Die Bombenanschläge, denen am Donnerstag in Madrid mindestens 192 Menschen zum Opfer fielen, sind ein Verbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen ist.
Die nahezu zeitgleich erfolgenden Explosionen im Bahnhof Antocha und zwei kleineren Bahnstationen der spanischen Hauptstadt hinterließen neben den Toten mindestens 1400 Verletzte. Die Krankenhäuser konnten die Opfer kaum aufnehmen. Viele wurden behelfsmäßig in Bussen versorgt. Hunderte Menschen spendeten freiwillig Blut.
Nach Angaben der spanischen Behörden handelte es sich insgesamt um zehn Sprengsätze, die etwa um 7 Uhr 30 Ortszeit mitten im Berufsverkehr explodierten.
Antocha ist ein riesiger Bahnhof, in dem sich Regionalzüge, Intercity-Verkehr und U-Bahn-Linien kreuzen. Zur Spitzenverkehrszeit am frühen Morgen gingen dort drei Bomben gleichzeitig hoch. sie zerstörten einen einfahrenden Zug, in dem sich viele Studenten und Pendler auf dem Weg zur Arbeit befanden. Außerhalb des Bahnhofs gab es vier weitere Explosionen. Die beiden kleineren betroffenen Bahnhöfe waren El Pozo und Santa Eugenia.
Beinahe wären der Verlust an Menschenleben und die Verwüstungen noch schlimmer ausgefallen. Spezialeinheiten der Polizei brachten eine Reihe weiterer Sprengsätze, die in Rucksäcken versteckt waren, kontrolliert zur Explosion.
Die Anschläge erfolgten ohne Vorwarnung.
Sie waren zeitlich auf die Parlamentswahlen am Sonntag abgestimmt. Es ist abzusehen, dass die Empörung der Bevölkerung die rechts stehende Regierung unter Premierminister José María Aznar und die Kandidaten seiner regierenden Volkspartei (PP) stärken werden.
Die politischen Parteien Spaniens setzten den Wahlkampf sofort aus. Die Regierung ordnete eine dreitägige Staatstrauer für die Opfer an und rief zu Kundgebungen auf, um die Anschläge zu verurteilen.
Aznar hatte den Einmarsch der USA im Irak mit großem Nachdruck unterstützt, obwohl die spanische Bevölkerung den Krieg mehrheitlich ablehnte. Der brutale Mord an unschuldigen spanischen Bürgern wird vor diesem Hintergrund heillose Verwirrung stiften und dem so genannten "Krieg gegen den Terror", den Aznar im Bündnis mit den USA und Großbritannien zu führen behauptet, größere Glaubwürdigkeit verschaffen. Die Anschläge werden ausgenutzt werden, um die demokratischen Rechte in Spanien weiter zu unterhöhlen.
Kaum hatte Aznar von den Explosionen erfahren, da verkündete er, dass Spanien dem Terrorismus nicht nachgeben werde. Er versicherte, dass die "Massenmörder" besiegt würden.
Obwohl sich keine Gruppe zu den Anschlägen bekannte, machte die Regierung sofort die baskischen Separatisten der ETA dafür verantwortlich. Innenminister Angel Acebes betonte, die Täterschaft der baskischen Nationalisten stehe außer Zweifel. "Die ETA wollte ein Massaker in Spanien", erklärte er. "Leider hat sie heute ihr Ziel erreicht."
Der Spitzenkandidat der Volkspartei, Mariano Rajoy, der den Umfragewerten zufolge wahrscheinlich Aznars Nachfolge antreten wird, erklärte ebenfalls die ETA zum Täter. Unterstützung erhielt er dabei von José Luis Rodríguez Zapatero von der oppositionellen Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE), der die ETA als "kriminelle Organisation" bezeichnete.
Die Regierung erinnerte daran, dass im vergangenen Monat zwei mutmaßliche ETA-Mitglieder verhaftet wurden, die sich in einem mit Sprengstoff beladenen Lastwagen auf dem Weg nach Madrid befanden. Im letzten Dezember, so die spanischen Behörden, hätten sie einen Anschlag der ETA vereitelt. Schon damals hätte sie ein Sprengstoffattentat in einem Bahnhof von Madrid geplant. Zwei Männer seien verhaftet und zwei Bomben abgefangen worden.
Die Täterschaft der ETA steht allerdings keineswegs fest. Sie hat bisher keine Bombenanschläge von solchen Ausmaßen durchgeführt. Letztes Jahr beispielsweise starben durch ETA-Anschläge drei Menschen - die niedrigste Zahl seit 30 Jahren.
In manchen Kommentaren wurde die Vermutung geäußert, dass Spanien aufgrund von Aznars Unterstützung für den Irakkrieg in das Visier von Gruppen geraten sei, die mit al-Qaida zusammenhängen.
Diesen Standpunkt vertrat Arnald Otegi, der Vorsitzende der verbotenen baskischen Separatistenpartei Batasuna, des politischen Flügels der ETA. Er bestritt jede Verantwortung der ETA und äußerte die Vermutung, die Anschläge gingen auf das Konto des "arabischen Widerstands".
Gestern Abend rückten die Vertreter der spanischen Regierung etwas von ihrem ursprünglichen Standpunkt ab, dass die ETA als Urheber der Gräueltat feststehe. Der spanische Innenminister berichtete, dass in der Nähe des einen Tatorts in einem Kleinbus Sprengmaterialien und Aufnahmen von Koranversen gefunden worden seien.
Die in London erscheinende arabischsprachige Zeitung al-Quds-al-Arabi gab bekannt, dass sie ein Bekennerschreiben der "Abu-Hafs-al-Masri-Brigaden" erhalten habe, die dem al-Qaida-Netzwerk angehören.
Ein Vertreter der US-Regierung warnte, es sei "noch zu früh", um zu beurteilen, ob die Anschläge von der ETA oder einer anderen Terrororganisation wie etwa der al-Qaida begangen worden seien.
Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Kräfte aus dem spanischen Staatsapparat oder aus der politischen Rechten, die mit der Regierung in Verbindung stehen, in die Terrorakte verwickelt sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass solche Provokationen dazu dienten, eine unpopuläre Regierung zu festigen.
Ein Beispiel dafür ist die von der CIA autorisierte Operation "Gladio", in deren Rahmen in Italien in den 1970er Jahren eine Reihe schrecklicher Bombenanschläge verübt wurden. Mit Hilfe dieser terroristischen Verbrechen sollte der wachsende Einfluss der Kommunistischen Partei Italiens bekämpft und das gesamte politische Spektrum mittels einer "Spannungsstrategie" nach rechts verschoben werden. Im Jahr 1974 explodierte auf der Strecke Florenz-Bologna eine Bombe im Schnellzug "Italicus", und 1980 tötete eine Bombe im Wartesaal des Bahnhofs von Bologna 85 Menschen.
Das Ergebnis dieser Anschläge ist unabhängig von den Tätern immer dasselbe. Die reaktionäre Rolle des Terrorismus bringt es mit sich, dass man oftmals nur schwer beurteilen kann, wo der politische Bankrott aufhört und die staatliche Provokation anfängt.
Willkürliche Terrorangriffe, die so viele Menschenleben wie möglich zerstören sollen, sind typisch für Gruppierungen, die den Interessen der Arbeiterklasse mit absoluter Feindschaft begegnen. Es besteht ein direkter innerer Zusammenhang zwischen den Methoden der terroristischen Organisationen und der nationalistischen oder religiös-chauvinistischen Politik, die sie vertreten.
Die Konflikte solcher Organisationen mit imperialistischen Regierungen - seien sie nun säkular, wie ETA, oder islamistisch, wie al-Qaida - sind nicht durch den progressiven Kampf für die politische, soziale und ökonomische Vereinigung und Emanzipation der Völker der Welt motiviert. Sowohl die ETA als auch al-Qaida vertreten bürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte, denen es ausschließlich um eine für sie möglichst vorteilhafte Einigung mit den imperialistischen Mächten geht - eine Einigung, die sie in die Lage versetzt, an den Früchten der Ausbeutung teilzuhaben.
Diese reaktionäre Orientierung steht hinter ihrer anmaßenden Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der einfachen Menschen, die ihren Gräueltaten zum Opfer fallen, sei es in Spanien, den USA oder anderswo.
Die Vorstellung, dass solche brutalen Gewaltakte die herrschende Klasse zu einer Einigung zwingen würden, steht hinter sämtlichen Terrorkampagnen der vergangenen Jahrzehnte. Diese kriminelle Politik kann keine fortschrittlichen Ergebnisse zeitigen. Der Terrorismus spielt direkt den Kriegstreibern in die Hände, die den äußersten rechten Flügel der herrschenden Elite bilden.
Die Bombenanschläge in Madrid werden nicht nur Aznar, sondern auch den Regierungen Bush und Blair Auftrieb geben. Wir verurteilen sie uneingeschränkt.