Die öffentliche Erschießung von Jean Charles de Menezes am 22. Juli in einer Londoner U-Bahn markiert einen Wendepunkt. England, das Land der Magna Charta, ist zu einem Land geworden, in dem unschuldige Zivilisten auf den Straßen der Hauptstadt erschossen werden können, ganz nach Ermessen der Polizei und ohne jede Erklärung oder Begründung. Es wird höchstens eine knappe Entschuldigung abgegeben.
Entsetzte Augenzeugen haben geschildert, wie der vor Angst gelähmte, 27-jährige brasilianische Elektriker "wie ein in die Enge getriebenes Kaninchen" blickte, ehe er von drei bis an die Zähnen bewaffneten Polizisten in einen U-Bahnwaggon verfolgt, zu Boden geworfen und mit fünf Kopfschüssen aus unmittelbarer Nähe erschossen wurde.
Kurz danach erklärte der Chef der Metropolitan Police, Sir Ian Blair, auf einer Pressekonferenz, die Tötung stehe "in unmittelbarem Zusammenhang mit der laufenden und sich ausweitenden Antiterror-Operation", die seit den jüngsten Bombenanschlägen läuft. Die Anschläge vom 7. Juli auf das Londoner Nahverkehrsnetz hatten 56 Menschenleben gefordert, während weitere Attentatsversuche vom 21. Juli anscheinend gescheitert sind.
Menezes hatte nichts mit den Terroranschlägen zu tun und die Polizei hatte keinen Grund für den Verdacht, er stehe mit diesen oder ähnlichen Verbrechen in Verbindung. Dass man ihn aus einem von der Polizei überwachten Haus kommen sah und dass er "verdächtige" Kleidung trug, reichte der Polizei, um als Richter, Geschworener und Henker gleichzeitig zu agieren.
Mittlerweile gibt es Hinweise, dass Menezes nicht von Polizisten, sondern von Mitgliedern der Streitkräfte oder der Sondereinsatztruppe SAS hingerichtet wurde. Das wirft die Frage auf, was für einen Orwell’schen Albtraum Blair in Großbritannien geschaffen hat.
Der Tod von Menezes ist keine zwangsläufige Folge der Anschläge vom 7. Juli, wie jetzt behauptet wird. In den vergangenen zwei Wochen ist von offizieller Seite ein Klima der Hysterie und Panik geschaffen und der Staat mit einer Generalvollmacht versehen worden.
Die Regierung hat ein Interesse an einer solchen Atmosphäre. Sie hofft, so keine unbequemen Fragen beantworten zu müssen. Die Polizei fordert derweil die Vollmacht, Menschen ohne Anschuldigung bis zu drei Monate festhalten zu können, und die Regierung hat Pläne angekündigt, schärfere Gesetze einzuführen. Unter anderem will sie die Glorifizierung und Billigung von Terrorismus zu einem Verbrechen machen, mit weitgehenden Folgen für die Meinungsfreiheit.
In diesem Zusammenhang ist bekannt geworden, dass die Bestimmungen über den Waffengebrauch der Polizei offiziell geändert worden sind und de facto insgeheim der Todesschuss eingeführt wurde.
Premierminister Blair betont zwar, dass sich die Sicherheitsmaßnahmen nicht gegen eine " bestimmte Bevölkerungsgruppe" richten, sondern nur gegen diejenigen, die sich dem Terror verschrieben haben, aber die Medien sind voll von Forderungen sogenannter "Sicherheitsexperten", allen jungen Schwarzen und Asiaten mit Misstrauen zu begegnen, wie es in früheren Zeiten mit den Iren der Fall war.
Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied. Als die SAS im März 1988 drei mutmaßliche IRA-Terroristen in Gibraltar erschoss, wurde vehement geleugnet, dass der britische Staat eine Politik der gezielten Morde verfolge.
Das ist heute anders. Noch vor dem Eingeständnis der Polizei, einen Unschuldigen getötet zu haben, kommentierte Tom Bower in der Daily Mail : "Zu normalen Zeiten hätte die staatliche Exekution eines Verdächtigen am helllichten Tage in einer U-Bahnstation eine Welle der Empörung und des Protests ausgelöst." Die Terrorbedrohung habe das alles geändert. Besonders die britischen Muslime hätten zu akzeptieren, dass "viele Bürgerrechte verletzt werden" müssten. Die Aufrechterhaltung der Sicherheit erfordere die Suspendierung des Rechts auf Haftprüfung, "unbegründete Festnahmen" und sogar "häufigere Erschießungen durch die Polizei".
Wie weit wollen die Mächtigen Großbritannien noch gehen? Schon hat die Polizei mit Blairs Unterstützung die Politik des Todesschusses bekräftigt. Aus gutem Grund fragen sich nach Menezes’ Erschießung viele, ob jedermann zu einem legitimen Ziel werden kann, zum "Kollateralschaden" im so genannten "Krieg gegen den Terror".
Man kann die demokratischen Rechte nur verteidigen, wenn man das Argument des politischen Establishments und der Medien zurückweist, jeder, der die Bombenanschläge vom 7. Juli im Zusammenhang mit dem Irakkrieg sehe, "rechtfertige" den Terrorismus.
Diese willkürliche Behauptung wird nicht nur von Blair und Außenminister Jack Straw bis zum Erbrechen wiederholt. In den USA erklärte der New York Times -Kolumnist Thomas Friedman, wer das Vorgehen der amerikanischen und britischen Regierung im Nahen Osten verantwortlich mache, sei "nur eine Spur weniger verabscheuungswürdig als die Terroristen selbst".
Im Observer erklärte Nick Cohen am 10. Juli unter der Überschrift "Sehen wir der Wahrheit ins Gesicht": "Wir alle wissen, was schuld ist an den Morden vom 7. Juli.... Und es sind nicht Bush und Blair."
Nur Tage, nachdem der Londoner Oberbürgermeister Ken Livingstone der Außenpolitik Großbritanniens im Nahen Osten eine Mitverantwortung für die Anschläge vom 7. Juli zugewiesen hatte, sprach er die Regierung und die Londoner Polizei praktisch von der Verantwortung für die Erschießung von Menezes frei. Er erklärte: "Diese Tragödie hat ein weiteres Opfer gefordert, für das die Terroristen die Verantwortung tragen."
Von Livingstone erwartet man inzwischen solche Feigheit und derartigen Opportunismus. Tatsächlich haben die Anschläge vom 7. Juli und die Erschießung von Menezes auf tragische Weise die Millionen Menschen in Großbritannien und weltweit bestätigt, die im Februar 2003 gegen den Irakkrieg auf die Straße gegangen sind.
Dies zu leugnen ist absurd. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Verfolgen strategischer Ziele mit dem Mittel des Krieges als das entscheidende Verbrechen Deutschlands, aus dem alle anderen Verbrechen, bis hin zum faschistischen Völkermord, unausweichlich folgten. Mit dieser Begründung wurden die Führer des Dritten Reichs mit britischer Unterstützung verurteilt und hingerichtet.
Blair hat sich gleichermaßen Kriegsverbrechen schuldig gemacht und ist moralisch und politisch für die Ereignisse in London verantwortlich.
Die überwältigende Mehrheit der britischen Bevölkerung war gerade deswegen gegen den Irakkrieg, weil seine katastrophalen Folgen vorhersehbar waren. Es mangelte nicht an Warnungen, dass die Destabilisierung des Nahen Ostens durch den Krieg die Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen in den industriellen Zentren erhöhen und die Einführung schärferer Sicherheitsgesetze mit gefährlichen Folgen für die Bürgerechte nach sich ziehen werde.
Blair wies solche Befürchtungen zurück und stellte die berüchtigte Behauptung auf, das Wesen der Demokratie bestehe in der Weigerung der Regierung, den Forderungen des Volkes nachzugeben. Der Premierminister unterwarf sich sklavisch dem US-Imperialismus und den Finanzinteressen des britischen Kapitals. Er war entschlossen, nicht zu dulden, dass dem erwarteten Triumphzug zu den Ölfeldern des Irak an den Rockschößen der Bush-Regierung irgendwelche Hindernisse in den Weg gestellt wurden.
Nun soll die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs - mit ihrem Leben und ihren demokratischen Rechten - für das Chaos bezahlen, das Blairs kriminelle Nachlässigkeit angerichtet hat.
Wie schon Shakespeare wusste, ziehen schlimme Taten Tragödien nach sich. Der Dramatiker hätte über den 7. Juli und den Tag, an dem der brasilianische Arbeiter getötet wurde, schreiben können: "Dieser unglückselige Tag, es ahnet mir, wird mehr andre nach sich ziehen." (Romeo und Julia, Dritter Aufzug) Und diese Regierung ist für wirklich schlimme Taten verantwortlich.
Es ist belegt, dass der Krieg gegen den Irak mit Lügen vorbereitet und begonnen wurde. Es gab keine Verbindung Saddam Husseins zu den Anschlägen vom 11. September in den USA, und der Irak besaß auch keine Massenvernichtungswaffen, wie behauptet wurde.
Doch weder die Wahrheit noch das Völkerrecht durften dem Krieg im Wege stehen. Dokumente wurden gefälscht und Geheimdienstberichte frisiert, um die Fakten so zu recht zu biegen, dass sie die von vornherein feststehenden Kriegsziele der Regierung rechtfertigten.
Als diese Lügen entlarvt wurden, griff Blair zu neuen Lügen: Der Krieg und die folgende Besatzung hätten die Welt sicherer gemacht und die Grundlage für eine demokratische Erneuerung des Irak und des gesamten Nahen Ostens gelegt.
Stattdessen ist der Irak zu einem blutigen Sumpf geworden. Die Infrastruktur des Landes ist zerstört und Zehntausende Zivilisten wurden getötet - siebzig Prozent davon, nachdem der Krieg offiziell für beendet erklärt worden war. Von Abu Ghraib bis Guantanamo Bay hat die Welt die abscheuliche Realität von Blairs und Bushs "demokratischer" Vision erleben können.
Gleichzeitig verwandeln sich Großbritannien und die USA buchstäblich in Polizeidiktaturen, in denen Zivilisten auf der Straße aufgegriffen und ohne Anklage festgehalten werden können, Todesschwadrone die Straßen am helllichten Tage unsicher machen und offenbar straflos töten.
In den kommenden Wochen werden Blair und seine Verteidiger die Terrorbedrohung weiter nutzen, um zu verhindern, dass sie für ihre Kriegspolitik zur Verantwortung gezogen werden, und um fortgesetzte, scharfe Angriffe auf demokratische Rechte zu rechtfertigen. Wir weisen das vollkommen zurück. Der Kampf gegen imperialistischen Krieg und die Verteidigung demokratischer Rechte sind nicht voneinander zu trennen.
Es gibt ein Mittel, Terroranschläge zu beenden - nämlich die Beendigung der Politik, die das Klima für solche Anschläge geschaffen hat. Das erfordert den Kampf gegen die herrschenden kapitalistischen Eliten, die einen imperialistischen Krieg gegen den Irak vom Zaun gebrochen haben, um die Ölquellen des Landes zu erobern.
Die Massenopposition gegen Militarismus und Krieg muss neu belebt und durch die Organisierung von Protesten, Demonstrationen und Konferenzen in Großbritannien, Europa und weltweit weiterentwickelt werden. Sie muss ein Ende der Besetzung des Irak und den sofortigen Rückzug aller ausländischen Truppen verlangen und die Forderung aufstellen, dass die Verantwortlichen für den Krieg juristisch und politisch für seine Folgen zur Rechenschaft gezogen werden.