Die Parlamentswahlen im türkischen Nordzypern vom 14. Dezember 2003 haben den regierenden rechten Parteien, die dem Präsidenten der international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern (TRNC) Rauf Denktas nahe stehen, eine schwere Niederlage versetzt. Trotz eines Patts in der Sitzverteilung des Parlaments hat Denktas daher mittlerweile den bisherigen Oppositionsführer Mehmet Ali Talat mit der Regierungsbildung beauftragt. Die Wahlen haben nicht nur die tiefe Spaltung der türkisch-zypriotischen Gesellschaft sichtbar werden lassen, sondern auch die Konflikte zwischen Regierung und Militär in der Türkei wieder angeheizt.
Die Türkische Republik Nordzypern wurde 1983 als "unabhängiger Staat" ausgerufen, ist aber bis heute nur von der Türkei als solcher anerkannt. Ihr Ursprung geht auf eine militärische Intervention der Türkei im Jahr 1974 zurück. Seither ist der Norden der Insel faktisch ein türkisches Militärprotektorat. Er wird seitdem von Denktas und extrem rechten Nationalisten unter dem Schirm der türkischen Armee beherrscht. Ihre Partei war lange Zeit die Nationale Einheitspartei (UBP), deren Vorsitzender Dervis Eroglu bisher auch Premierminister war. Vor ein paar Jahren hat sich von ihr die Demokratische Partei (DP) unter der Führung von Serdar Denktas, dem Sohn des Präsidenten, abgespalten. Serdar Denktas, seitdem Vizepremier, ist etwas konzilianter und "reformorientierter" aufgetreten als die UBP. Insgesamt haben sich jedoch beide regierenden Parteien durch einen hemmungslosen anti-griechischen Chauvinismus ausgezeichnet.
Geschichte des Zypernkonflikts
Dieser muss vor dem Hintergrund der Geschichte Zyperns verstanden werden. Die Insel war bis 1959 britische Kolonie. Die Unabhängigkeit war das Ergebnis eines jahrzehntelangen Befreiungskampfes, der jedoch vor allem von Mitgliedern der griechischen Bevölkerungsgruppe getragen wurde, während sich die türkische Minderheit größtenteils abseits hielt.
Verantwortlich dafür war die Politik der 1926 unter der Dominanz des Stalinismus gegründeten Kommunistischen Partei Zyperns (KKP), die 1941 in der AKEL aufging, die auch heute noch die Arbeiterbewegung in Südzypern dominiert. Nachdem sie 1941 bis 1944 wegen Stalins Kriegsallianz mit Großbritannien überhaupt nicht für die Unabhängigkeit eingetreten war, passte sich die AKEL mit Beginn des Kalten Krieges vollständig an die orthodoxe Kirche und den griechischen Nationalismus an, der die Forderung nach Selbstbestimmung mit der "Enosis", dem Anschluss an Griechenland, verband.
Für viele türkische Zyprioten, oft unterprivilegierte und diskriminierte Tagelöhner, wurde der Unabhängigkeitskampf deshalb gleichbedeutend mit griechischem Chauvinismus. Dies umso mehr, als die britischen Kolonialbehörden türkische Zyprioten gezielt als Hilfspolizisten zum Kampf gegen die nationale Befreiungsbewegung rekrutierten und die beiden Volksgruppen so gegeneinander aufhetzten. Später taten Provokationen des türkischen Geheimdienstes ihr übriges.
Die Zeit der Unabhängigkeit von 1960 bis zur Invasion 1974 war dementsprechend von ständigen Spannungen, Konflikten und Pogromen auf beiden Seiten geprägt. 1974 wurde der zyprische Präsident Makarios, selbst ein griechischer Nationalist, von einer rechten, von der griechischen Militärjunta unterstützten Offiziersclique gestürzt, und die türkische Armee besetzte als Antwort den Norden der Insel. Die resultierende Massenflucht auf beiden Seiten trennte die beiden Bevölkerungsgruppen und zementierte die Spaltung der Insel.
Seither wurde der Norden von den rechten Nationalisten um Denktas beherrscht, die sich die ganz realen Ängste und Probleme der türkischen Minderheit vor Verfolgung, Vertreibung und Ermordung zu Nutze machten. Das Schüren dieser Ängste war die hauptsächliche politische Grundlage der herrschenden Clique in Nordzypern. Nur ein eigener Staat und der Schutz der türkischen Armee könne die türkischen Zyprioten vor der Vernichtung durch "die Griechen" bewahren, so das Mantra, das den Türken in Zypern wie in der Türkei jahrzehntelang tagaus, tagein eingehämmert wurde.
Gleichzeitig veränderte sich die Bevölkerungsstruktur Nordzyperns. Zehntausende türkische Zyprioten emigrierten ins westliche Ausland. An ihre Stelle traten Siedler vom türkischen Festland, oft mit geringerer Bildung und beruflicher Qualifikation, sowie rund 30.000 auf der Insel stationierte türkische Soldaten. Sie wurden zur sozialen Stütze des Denktas-Regimes.
Soziale Spannungen
Mittlerweile haben sich die Lebensbedingungen für den Großteil der Bevölkerung -insbesondere relativ zum griechischen Süden - stetig verschlechtert. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen im Norden liegt heute bei 3.000 US-Dollar, im Süden bei 13.000 US-Dollar. Hauptgrund ist die internationale Isolation des Nordens, wo es außer einer aufgeblähten, mit Anhängern der Denktas-Clique besetzten Staatsbürokratie, der versorgung der türkischen Truppen und einer Reihe von Banken und Kasinos, die der Mafia aus der Türkei zur Geldwäsche dienen, wenig zu verdienen gibt.
Die geballte soziale Frustration insbesondere der jungen Generation hatte sich letztes Jahr in massiven Protesten und Kundgebungen entladen. In Ermangelung einer fortschrittlichen politischen Alternative setzen viele auf den sogenannten "Annan-Plan" der UNO, mit der die Insel wiedervereinigt werden soll. Dies ist Vorbedingung, damit auch Nordzypern an dem Beitritt der Insel zur EU im Mai teil hat. Davon verspricht man sich ein Ende der allgegenwärtigen Korruption und Vetternwirtschaft und einen wirtschaftlichen Aufschwung, insbesondere durch Tourismus.
Denktas hatte im April letzten Jahres auf die Proteste reagiert, indem er das Ausreisen erleichterte. Danach hatte sich die Situation vorübergehend etwas entspannt. Täglich sollen seitdem mehr als 5.000 Inseltürken als Tagelöhner die Grenze in den griechischen Süden zur Arbeit überqueren. Um die Checkpoints passieren zu dürfen, müssen sie allerdings bei der griechisch-zyprischen Regierung einen Pass beantragen und sich als Bürger der Republik Zypern ausweisen. Mehr als 60.000 Inseltürken sollen angeblich im griechischen Süden einen solchen Pass erhalten haben.
Diese Entwicklungen zeigen, dass der Nationalismus bei den "einheimischen" türkischen Zyprioten nicht mehr verfängt.
Das spiegelte sich auch im Wahlergebnis für die Oppositionsparteien nieder. Die Türkisch-Republikanischen Partei (CTP) des nun mit der Regierungsbildung beauftragten Mehmet Ali Talat kam auf 35,2 Prozent der Stimmen und 19 Sitze, sie konnte damit ihren Stimmenanteil im Vergleich zur letzten Wahl 1998 fast verdreifachen. Die mit Talat verbündete Bewegung für Frieden und Demokratie (BDH) kam auf 13,1 Prozent und sechs Mandate.
Die UBP von Regierungschef Dervis Eroglu erzielte nur noch 32,9 Prozent - fast acht Prozentpunkte weniger als 1998 - und erhält 18 Sitze, ihr Bündnispartner DP sackte um zehn Prozentpunkte ab und kam auf 12,9 Prozent und sieben Sitze. Dass die Regierungsparteien immer noch auf fast die Hälfte der Stimmen kamen, dürften sie vorwiegend der eigenen, eng mit dem Machtapparat verbundenen Klientel und den unter den Siedlern geschürten Ängsten zu verdanken haben. Die Rechten und die ihnen nahestehenden Medien hatten die Opposition nicht nur als Vaterlandverräter beschimpft, sondern auch behauptet, die Annahme des Annan-Planes bedeute die Vertreibung der etwa 100.000 Siedler, rund der Hälfte der Bevölkerung.
Koalitionsregierung
Im Parlament besteht seit den Wahlen ein Patt, die bisherige Regierung hält noch 25, die Opposition nun ebenfalls 25 Sitze. Zunächst gab es daher viel Spekulationen über umgehende Neuwahlen. Diese sollten dann ein klares Ergebnis zugunsten der Opposition bringen, die von den USA und der EU fast unverhohlen unterstützt wurde. Talat hatte zunächst eine Koalition mit einer früheren Regierungspartei ausgeschlossen und auf Übertritte aus der UBP oder DP gehofft - eine in der Türkei durchaus übliche Praxis.
Doch nachdem sich nicht nur Präsident Denktas sondern auch die türkische Regierung für eine große Koalition ausgesprochen hatten, schwenkte Talat schließlich um. Weder er noch die in der Türkei regierende AKP unter Recep Tayip Erdogan sind an einer völligen Entmachtung der Denktas-Clique interessiert. Denn dies würde eine offene Konfrontation mit dem mächtigen Militär und eine mögliche Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung gegen die etablierten Machtstrukturen bedeuten.
An einer solchen Entwicklung haben weder die EU noch die Regierung in Ankara ein Interesse. Der Beitritt Zyperns zur EU im Mai dieses Jahres ist mit einer Liberalisierung und Öffnung der Wirtschaft verbunden, die scharfe soziale Angriffen auf die Bevölkerung zur Folge hat. Die EU unterstützt zudem den Annan-Plan, der die Reduzierung der griechischen und türkischen Truppenpräsenz, aber gleichzeitig die Beibehaltung der strategisch bedeutsamen britischen Militärbasen vorsieht.
Dementsprechend hat die türkische Regierung eine allzu offene Parteinahme für die nordzyprische Opposition vermieden. Gleichzeitig will sie aber selbst in die EU und steht unter entsprechendem Druck, die Verhandlungen zur Annahme des Annan-Planes voranzutreiben. Im Gegensatz zu Rauf Denktas hat sich der türkische Regierungschef Erdogan grundsätzlich dafür ausgesprochen, denn Annan-Plan als Verhandlungsgrundlage zu akzeptieren, und das türkische Außenministerium hat Ende des Jahres eine Reihe von Vorschlägen dazu vorgelegt. Diese sehen neben Forderungen eine Reihe von Zugeständnissen vor, darunter auch die schrittweise Reduzierung der türkischen Truppenpräsenz von über 30.000 auf 6.000.
Insbesondere dieser Punkt scheint jedoch den Zorn der Armeeführung erregt zu haben. Die dem Militär nahestehende Zeitung Cumhurriyet berichtete, der Generalstab habe der Regierung hinter verschlossenen Türen seinen Unmut mitgeteilt. Die Zugeständnisse der Regierung in der Zypern-Frage gingen ebenso zu weit, wie ihre Passivität gegenüber den Autonomiebestrebungen der Kurden im Nordirak. Erdogan dementierte diese Berichte vehement. Vom Generalstab kam jedoch kein solches Dementi.
Die türkischen Militärs haben eine Vielzahl von Motiven, an Nordzypern festzuhalten:
Zum einen ist die Insel von enormer strategischer Bedeutung. Sie liegt nur 65 km von der türkischen Küste entfernt im Zentrum des östlichen Mittelmeeres und auf dem Schnittpunkt der Seelinien zwischen Europa, der Türkei, Israel, Ägypten und dem Suezkanal. Auch die Seelinie zum Ausgang der geplanten Ölpipeline zwischen Baku und dem türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan führt über Zypern. Die anderen Inseln vor der türkischen Südküste werden von Griechenland kontrolliert. Angeblich soll es zwischen Zypern und der Türkei auch bedeutende Ölreserven unter dem Meeresboden geben.
Zweitens ist Zypern nicht nur eine Geldwaschanlage, sondern auch Ruheraum und Operationsbasis für den türkischen Geheimdienst.
Und schließlich ist die Existenz Nordzyperns als Militärprotektorat für die Armee auch von nicht zu unterschätzender politischer und ideologischer Bedeutung. Durch die in der Türkei "Friedensoperation" genannte Invasion, die von der gesamten offiziellen "Linken", den Gewerkschaften und den moskautreuen Stalinisten unterstützt wurde, konnte sich die Armee 1974 als Verteidiger der Rechte des Volkes gerieren. Manche stalinistischen Gruppen, wie die maoistische "Arbeiterpartei" (IP) von Dogu Perincek, verteidigen sie bis heute.
Der 1974 amtierende Premierminister Bülent Ecevit hat stets darauf hingewiesen, dass im Gefolge der Intervention nicht nur das Putschregime griechischer Faschisten in Südzypern, sondern auch die rechte Militärdiktatur in Griechenland selbst kollabierte. Erst drei Jahre vorher, 1971 hatte allerdings auch die türkische Armee geputscht und zwei Jahre lang die linke Bewegung mit Verhaftung, Folter und Ermordung überzogen. 1980 errichtete sie dann eine noch blutigere Militärdiktatur über das türkische Volk, das sie angeblich in Zypern verteidigt. Und während sich die türkischen Nationalisten wegen ihrer internationalen Isolation in der Zypern-Frage gern in Pose werfen, wurde das von den USA 1974 verhängte Waffenembargo 1980 aufgehoben.