zu den bekanntgemachten Richtlinien wurden keine Anstrengungen unternommen, ihn beim Verlassen seiner Wohnung oder beim Betreten eines Busses zu stoppen, obwohl er für einen potentiellen Terroristen gehalten wurde.
Die unmittelbare Verantwortung für die Tötung von de Menezes muß der bewaffneten Einheit und ihren befehlshabenden Beamten zugesprochen werden. Doch die politische Verantwortung für dieses Verbrechen trägt eindeutig die Blair-Regierung.
Nicht nur hat die Regierung insgeheim neue Richtlinien verabschiedet, die der Polizei gestatten, als Richter und Vollstrecker zugleich aufzutreten. Sie hat in der Folge die Tötung von de Menezes gerechtfertigt und die Polizei bedingungslos verteidigt, indem sie eine Version der Geschehnisse bestätigte, die jetzt als eine Anhäufung von Lügen entlarvt wurde.
Sie konnte ungestraft so handeln, weil sie wußte, daß niemand im politischen Machtgefüge oder in den Medien sie zur Rede stellen würde, insbesondere nicht unter Bedingungen einer konzertierten staatlichen Kampagne, die die Frage der nationalen Einheit als einzig statthafte Reaktion im Gefolge der Bombenanschläge betrachtete. Selbst nach den Enthüllungen auf ITV News war nicht ein einziger Parlamentarier von Labour oder der Opposition bereit, die Dinge offen anzusprechen. Alle akzeptierten stillschweigend die offizielle Linie von Polizei und Regierung, daß jeglicher Kommentar die Untersuchung der Beschwerdekommission beeinflusse.
Derartige Behauptungen sind bis zum Äußersten zynisch. Alles, was aus der IPCC hervorgehen wird, ist eine Vertuschung. In der Zwischenzeit erlaubt das Stillhalten der politischen Vertreter und der Medien der Regierung, alle Elemente eines Polizeistaats zu installieren.
Die arbeitende Bevölkerung muß sehr grundlegende Lehren aus dem Anschlag auf Jean Charles de Menezes ziehen. Ein völlig unschuldiger Mann, dessen einziges Verbrechen darin bestand, im falschen Wohnblock zu leben, wurde im Schnellverfahren hingerichtet, ohne daß jemand dafür zur Verantwortung gezogen würde. Darüber hinaus hat der Londoner Polizeichef Blair deutlich gemacht, daß die gleiche "Code-Rot-Taktik", die bei der Ermordung von de Menezes angewendet wurde, in jüngster Zeit auch bei sieben anderen Gelegenheiten verwendet wurde, und in jedem dieser Fälle kam die Polizei einem Schusswaffeneinsatz sehr nahe.
Die Aufhebung demokratischer Rechte hat einen Punkt erreicht, an dem dieselben Methoden von Todesschwadronen, wie man sie für gewöhnlich aus südamerikanischen Diktaturen oder von Großbritanniens Besetzung in Nordirland kennt, nun auf den Straßen Londons eingesetzt werden. Und das ist noch nicht alles. Die von Blair am 5. August bekanntgemachten Maßnahmen werden dazu dienen, jegliche Formen politischer Abweichung zu kriminalisieren. Die Regierung beabsichtigt, sich selbst beispiellose Befugnisse zur Deportation und Ausschließung einer jeden als Sicherheitsrisiko angesehenen ausländischen oder eingebürgerten Person zu geben und den Gebrauch von faktischem Hausarrest gegen britische Staatsbürger auszuweiten.
Sie wird in der Lage sein, Organisationen und Publikationen unter dem vagen Vorwand zu verbieten, sie würden den Terrorismus "entschuldigen", und sie wird Gebetsstätten schließen können. Sie wird auf jede juristische Anfechtung dieser Pläne mit der Aufhebung der Menschenrechtsgesetze reagieren.
Die für die Tötung von de Menezes Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Aber dies kann nicht dadurch erreicht werden, daß man sich auf die IPCC oder irgendeine andere gesetzliche Körperschaft verläßt.
Die Lügen, die zur Rechtfertigung der staatlichen Hinrichtung von de Menezes eingesetzt wurden, sind nur ein Glied in der Kette von Lügen, die von den Regierungen Großbritanniens und der USA verwendet wurden, um ihren Raubkrieg im Irak und den andauernden "Krieg gegen den Terrorismus" zu rechtfertigen. Sowohl London als auch Washington haben eine Vorgehensweise entwickelt, die durch keinerlei Rücksicht auf traditionelle Rechtsnormen begrenzt wird. Von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt, halten diese Regierungen die Interessen einer winzigen Finanzelite hoch, die sich durch räuberische Plünderung der Weltressourcen und die immer brutalere Ausbeutung der Arbeiterklasse zu bereichern sucht.
Diese Politik, die im Widerspruch zu den Interessen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung steht, kann nicht mit der Bewahrung von Demokratie in Einklang gebracht werden. Sie verlangt nach neuen Herrschaftsformen, die eindeutig auf Gesetzlosigkeit und Verbrechertum beruhen. Dies ist es, womit sich arbeitende Menschen jetzt konfrontiert sehen.
Alles hängt von dem Aufbau einer unabhängigen politischen Bewegung der Arbeiterklasse ab, deren Rückgrat die Ablehnung des Profitsystems sein muß - denn darin liegt die Quelle für die Kriegstreiberei und den Anschlag auf die Bürgerrechte.