Europäische Regierungskonferenz in Rom

Streit über europäische Verfassung

Die Kulisse entsprach dem Anlass. Der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi hatte als Tagungsort der sechsten europäischen Regierungskonferenz das römische Stadtviertel EUR ausgewählt und in eine illusionäre Szenerie verwandelt - eine Mischung aus Pomp, Kitsch und faschistischen Reminiszenzen.

Das zwischen Stadtzentrum und Meer gelegene Ausstellungsgelände "Esposizione Universale di Roma" war ein Prestigeobjekt Mussolinis. Es sollte 1942 die Weltausstellung beherbergen, wurde aber aufgrund des Zweiten Weltkriegs und des unrühmlichen Endes des faschistischen Diktators nie fertig gestellt. Seither gammelt es vor sich hin, ein Provisorium aus altrömischer Pracht und futuristischen Stilelementen, das Berlusconi jetzt mit imitierten Marmorsäulen aus Pressspan ausschmücken ließ, während die Wände des Kongresszentrums mit riesigen Plastikplanen behängt wurden, die ein idealisiertes antikes Rom im Renaissance-Stil wiedergeben. Eine "Art imperiales Disneyland", wie ein Kommentar bemerkte. Selbst die Statue des Duce, hoch zu Ross mit ausgestrecktem Arm, wurde zu Ehren der angereisten Staatschefs ausgebessert.

Ein riesiges Polizeiaufgebot riegelte das Viertel hermetisch ab, so dass keiner der 300.000 Demonstranten, die gegen den Gipfel protestierten, in die Nähe des Tagungsortes gelangen konnte.

Im Mittelpunkt der Konferenz, zu der neben den Regierungschefs von fünfzehn EU-Staaten auch die von zehn Mitgliedskandidaten und von drei Bewerbern angereist waren, stand der Entwurf für eine europäische Verfassung. Dieser Verfassungsentwurf, den ein "europäischer Konvent" unter Leitung des französischen Ex-Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing im Sommer nach zweijähriger Arbeit vorgelegt hatte, ist ebenso wie die von Berlusconi aufgebaute Kulisse ein Gemisch aus Täuschungen und Illusionen.

Schon der Begriff Konvent ist ein Etikettenschwindel. Er erinnert an die amerikanische und die französische Revolution, in deren Verlauf Verfassungskonvente die ersten wirklich demokratischen Verfassungen der Neuzeit ausarbeiteten. Doch während sich diese Konvente auf breite Volksbewegungen stützten, arbeitete der europäische Konvent weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Seine 105 Mitglieder verfügen über keine demokratische Legitimation. Sie wurden nicht gewählt, sondern von den nationalen und europäischen Parlamenten, den nationalen Regierungen und der EU-Kommission bestimmt. Als die Arbeit des Konvents ins Stocken geriet, ernannte sich der deutsche Außenminister Joschka Fischer kurzerhand selbst zum Mitglied, um den deutschen Interessen mehr Nachdruck zu verleihen. Gegen den Konventsvorsitzenden Giscard wurde immer wieder der Vorwurf erhoben, er verhalte sich autoritär und manipuliere die Ergebnisse im französischen Interesse.

So bemerkte der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker, ansonsten ein eifriger Befürworter der europäischen Integration, im Juni gegenüber dem Spiegel : "Ich bin jetzt 20 Jahre in europäischer Politik engagiert. Ich habe noch nie eine derartige Untransparenz, eine völlig undurchsichtige, sich dem demokratischen Wettbewerb der Ideen im Vorfeld der Formulierung entziehende Veranstaltung erlebt. Der Konvent ist angekündigt worden als die große Demokratie-Show. Ich habe noch keine dunklere Dunkelkammer gesehen als den Konvent."

Die wesentliche Aufgabe des Konvents bestand darin, ein juristisches Korsett für europäische Institutionen zu schnüren, die in der Bevölkerung zunehmend verhasst sind und an den wachsenden Konflikten zwischen den europäischen Regierungen zu zerbrechen drohen. Er entwarf keine Zukunftsperspektive, sondern es handelte sich "über weite Strecken um eine bloße Kodifizierung, Systematisierung, Vereinfachung und Straffung des bereits geltenden Rechts", wie der Völkerrechtler Daniel Thürer in der Neuen Zürcher Zeitung kommentierte.

Der Konvent war ins Leben gerufen worden, nachdem die Regierungskonferenz von Nizza vor drei Jahren an heftigen inneren Gegensätzen gescheitert war. Diese Konferenz hatte sich zum Ziel gesetzt, die europäischen Institutionen so zu straffen, dass die EU auch nach der Erweiterung von 15 auf 25 Mitglieder im Jahr 2004 handlungsfähig bleibt. Das Vorhaben scheiterte an Gegensätzen zwischen Deutschland und Frankreich und der Furcht der kleineren Länder, von den großen dominiert zu werden.

Mit Hilfe des europäischen Konvents sollte dann auf anderem Wege erreicht werden, was in Nizza nicht gelungen war. Der maßgeblich von französischen und deutschen Interessen geprägte Verfassungsentwurf sieht eine Stärkung der zentralen europäischen Institutionen und geringere Rechte für kleinere Mitglieder vor. Doch das Treffen in Rom hat gezeigt, dass die innereuropäischen Gegensätze seit Nizza eher noch schärfer geworden sind.

Während Deutschland und Frankreich mittlerweile an einem Strang ziehen und dabei von den Benelux-Ländern, Italien und teilweise von Großbritannien unterstützt werden, lehnt eine Gruppe von kleineren Mitgliedern, angeführt von Österreich und Finnland und unterstützt von den osteuropäischen Mitgliedskandidaten, eine Beschneidung ihrer Rechte vehement ab. Die beiden mittelgroßen Länder Spanien und Polen beharren darauf, dass sie - wie in Nizza beschlossen - auch in Zukunft nahezu dasselbe Stimmengewicht haben wie die vier Großen.

Im Einzelnen geht es um folgendes:

Der Verfassungsentwurf sieht vor, dass dem Europäischen Rat in Zukunft ein Präsident vorsteht, der für zweieinhalb Jahre gewählt wird und dessen Amtszeit einmal verlängert werden kann. Der Rat setzt sich aus allen Staats- und Regierungschefs der einzelnen Mitglieder zusammen und ist das wichtigste Entscheidungsorgan der EU. Bisher wechselte der Ratsvorsitz alle sechs Monate im Rotationsverfahren. Die kleinen Staaten lehnen die Neuregelung ab, weil sie fürchten, der EU-Präsident werde ausschließlich aus den Reihen der Großen bestimmt.

Außerdem soll das Amt eines EU-Außenministers geschaffen werden, der sowohl Mitglied der EU-Kommission als auch dem Europäischen Rat verantwortlich ist. Bisher waren diese beiden Funktionen getrennt. Gegen den EU-Außenminister hat vor allem Großbritannien Vorbehalte, das die Außenpolitik in nationaler Kompetenz behalten möchte.

Heftig umstritten ist auch die Stimmengewichtung im Rat. Die Verfassung sieht vor, dass eine qualifizierte Mehrheit zustande kommt, wenn eine Mehrheit der Mitgliedstaaten, die zusammen 60 Prozent der gesamten EU-Bevölkerung repräsentieren, einer Entscheidung zustimmt. Dagegen laufen Spanien und Polen Sturm, denen in Nizza mit je 27 Stimmen ein nahezu gleiches Gewicht zugestanden worden war wie Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland mit jeweils 29 Stimmen. Die neue Regelung würde ihren Einfluss schwächen. Berlin würde es wesentlich leichter fallen, eine Mehrheit zu organisieren. In Deutschland leben über 18 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung, mehr als doppelt so viel wie in Polen.

Großbritannien stimmt der Neuenregelung zwar im Prinzip zu, beharrt aber darauf, dass der Rat nur geringe Kompetenzen erhält. Wichtige Bereiche der Politik wie Steuern, Verteidigung und Außenpolitik sollen Domänen der Mitgliedstaaten bleiben.

Die Kommission soll laut Verfassungsentwurf auf 15 stimmberechtigte Mitglieder verkleinert werden. Gegenwärtig besteht das wichtigste Exekutivorgan der EU aus 20 Mitgliedern. Die fünf großen Länder stellen jeweils zwei und die zehn kleineren jeweils einen Kommissar. Nach der neuen Regelung steht den großen Ländern nur noch ein Vertreter zu, während sich die kleinen abwechseln müssen und nicht mehr ständig repräsentiert sind. Dieser Vorschlag wird von der Mehrheit der kleineren Länder abgelehnt.

Mehrere Länder fordern auch, einen ausdrücklichen Hinweis auf das "christliche Erbe" Europas in die Präambel der Verfassung aufzunehmen - was der zukünftigen Mitgliedschaft der Türkei einen Riegel vorschieben würde.

Einzig in der Frage der europäischen Verteidigungspolitik kam es in Rom zu einer Annäherung. Frankreich - und in geringerem Maße Deutschland - betrachten den Aufbau europäischer Streitkräfte als Beitrag zu einer "multipolaren Welt", in der Europa gleichberechtigt mit der Supermacht USA auftritt. Großbritannien - unterstützt von Spanien, Italien und Polen - beharrt dagegen auf eine enge Anbindung an die USA. Bestrebungen, die EU militärisch von der Nato zu emanzipieren, sind daher immer wieder an britischen Einwänden gescheitert.

Diese Gegensätze bestehen zwar weiterhin, aber London ist Paris und Berlin in wichtigen Punkten entgegengekommen. So willigte Blair ein, dass die EU gemeinsame Planungs- und Führungskapazitäten für eigenständige Operationen aufbaut. Auch die verstärkte militärische Zusammenarbeit zwischen einzelnen Gruppen von EU-Mitgliedern, die im Verfassungsentwurf vorgesehen ist, scheint nicht mehr am britischen Veto zu scheitern. Außerdem haben die Pläne für eine Europäische Rüstungsagentur, die die Forschung und Produktion europäischer Waffen koordiniert, gute Aussichten auf Erfolg.

Die Europäischen Verteidigungsminister kamen in Rom zudem überein, im Mai 2004 das Kommando über die SFOR-Mission in Bosnien von der Nato zu übernehmen - vorausgesetzt, die USA sind damit einverstanden.

Die Konferenz von Rom brachte keine Annäherung in den umstrittenen Fragen. Sie sollen nun von den Außenministern geklärt werden, die bis zum Jahresende mehrmals zusammentreffen werden. Es gilt aber als äußerst unwahrscheinlich, dass der endgültige Verfassungsentwurf wie ursprünglich geplant in diesem Jahr vorliegen wird, wenn er überhaupt zustande kommt. Und selbst wenn sich die Regierungen einigen sollten, könnte der Verfassungsentwurf am Ratifizierungsverfahren durch die 25 nationalen Parlamente scheitern. In einigen Ländern sind auch Volksabstimmungen geplant.

Frankreich und Deutschland drohten Gegnern des Entwurfs recht unverhüllt mit ökonomischen Sanktionen. "Ich weiß nicht, wer es sich erlauben kann, die Verfassung zu blockieren," sagte der französische Präsident Jacques Chirac in Rom und fügte warnend hinzu, eine Verzögerung der Verfassung könne die 2004 beginnenden Verhandlungen über Finanzhilfen für ärmere EU-Staaten belasten. Deutsche Regierungsvertreter erwähnten gegenüber der Presse eine "lange Folterliste", die man gegen Gegner der Verfassung einsetzen könne, und erinnerten daran, dass Deutschland der größte Nettozahler der EU sei.

Die Angst vor einer deutsch-französischen Dominanz der EU ist also durchaus berechtigt. Die Opposition der anderen Regierungen gegen eine solche Dominanz weist allerdings in keine fortschrittliche Richtung. Das zeigt sich schon daran, dass sich die polnische und die spanische Regierung eng an die Bush-Administration klammern und den Krieg gegen den Irak vorbehaltlos unterstützt haben. Vor allem in Polen nimmt die Ablehnung der EU-Verfassung inzwischen hysterisch nationalistische Züge an.

Der populäre Fraktionsführer der liberalen Bürgerplattform Jan Rokita stilisierte den polnischen Stimmenanteil im Ministerrat zur nationalen Schicksalsfrage hoch und gab den pathetischen Schlachtruf aus: "Nizza oder Tod". Sein Kollege Vladimir Kaczynski von der rechten Partei Recht und Gerechtigkeit verglich die Situation Polens sogar mit der Lage vor dem Zweiten Weltkrieg, falls die Verfassung angenommen würde. Damals hatte der Hitler-Stalin-Pakt das Schicksal des Landes besiegelt. Ins selbe Horn stieß der Vorsitzende der ultrarechten Samoobrona-Partei, Andrzej Lepper. Was Deutschland vor fünfzig Jahren mit Panzern nicht geschafft habe, das schaffe es heute mit der EU, sagte er.

Kennzeichnend ist auch der folgende Zwischenfall. Unmittelbar vor der Römer Konferenz verkündete das Warschauer Verteidigungsministerium, polnische Besatzungssoldaten im Irak hätten französische Roland-Raketen aus dem Jahr 2003 aufgespürt. Frankreich, so die Implikation, habe unmittelbar vor dem Krieg das Waffenembargo gebrochen und Saddam Hussein mit Kriegsmaterial beliefert - eine Steilvorlage für die US-Regierung. Präsident Chirac klärte den polnischen Ministerpräsidenten Leszek Miller dann in Rom auf: Die entsprechende Rakete wird seit 15 Jahren nicht mehr hergestellt und die aufgeprägte Jahreszahl bezeichnet nicht das Herstellungs-, sondern das Verfallsdatum.

Das Aufpeitschen nationalistischer Stimmungen in Europa ist nur vordergründig auf die Auseinandersetzung über den Verfassungsentwurf zurückzuführen. Dahinter verbergen sich scharfe soziale Spannungen, die sich mit der Osterweiterung noch weiter zuspitzen werden.

Die Brüsseler Institutionen treten seit langem als Handlanger der transnationalen Konzerne und Finanzinstitutionen auf. Eine anonyme, in keiner Weise demokratisch legitimierte Behörde setzt Vorschriften und Bestimmungen durch, die das Leben von Millionen verändern und den Sozialabbau und die Deregulierung des Arbeitslebens vorantreiben. Hatte die EU bei früheren Erweiterungsrunden die schlimmsten sozialen Verwerfungen noch durch Regional-, Agrar- und andere Fonds gedämpft, ist dies bei der Osterweiterung kaum mehr der Fall. Sie pocht auf fiskalische Disziplin und Liberalisierung, was Millionen, die von einer rückständigen Landwirtschaft oder veralteten Betrieben abhängig sind, die Existenzgrundlage kostet. Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne im Osten dienen wiederum als Hebel, um auch im Westen den Lebensstandard zu senken.

Da nahezu alle sozialdemokratischen und ehemals stalinistischen Parteien die EU unterstützen und die Vorreiterrolle beim Sozialabbau spielen, können rechte und nationalistische Kräfte die wachsende Opposition ausnutzen. Ihr Nationalismus führt allerdings in eine Sackgasse. Die Balkanisierung Europas hätte verheerende Folgen - wirtschaftlichen Niedergang und schließlich Krieg.

Eine fortschrittliche Einigung Europas ist nur durch eine Bewegung von unten möglich; durch die Vereinigung der europäischen Arbeiter im Kampf gegen Sozialabbau, für demokratische Rechte und gegen Krieg unter dem Banner der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

Siehe auch:
Vor dem europäischen Gipfel in Nizza
(7. Dezember 2000)
EU-Gipfel in Nizza
( 13. Dezember 2000)
Weitere Artikel zur EU
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - November/Dezember 2003 enthalten.)
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