75 Jahre Republik Türkei

Eine Bilanz des Kemalismus

Eine ganze Woche lang wurde in der Türkei die Gründung der Republik und Übernahme des Amtes des Staatspräsidenten durch Mustafa Kemal Pascha (ab 1934 Atatürk, "Vater der Türken") vor 75 Jahren, am 29. Oktober 1923, gefeiert. Außerdem jährt sich dieses Jahr die Revolution der "Jungtürken", den Vorläufern der Kemalisten, zum 90. und der Todestag Atatürks zum 60. Mal.

Der Staatsgründer ist im Land zu einer Art Kultfigur erhoben worden. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihm und dem "Kemalismus", den Prinzipien, auf die sich die Türkei seit 1923 beruft, hat dementsprechend kaum stattgefunden.

Kernpunkte des Kemalismus waren Einheit und Unabhängigkeit des Landes, Laizismus und republikanisches Prinzip (d.h. Trennung von Staat und Religion), Modernisierung und die Schaffung einer Gesellschaft ohne Klassen und Privilegien. Es ist offensichtlich, daß von all dem nichts verwirklicht ist.

Die Massendemonstrationen am Jahrestag fanden oft in Großstädten statt, deren Oberbürgermeister - wie in Istanbul oder der Hauptstadt Ankara - von der islamistischen Tugendpartei Necmettin Erbakans gestellt werden. In der Woche nach den Feierlichkeiten wurde bekannt, daß ein Anschlag islamischer Fanatiker auf das Atatürk-Mausoleum nur knapp gescheitert war.

Von Atatürks Prinzip des "Halkçilik", womit eine am Interesse des Volkes orientierte Politik und die Leugnung von Klassengegensätzen gemeint sind, ist ebenfalls nichts übriggeblieben. Gerade in den letzten Jahren sind besonders nach der Zollunion mit der EU und den Auswirkungen der Asienkrise Arbeitslosigkeit und Armut regelrecht explodiert. In den Metropolen lebt ein großer Teil der Stadtbevölkerung in Elendsvierteln. Viele dieser Slumbewohner sind aus dem überwiegend kurdisch besiedelten Südosten des Landes geflüchtet, wo seit über zehn Jahren die "nationale Einheit" mit einem mörderischen Krieg, in dem zehntausende Menschen ihr Leben verloren haben, "aufrechterhalten" wird. Gleichzeitig ist offenkundig geworden, daß Staat, Mafia und rechtsextreme Mordbanden seit langem aufs engste miteinander verflochten sind.

An die Stelle nationaler Unabhängigkeit ist die vollständige Abhängigkeit von Investitionen und Krediten des internationalen Kapitals getreten. Streitig ist heute nur noch, ob weiterhin die USA oder in Zukunft doch verstärkt Europa die Türkei als Brückenkopf zu den Rohstoffquellen und Märkten des Nahen Ostens und besonders der turksprachigen Länder des Kaukasus nutzen kann. Fast alle der dortigen Republiken schickten ihre Staatsoberhäupter zu den Feierlichkeiten - um unter den Augen des amerikanischen Energieministers eine gemeinsame Absichtserklärung mit der Türkei über den Bau einer Erdöl-Pipeline zu unterschreiben.

Von all seinen Versprechungen und Idealen hat der Kemalismus also kein einziges eingelöst. Man muß allerdings die Frage stellen: War er dazu überhaupt in der Lage? Blicken wir dazu kurz zurück.

Die Jungtürken

Im 19. Jahrhundert war der Zerfall des Osmanischen Feudalreiches zwar bereits weit fortgeschritten, eine begrenzte kapitalistische Entwicklung hatte etwa seit Beginn des Jahrhunderts stattgefunden, Industrie hatte sich jedoch kaum entwickelt. Zum einen fürchteten die Sultane die Entstehung einer Arbeiterklasse, zum andereren konnten insbesondere englische und französische Industrie ohne größere Zollhemmnisse den Markt des Osmanischen Reiches erobern und das dortige Handwerk ruinieren.

Lediglich die Ausbeutung der Bauern durch die Grundherren und Geldverleiher (nicht selten ein und dieselbe Person) steigerte sich extrem. Diese erhielten 1858 durch ein Landgesetz, das privaten Landbesitz zuließ, schließlich auch die Möglichkeit, sich in großem Ausmaß Grundbesitz anzueignen und ihre Position gegenüber dem Sultan zu stärken. Das aus den Bauern herausgepreßte Geld wurde dann oftmals in Posten im Staatsapparat, der Armee oder dem Klerus "investiert".

Eine zum alten Feudalsystem in Gegensatz stehende produktive bürgerliche Schicht von Bedeutung gab es praktisch nicht. An der Spitze der ersten Revolution standen daher 1908 Armeeoffiziere, die sogenannten Jungtürken ("Yeni osmanhlar").

Leo Trotzki erklärte das damals so: "Die am meisten gebildeten Elemente der türkischen Intelligenz (wie Lehrer, Ingenieure u.a.) wurden Offiziere, da sie in den Schulen und Fabriken fast keine Anwendung für ihre Kräfte fanden. Viele von ihnen hatten in westeuropäischen Ländern studiert und waren vertraut mit dem dortigen System, in ihrer Heimat dagegen wurden sie mit der Unwissenheit und dem Elend des türkischen Soldaten und der Herabwürdigung des Staates konfrontiert... Somit organisierte der Staat in seinem Schoß die kämpferische Vorhut der sich herausbildenden bürgerlichen Nation: eine denkende, kritisierende und unzufriedene Intelligenz." (Leo Trotzki, Die türkische Revolution und die Aufgaben des Proletariats, in: Die Balkankriege 1912-13, Essen 1996, S. 24)

Er warnte jedoch: "Die Stärke des türkischen Offizierskorps und das Geheimnis seines Erfolgs bestehen... in einer aktiven Sympathie seitens der fortschrittlichen Klassen: der Kaufleute, der Handwerker, der Arbeiter, eines Teiles der Beamten und der Geistlichen sowie letztlich des Dorfes in Gestalt der Bauernarmee. Aber all diese Klassen bringen außer ihrer Sympathie auch ihre Interessen, Forderungen und Hoffnungen mit. Alle lange unterdrückten sozialen Leidenschaften treten nunmehr offen zutage, da das Parlament für sie ein Zentrum geschaffen hat. Bitter enttäuscht werden diejenigen sein, die denken, die türkische Revolution sei schon zu Ende. Und zu den Enttäuschten wird nicht nur Abdul-Hamid [der Sultan] gehören, sondern offenbar auch die Jungtürken." (a.a.O., S. 30)

Eine durchgreifende Landreform erfolgte dann auch nicht, die Stellung des Klerus und das Sultanat blieben eine unangetastete Brutstätte reaktionärer Intrigen, da die bürgerlichen Offiziere eine revolutionäre Mobilisierung der Arbeiter und armen Bauern weit mehr fürchteten als den Sultan oder die imperialistischen Mächte. Bei einem Staatsstreich der Sultanskamarilla im Sommer 1912 ließen die Jungtürken deshalb auch widerstandslos den Sturz ihrer Regierung zu.

Aufgrund der völligen Unfähigkeit und Korruption der feudalen Kräfte, die in den Balkankriegen schnell zu Tage trat, eroberten die Jungtürken jedoch bereits ein knappes halbes Jahr darauf am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Regierungsmacht zurück. Die Furcht vor einer sozialen Revolution war ihnen geblieben. Statt das Volk gegen den Imperialismus zu mobilisieren, begaben sie sich daher unter die Fittiche des preußischen Militarismus und zogen auf Seiten des Deutschen Reiches in den Ersten Weltkrieg.

Anstelle einer Lösung der nationalen Frage durch eine freie Einigung aller Nationalitäten und Religionen, ohne Föderalisierung, Demokratisierung und vor allem einen ernsthaften Appell an die geknechteten Bauernmassen undenkbar, trat bald die Ideologie des Panislamismus, dann der rassistische Pantürkismus bzw. Turanismus. 1915 organisierte die jungtürkische Regierung, unterstützt von deutschen Offizieren und kurdischen Stammesführern, ein gewaltiges Pogrom an den Armeniern, bei dem hunderttausende Unschuldige ermordet wurden.

Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde mit der Niederlage des Deutschen Kaiserreiches das Schicksal des Osmanischen Reiches und damit auch das der diskreditierten Jungtürken von den Entente-Mächten besiegelt. Das Parlament wurde von den Besatzungstruppen der Entente aufgelöst, die Jungtürken abgesetzt. Danach begann der Aufstieg des Generals Mustafa Kemal.

Mustafa Kemal

Ursprünglich von der neuen probritischen Regierung des Sultans nach Anatolien geschickt, um den Widerstand gegen die Besetzung der Türkei durch die Großmächte niederzuschlagen, stellte sich Kemal an dessen Spitze. Er proklamierte eine Gegenregierung zu der des Sultans in Istanbul und führte einen gut drei Jahre dauernden Befreiungskampf.

Seine Bewegung war jedoch wie schon die der Jungtürken von den gleichen Widersprüchen geprägt, die ein paar Jahre später Trotzki bei der chinesischen Kuomintang Tschiang Kaischeks analysierte: "Charakter und Politik der Bourgeoisie werden bestimmt von der gesamten inneren Klassenstruktur der Nation, welche den revolutionären Kampf führt; von der geschichtlichen Epoche, in der sich dieser Kampf entfaltet; vom Grad der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Abhängigkeit der nationalen Bourgeoisie vom Weltimperialismus insgesamt oder von einem Teil desselben und endlich, was das hauptsächlichste ist, vom Grad der Klassenaktivität des nationalen Proletariats und der Art seiner Verbindungen zur internationalen revolutionären Bewegung. Eine demokratische und nationale Befreiungsrevolution kann der Bourgeoisie eine Steigerung der Ausbeutungsmöglichkeiten verheißen. Ein selbständiges Auftreten des Proletariats in der Arena der Revolution droht ihr die Ausbeutungsmöglichkeiten überhaupt zu entreißen." (Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven der chinesischen Revolution, in: Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 175)

Auch in Kemals 1920 gebildeter "Großer Nationalversammlung" und Regierung gaben, der Schwäche der türkischen Bourgeoisie entsprechend, wie schon bei den Jungtürken wieder Grundbesitzer und Offiziere den Ton an. Kemal appellierte sowohl an den Islam, erklärte "die Person des Kalifen und Sultans" für "heilig und unverletzlich" (zitiert in: Baku, Congress of the Peoples of the East, Stenographic Report, London 1977, S. 32), sprach von der "Brüderlichkeit der Türken und Kurden" im Kampf gegen die "Ungläubigen" (Griechen, Briten, Armenier), appellierte aber auch mit nahezu "kommunistisch" klingender Rhetorik an die Arbeiter und Bauern. Er versprach den Bauern Land, den Arbeitern Rechte und den Kurden Autonomie.

Gleichzeitig, da die Entente zu einem Kompromiß zunächst nicht bereit war und Deutschland am Boden lag, erbat und erhielt er großzügige militärische und diplomatische Hilfe von der jungen Sowjetunion. In einem Telegramm an die sowjetische Regierung Ende November 1920 verstieg er sich zu folgender Demagogie: "Es ist meine tiefe Überzeugung, daß eines Tages die Werktätigen des Westens einerseits und die unterdrückten Völker Asiens und Afrikas andererseits begreifen werden, daß das internationale Kapital sich ihrer gegenwärtig zur gegenseitigen Vernichtung und Versklavung im Interesse ihrer Herren bedient, und daß an dem Tag, an dem das Bewußtsein von den Verbrechen der Kolonialpolitik die Herzen der werktätigen Massen der Welt ergreift - die Macht der Bourgeoisie endet!" (zitiert nach: Trotzki, Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 483)

Tatsächlich jedoch ging die Politik Kemals um so mehr nach rechts, je länger der Befreiungskrieg dauerte und dessen Sieg näher rückte, da er in Wirklichkeit nichts mehr fürchtete, als ein selbständiges Auftreten der Arbeiter und Bauern.

Anfang 1921 ließ er die gesamte Führung der gerade gegründeten Kommunistischen Partei der Türkei umbringen. Mit zunehmenden militärischen Erfolgen ermordete er Sozialisten, Linke und radikale Bauernführer, nach Gründung der Republik ging er gegen Streiks vor und verfolgte die Bildung von Gewerkschaften, verbot den Kurden sogar den Gebrauch ihrer eigenen Sprache.

Gleichzeitig schaffte seine Regierung jedoch 1922 das Sultanat ab (das dynastisch besetzte Amt des absoluten Herrschers), vertrieb die Angehörigen der osmanischen Dynastie und gründete 1923 die Republik.

Mustafa Kemal brach auch die Macht des Klerus, soweit dieser das feudale Sultanat stützte. Der letzte Sultan Vahidettin, kaum mehr als eine Marionette der Briten, hatte auf deren Initiative hin eine religiöse "Kalifatsarmee" aufgebaut, der Scheich-ul-Islam (geistiges Oberhaupt der Muslime) in einer "Fetva" (übersetzt etwa "Rechtsurteil") zum Kampf gegen die Kemalisten aufgerufen.

Als Anfang 1924 die Institution des Kalifats abgeschafft wurde, war dies weltweit eine Sensation. Der osmanische Sultan war immer auch gleichzeitig Kalif, "Beherrscher aller Gläubigen", gewesen, und hatte damit - bei weit größerer realer Macht - eine ähnliche Bedeutung wie etwa der Papst für die Katholiken gehabt. Wenig später folgte die Übernahme westlicher Gesetzbücher und die Abschaffung der Scharia, der islamischen Gesetzgebung, und das Verbot aller islamischen Orden, von jeher Horte finsterster religiöser und politischer Reaktion.

Der Kemalismus und seine Folgen

Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei erforderte die Lösung der Agrarfrage und die Überwindung der religiösen und nationalen Zersplitterung, die das Osmanische Reich gekennzeichnet hatte. Die Großmächte hatten diese Zersplitterung immer wieder ausgenutzt, indem sie Bündnisse mit verschiedenen Nationalisten oder Stammesführern schlossen. Ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechend "lösten" die kemalistischen Offiziere diese Fragen nicht auf demokratische, sondern auf chauvinistische und konservative Weise.

Die einzigen Grundherren, gegen die die neue Regierung hart vorging, waren die einst sehr privilegierten Aças und Stammesführer der Kurden. Außer einigen, die mit Ankara kollaborierten, wurden sie wie hunderttausende kurdischer Bauern zwangsweise in mehrheitlich türkische Gebiete deportiert. Sie setzten sich daher mit Ordensleuten und anderen vormals Priviligierten an die Spitze mehrerer Aufstände der Kurden gegen die brutale Politik der Zwangsassimilation Ankaras, die allesamt blutig niedergeschlagen und anschließend zur Rechtfertigung größerer politischer Unterdrückung benutzt wurden.

In Bezug auf den Laizismus war der Kemalismus nie so konsequent, wie er im Westen gern dargestellt wird. Tatsächlich ging es Atatürk keineswegs um die Überwindung der Religion, sondern um die Einbindung eines modernisierten Islam in den türkischen Nationalismus. Wie alle bürgerlichen Politiker wußte er, daß "die Religion dem Volke erhalten bleiben muß". Staat und Klerus wurden nicht vollständig getrennt, sondern die Geistlichkeit unter staatliche Aufsicht gestellt und vom Staat bezahlt. Atatürks Nachfolger haben die Islamisierung seitdem weiter forciert.

Ideologisch wurde die angestrebte Symbiose von Religion und Nation damals von Ziya Gökalp formuliert, einem wichtigen Theoretiker Kemals, der u.a. dafür eintrat, den Koran von der arabischen in die von persischen und arabischen Einflüssen "gereinigte" türkische Sprache zu übersetzen. Heute greifen Teile der "laizistischen" Armeeführung und kemalistische Politiker wie Mesut Yilmaz mitunter die Ideen Gökalps in ähnlicher Form wieder auf.

Wirtschaftlich setzte Atatürk, um die Rückständigkeit der türkischen Wirtschaft zu überwinden, auf Protektionismus, Importsubstitution und eine starke Rolle des Staates. 1934 gab es, wohl angesichts der sowjetischen Industrialisierungserfolge, den ersten Fünfjahresplan.

Die nationalistische Wirtschaftspolitik zeitigte zunächst durchaus gewisse Erfolge. Die Produktion stieg rasch an, Infrastruktur und die Basis einer Schwerindustrie entstanden, allerdings nicht zuletzt durch enge wirtschaftliche Beziehungen insbesondere zu Deutschland.

Mit der ökonomischen Entwicklung wuchs jedoch zwangsläufig auch die Abhängigkeit von der Weltwirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwar bis in die siebziger Jahre hinein Versuche, auf die Strategie der Importsubstitution zurückzugreifen, sie scheiterten jedoch allesamt, nicht zuletzt deshalb, weil die Hauptgewinner der wirtschaftlichen Entwicklung, die großen Konzerne, Banken und Grundbesitzer an Autarkie und staatlichen Eingriffen recht wenig interessiert waren. Vielmehr brauchten sie die Investitionen und Kredite insbesondere der USA und Europas.

Der ökonomischen entsprach die politische und militärische Abhängigkeit: Nach dem Zweiten Weltkrieg fungierte die Türkei als Brückenkopf der NATO zum Nahen Osten. Bereits 1947 wurden die ersten bilateralen Militärabkommen mit den USA geschlossen, 1952 trat das Land der NATO bei und erhielt seitdem vor allem von den USA und Deutschland in enormem Umfang finanzielle und militärische Hilfe. Nicht nur die reguläre Armee wurde mit westlicher Hilfe zu einer schlagkräftigen Truppe aufgebaut, dasselbe gilt auch für die gefürchteten paramilitärischen Sondereinheiten. Wenn wegen politischer und sozialer Unruhen das Militär wie 1960, 1971 und 1980 putschte, geschah dies immer mit Unterstützung oder zumindest Duldung der NATO.

Die moderne Türkei

Die Modernisierung der Türkei brachte zwangsläufig das mit sich, wovor sich schon die Sultane und Kalifen gefürchtet hatten: Die Bedeutung der Landwirtschaft nahm ab, die Masse der Bauern verarmte zunehmend, und in den Städten entstand besonders seit den siebziger Jahren eine militante Arbeiterklasse.

Etwa in diesen Zeitraum fällt das Wachstum jener bösartigen Kräfte, die heute im türkischen Staat eine so fatale Rolle spielen. Der Journalist Serdar Çelik schreibt dazu: "Zusammen mit den sozialen Spaltungen und der sozialen Bewegung in den 70'ern in der Türkei begann auch eine Konzentrierung der als Mafia bezeichneten Drogen- und Waffenhändlerbanden. Jedoch hatten diese mehrheitlich enge Verbindungen zur MIT [Geheimdienst], dem Polizeiapparat, dem ÖHD [Amt für besondere Kriegsführung, der als "Konterguerilla" bekannte türkische Ableger der NATO-Geheimorganisation Gladio] und vor allem zur MHP [faschistische Partei, auch als "Graue Wölfe" bekannt]. Viele MHP-Militante wurden von türkischen Drogen- und Waffenhändlerbanden ernährt. Als es zum Militärputsch kam, wurden fast alle Bandenchefs Verhören unterzogen, einige wurden getötet. Übrig blieb ausschließlich die unter der Kontrolle des ÖHD stehende Mafia. Mit dieser Entwicklung wurden die MHP-Militanten im Laufe der Zeit in allen europäischen Ländern zur wirkungsvollsten Mafia-Gruppierung." ( Der Spezialkrieg des türkischen Staates in Kurdistan und die Rolle der MHP, in: Fikret Aslan u.a., Graue Wölfe heulen wieder, Münster 1997, S. 115)

Nach dem Putsch von 1980 führte das Militärregime die Forderung des Internationalen Währungsfonds nach einer rückhaltlosen Öffnung der türkischen Wirtschaft durch. Der Wirtschaftsnationalismus war in den siebziger Jahren offensichtlich in eine Sackgasse geraten, die "Medizin" der internationalen Banken ließ sich jedoch mit demokratischen Mitteln nicht durchsetzen.

Mit systematischem staatlichen Terror brachen die Militärs den Arbeiterorganisationen das Rückgrat und setzten mit ihrem Wirtschaftsminister, dem verstorbenen späteren "zivilen" Ministerpräsidenten und dann Staatspräsidenten Turgut Özal, einem früheren Islamisten, eines der allseits berüchtigten "Strukturanpassungsprogramme" des IWF um: Privatisierungen, Subventionsabbau, Senkung der Reallöhne, Liberalisierung des Außenhandels, Freigabe der Preise und Zinsen, Aufhebung aller Kapitalverkehrskontrollen.

Um der daraus folgenden immer tieferen sozialen Polarisierung zu begegnen, setzten die türkischen Regierungen - militärische wie zivile - seither in unterschiedlicher Intensität und Gewichtung zum einen auf Nationalismus, Unterdrückung durch den Staat oder rechtsradikale Mordbanden, zum anderen auf weitere systematische Islamisierung. Die Militärs machten Religion wieder zum allgemeinen Pflichtunterricht an allen Schulen und ließen sogar Beträume in Schulen und Universitäten einrichten. Die staatlichen Islam-Schulen wurden Gymnasien gleichgestellt. Wer sie besucht, darf nicht nur eine geistliche Laufbahn einschlagen, sondern jedes beliebige Studienfach belegen.

Der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus liegt also ganz in der Logik des Kemalismus selbst: Unfähig, die sozialen und nationalen Probleme zu lösen, setzte er den Islam als Waffe gegen aufkommende Bewegungen der verarmten und unterdrückten Massen ein.

Viele Forderungen von Organisationen wie Tugendpartei und MHP, die eine Rückkehr zum Islam bzw. die Wiedergeburt des Osmanischen Reiches auf ihre Fahnen schreiben, ähneln in zentralen Punkten durchaus dem, was früher schon von den Kemalisten propagiert, aber nie verwirklicht worden war: Nationale Einheit und Unabhängigkeit, wirtschaftliche Entwicklung, Gemeinwohl, Symbiose von türkischem Nationalismus und Islam.

Erbakan und die MHP-Mafia als "Erben" Atatürks - wahrhaft eine böse Ironie der Geschichte.

Der Kemalismus steht heute vor den Trümmern seiner Politik. Bleibt jedoch die Frage, warum er sich trotz seiner Schwäche und Unfähigkeit, die Probleme der Türkei zu lösen, bis heute an der Macht halten konnte?

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, hier ausführlich auf die Rolle des Stalinismus einzugehen. Fest steht jedoch, daß er eine wichtige Rolle spielte, die bürgerliche Herrschaft in der Türkei zu verteidigen, indem er ein selbständiges Eingreifen der Arbeiterklasse ins politische Geschehen verhinderte und bedeutende Bevölkerungsschichten in die Arme reaktionärer Kräfte trieb.

Seit Mitte der zwanziger Jahre haben die Stalinisten behauptet, man dürfe "zunächst" nur für Demokratie und nationale Unabhängigkeit (der Türkei oder Kurdistans oder beider) kämpfen, ein sozialistisches Programm stehe nur in nebelhafter Zukunft auf der Tagesordnung. Daher könne und müsse man auf der Grundlage eines bürgerlichen Programms mit allen möglichen "fortschrittlichen" bürgerlichen Kräften zusammenarbeiten, zu denen manchmal sogar kemalistische Offiziere gezählt wurden. Daß die ganze Geschichte nicht nur der Türkei immer gerade das Gegenteil bewies, hat sie wenig gekümmert.

Manche stalinistische Organisationen bilden bis heute eine Stütze der reaktionären Gewerkschaftsbürokratie. Andere Gruppen, die sich hauptsächlich an Mao oder Che Guevara orientierten, übernahmen die Funktion, die militantesten und aufopferungsvollsten Schichten besonders aus der bäuerlichen und studentischen Jugend von der Arbeiterklasse zu isolieren und in aussichtslosen "bewaffneten Kämpfen" der Staatsmacht regelrecht vor die Flinte zu treiben.

Die meisten stalinistischen Organisationen unterstützen zudem in der einen oder anderen Form entweder den türkischen oder den kurdischen Nationalismus und beteiligen sich so trotz aller gelegentlichen Phrasen über "internationale Solidarität" an der Spaltung der Arbeiterklasse entlang nationaler Linien.

Das Scheitern aller auf dem bürgerlichen Nationalstaat basierenden Ideologien macht deutlich, daß die Arbeiter und armen Bauern aller Nationalitäten und Religionen eine neue, internationale und sozialistische Perspektive brauchen. Dies erfordert den Aufbau einer Sektion der Vierten Internationale in der Türkei wie im ganzen Nahen Osten.

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