Die Bombardierung Serbiens durch die NATO hat Auswirkungen, die sich weit über die Grenzen des Balkans hinaus erstrecken. Vor allem die Beziehungen zwischen Europa und Rußland und das labile innenpolitische Gleichgewicht der zweitgrößten Atommacht der Welt werden davon direkt und unmittelbar betroffen.
Der Angriff der NATO auf ein Land, das bis zurück ins 19. Jahrhundert traditionell enge Beziehungen zu Moskau unterhält, und die Brüskierung der russischen Außenpolitik, die damit einher geht, haben die Gräben des kalten Krieges wieder aufgerissen und den nationalistischen Kräften Auftrieb verliehen, die der Westorientierung von Präsident Boris Jelzin und Premier Jewgenij Primakow kritisch gegenüberstehen.
Die Reaktionen aus Moskau auf die ersten Bomben klangen, als sei die Zeit vor fünfzehn Jahren stehen geblieben. So erklärte Außenminister Igor Iwanow, daß "das wirkliche Ziel der Militärschläge der NATO gegen Jugoslawien offensichtlich darin besteht, der Welt das politische, militärische und ökonomische Diktat der USA aufzuzwingen. Sie wollen auch im 21. Jahrhundert eine monopolare Weltordnung schaffen, mit der das Schicksal der Völker aus Washington gesteuert werden soll." Und Innenminister Sergej Stepaschin sagte, daß der "Angriff auf Jugoslawien in gewisser Weise auch ein Angriff auf Rußland" sei.
Das russische Parlament, die Duma, beschloß mit erdrückender Mehrheit, daß Präsident Jelzin bis zum 15. April über die Lieferung von Waffen und Kriegstechnik an Jugoslawien entscheiden müsse. Das Datum dient als Druckmittel: am selben Tag stimmt die Duma nämlich über ein Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin ab.
Der Nationalist Schirinowski organisiert sogar Freiwilligenverbände für den Einsatz in Serbien, während der Führer der Kommunistischen Partei, Sjuganow, die Aktivierung des russischen Atompotentials verlangt. Dieser Forderung scheinen die Militärs inzwischen nachgekommen zu sein. Jüngsten Meldungen zufolge haben sie die russischen Atomsprengköpfe, die seit Jahren deaktiviert sind, wieder auf Ziele in NATO-Staaten programmiert.
Präsident Jelzin hat zwar klargestellt, daß sich Moskau nicht in den Krieg auf dem Balkan hineinziehen lassen und Belgrad keine Waffen liefern wolle - außer, wie er einschränkte, es werde dazu provoziert. Aber der Balanceakt, den die Regierung zwischen ihren ausländischen Geldgebern und der einheimischen Opposition vollzieht, wird zusehends schwieriger. "Je weiter die Kosovo-Krise eskaliert, desto enger wird der Spielraum der russischen Regierung, die sich zunehmendem innenpolitischem Druck ausgesetzt fühlt," meinte dazu der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der sich am Donnerstag in Moskau mit Premier Primakow traf.
Sollte die NATO Bodentruppen einsetzen, so die einhellige Meinung von Beobachtern, dürfte der Spielraum für Jelzin und Primakow noch enger werden. "Eine Verschärfung der Moskauer Position wäre vor diesem Hintergrund unabwendbar," kommentiert das Handelsblatt. Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, der Stoiber auf seiner Moskaureise begleitete, rechnet in diesem Fall mit einer "qualitativen Veränderung" im deutsch-russischen Verhältnis.
Innenpolitische Krise
Der Balkankrieg trifft Rußland mitten in einer tiefen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise.
Im Februar wurde der für die Bevölkerung bisher einschneidendste Staatshaushalt verabschiedet, der Staatsausgaben in Höhe von 26 Milliarden und Einnahmen von 21 Milliarden US-Dollar vorsieht. Für die Rückzahlung der Staatsschulden sind in diesem Jahr 17,5 Milliarden Dollar eingeplant. Dem Staatshaushalt liegt ein Dollarkurs von 21 Rubeln zugrunde, der mittlerweile auf 26 bis 27 Rubel pro Dollar angestiegen ist. Erst am 6. April verkündete Zentralbankchef Wiktor Gerashenko, daß die Zentralbankreserven infolge der jüngsten Schuldenzahlungen auf ein Dreijahrestief von 10,6 Milliarden gefallen seien.
Acht Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion ist die Politik der liberalen Reformen, der größtmöglichen Öffnung des Landes für das westliche Kapital, nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in Teilen des politischen Establishments diskreditiert. Der Angriff der NATO auf Serbien hat den Hoffnungen, daß der Weltkapitalismus helfen werde, Rußlands Probleme zu lösen, einen zusätzlichen Schlag versetzt. Der reiche Onkel aus Übersee erscheint plötzlich als brutaler Aggressor.
Das Dahinsiechen Jelzins, auf den sich die westlichen Mächte jahrelang gestützt haben, erscheint unter diesen Umständen wie die bildhafte Verkörperung des Scheiterns dieser Perspektive. Die zunehmenden Intrigen, das Aufdecken verschiedenster Korruptionsfälle, in die seine Familie verwickelt ist, und die immer panikartigeren Entlassungen und Ernennungen von hochrangigen Regierungsbeamten verdeutlichen die enorme Schwächung seiner Position. Die Möglichkeit, daß das Impeachmentverfahren am 15. April gegen ihn ausfallen wird, vergrößert sich zusehends.
Wie sehr sich die Liberalen in die Ecke gedrängt fühlen, zeigt auch die Tatsache, daß es ihre führenden Vertreter nicht wagen, die NATO im Krieg gegen Serbien offen zu unterstützen. Bei den vorangegangen Angriffen der USA auf den Irak, den Sudan oder Afghanistan war das noch anders gewesen. Statt dessen sind drei bekannte liberale Politiker - Jegor Gaidar, Boris Nemtzow und Boris Fjodorow - zu einer diplomatischen Blitzvisite nach Belgrad gereist und haben versucht, Slobodan Milosevic zum Einlenken zu bewegen. Die Reise endete mit einem Fiasko.
Nationalisten und Kommunisten - deren Propaganda zusehends patriotisch gefärbt ist - versuchen, die Krise der Liberalen auszunutzen. Sie hoffen auf einen Sieg bei den Parlamentswahlen in diesem Jahr und bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr.
Ihre Opposition gegen die NATO unterscheidet sich allerdings grundlegend von den entsprechenden Stimmungen in der Bevölkerung. Letztere sind ein Ausdruck der Enttäuschung über die geplatzten Illusionen, den Kapitalismus in Rußland einzuführen. Amerika, das immer als das klassische Vorbild von Wohlstand und Demokratie hingestellt wurde, zeigt sich in Gestalt einer Macht, von der eher irrationale Zerstörung und Gewalt als schöpferischer Aufbau zu erwarten sind. Die Bombardierung Serbiens stellt die Mehrheit der Bevölkerung in scharfer Form vor die Frage, welche Zukunftsaussichten in der gegenwärtigen internationalen Situation existieren.
Im Gegensatz dazu ist die Haltung der offiziellen Parteien zum Krieg gegen Serbien von Zynismus geprägt. Die Krokodilstränen über das Schicksal der einfachen serbischen Bevölkerung dienen lediglich dazu, den eigenen politischen Bankrott zu übertünchen. Die Verurteilung der imperialistischen Politik der USA wird von den selben Leuten betrieben, die die russische Bevölkerung an den Rand des Untergangs geführt und den blutigen Krieg in Tschetschenien entfesselt haben. Jelzins Erklärung, daß "wir jetzt moralisch höher stehen als Amerika", klingt mindestens ebenso absurd wie die Behauptungen Clintons und seiner NATO-Alliierten, sie hätten den Krieg ausschließlich aus der tiefen Besorgnis über das Schicksal der albanischen Bevölkerung im Kosovo heraus begonnen.
Der Krieg auf dem Balkan wird nicht zuletzt als Gelegenheit betrachtet, von den brennenden sozialen Problemen im Lande abzulenken. Den Worten der liberalen Wochenzeitung Expert zufolge, "gibt der Krieg in Jugoslawien Rußland die Chance aus seiner eigenen politischen Krise herauszukommen". Gedeckt durch die nationalistische Propaganda werden neue Angriffe auf das Lebensniveau der Arbeiter vorbereitet. Primakow hat bereits harte Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaftskraft angekündigt. Er erklärte, daß es notwendig sei, "die inneren Ressourcen der Wirtschaft maximal zu mobilisieren... Es wird auch keine Nachsicht denen gegenüber geben, die sich der Disziplin und den Anordnungen des Kabinetts widersetzen."
Die Politik der Nationalisten und Kommunisten unterscheidet sich in dieser Hinsicht kaum von jener der Liberalen. Sie haben ebensowenig wie diese eine Antwort auf die brennenden sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Auch sie setzen auf neue Kredite des Internationalen Währungsfonds, wobei sie erklären, nur eine harte Haltung Moskaus gegenüber der NATO verspreche Erfolg bei den Verhandlungen mit dem IWF.
Internationale Konflikte
Der zunehmend nationalistische Kurs der russischen Außenpolitik ist letztlich auf das Verhalten der Großmächte selbst zurückzuführen, die immer weniger bereit sind, in ihrer internationalen Politik auf russische Belange Rücksicht zu nehmen.
Das Vorgehen der NATO im Kosovo-Konflikt lief auf eine Reihe von Demütigungen Moskaus hinaus, denen sich - laut Karl Grobe in der Frankfurter Rundschau - "auch ein im Kern stabiles Regierungsgefüge an der Moskwa nicht ohne Widerspruch hätte fügen können." Russische Bemühungen um eine Kompromißlösung wurden wiederholt schroff zurückgewiesen. Mit dem Verzicht auf ein UN-Mandat für das militärische Vorgehen wurde schließlich jede Mitsprache Rußlands blockiert. "Die West-Vormacht und allzu viele ihrer Satrapen haben Rußland als quantité négligeable behandelt, als geradezu unnötiges Zubehör einer Weltpolitik und Wirtschaftsglobalisierung, die Moskau hinzunehmen hatte," schreibt Grobe.
Vor allem die USA und Großbritannien haben Moskau systematisch brüskiert. Frankreich und Deutschland haben sich dagegen wiederholt bemüht, es in die Lösung des Kosovo-Konflikts einzubinden. So steht der deutsche Außenminister Fischer in regelmäßigem telefonischen Kontakt zu seinem russischen Amtskollegen, und der Vermittlungsversuch des russischen Premiers Primakow, der vorletzte Woche Belgrad aufgesucht hatte, war auf direkte Initiative des französischen Präsidenten Chirac zustande gekommen. Er wurde schließlich vom deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder abgeblockt, der keinen Konflikt mit den USA riskieren wollte.
In der deutschen Presse wird immer wieder auf die Gefahren hingewiesen, die eine Konfrontation mit Rußland nach sich zöge. Typisch ist ein Artikel in der Zeit, der "die Amerikaner" warnt, "den Fehler Österreichs von 1908 zu wiederholen". Österreich hatte damals mit der Annektion Bosnien-Herzegowinas das - durch die Niederlage gegen Japan - geschwächte Rußland vor den Kopf gestoßen. Rußland tat "alles, um gegenüber Österreich neue Fronten auf dem Balkan aufzureißen. Russische Politiker fachten die nationalistische Glut an und ermunterten die Balkanvölker zum Aufstand gegen ihre Unterdrücker. Am Ende stand die Erschießung des kaiserlichen Thronfolgers und der Erste Weltkrieg."
Dieselbe Zeitung weist darauf hin, daß bereits erste Anzeichen einer neuen außenpolitischen Orientierung Rußlands zu erkennen sind. Sie zitiert den stellvertretenden Außenminister Alexander Awdejew mit den Worten: "Durch eine neue Außenpolitik kann Rußland die Bedingungen für seine Wiedergeburt schaffen." Sie ferner weist darauf hin, daß Außenminister Iwanow demnächst nach Teheran reist, um über die Lieferung ziviler Nukleartechnik in den von den USA geächteten Iran zu verhandeln und über die Folgen der Kosovo-Krise zu diskutieren. Verteidigungsminister Sergejew besucht Peking, um gemeinsame Abwehrmaßnahmen gegen ein neues amerikanisches Raketenabwehrsystem zu beraten.
Die Sorge deutscher Politiker und Publizisten über eine neue Eiszeit in den Beziehungen zu Rußland entspringt nicht nur der Tatsache, daß sich deutsche Unternehmen und Banken in Rußland ungleich stärker engagiert haben als jene anderer Länder. Eine Abkühlung der Beziehungen hätte auch verheerende Auswirkungen auf die politische Stabilität Europas und die Osterweiterung der Europäischen Union, von der die politische und wirtschaftliche Stärke Deutschlands weitgehend abhängt.
Im Krieg um den Kosovo zeichnen sich so neue Bruchlinien und Konflikte von internationalem Maßstab ab. Das rücksichtslose Vorgehen der NATO gegen Serbien wirft nicht zuletzt die Frage auf, ob hier ein "Modell" für die zukünftige Haltung gegenüber Rußland und der ehemaligen Sowjetunion entsteht.
Seit 1991 haben die USA und die europäischen Regierungen auf Boris Jelzin gesetzt. Sie unterstützten ihn auch, als er 1995 mit ähnlicher Brutalität gegen die Tschetschenen vorging, wie Milosevic heute gegen die Kosovo-Albaner. Doch in acht Jahren ist es Jelzin weder gelungen, eine funktionierende Wirtschaft aufzubauen, noch ein stabiles politisches System zu errichten. Nach seinem Abtritt von der politischen Bühne werden aller Voraussicht nach Nationalisten und Neo-Stalinisten das politische Ruder ergreifen. Ist es unter diesen Bedingungen nicht sinnvoller, auf den Zerfall Rußlands zu setzen, nationale Gegensätze zu schüren, unter "humanitärem" Vorwand militärisch zu intervenieren und einzelne Regionen herauszubrechen oder zu besetzen, wie das in Jugoslawien geschehen ist?
An entsprechendem Sprengstoff fehlt es auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion nicht. So strebt Georgiens Präsident Schewardnadse eine ähnliche gewaltsame Lösung für den schwelenden Konflikt mit Abchasien an, wie Milosevic im Kosovo. Er fürchtet eine Übertragung der Politik der NATO auf sein Land, das sich bereits jetzt im Zentrum tiefgreifender Interessenkonflikte über das kaspische Öl befindet. Vor dem gleichen Problem steht Aserbaidshan mit seinem ungelösten Konflikt in Berg-Karabach. Das Land verfügt über die größten Ölreserven der Region, jedoch über keinen direkten Zugang zum Weltmarkt.
In der früheren Sowjetrepublik Moldawien ist eine Zuspitzung der Spannungen mit der abtrünnigen Dnestrrepublik absehbar. Dort lebt die russische Minderheit und befindet sich auch fast die gesamte Industrie des Landes. Nach dem Abzug der russischen Truppen aus Deutschland wurde ein Großteil der militärischen Ausrüstung dort stationiert. Nicht zu vergessen sind auch die ethnischen Diskriminierungen der russischen Bevölkerung in den baltischen Staaten, die zur Stärkung der nationalistischen Tendenzen in Rußland beitragen. Medieninformationen zufolge unterstützen auch islamische Organisationen in der Wolgaregion im Süden Rußlands die Angriffe der NATO auf Serbien.
Ein Eingreifen der NATO in der ehemaligen Sowjetunion nach jugoslawischem Vorbild hätte unabsehbare Folgen. Dennoch liegt es in der Logik der gegenwärtigen Eskalation des Kriegs auf dem Balkan. Ein Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik schriebt dazu in der Frankfurter Rundschau: "Handelt die NATO aber ohne Mandat, sind tiefe Konflikte zwischen dem Westen und Rußland vorgezeichnet. In vielen Regionen der Welt wäre wohl ferner damit zu rechnen, daß Faustrecht an die Stelle von Völkerrecht tritt. Die möglichen Konsequenzen für den Weltfrieden wären verheerend."