230. Ende der 1990er Jahre gelangten in den meisten europäischen Ländern noch einmal sozialdemokratische Regierungen an die Macht. Doch deren rechter Kurs untergrub rasch das geringe Vertrauen, das sie in der Arbeiterklasse noch genossen hatten. In Deutschland verlor die SPD in den sieben Jahren der Regierung Schröder über 200.000 Mitglieder und erlitt bei sämtlichen Landtagswahlen massive Einbrüche. In Frankreich landete der sozialistische Kandidat Lionel Jospin bei der Präsidentenwahl 2002 nach fünf Regierungsjahren hinter dem faschistischen Kandidaten Jean-Marie Le Pen, während die Vertreter der radikalen Linken zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinten. Zwischen der Arbeiterklasse und den reformistischen Organisationen tat sich eine tiefe Kluft auf, die seither verschiedene kleinbürgerliche und poststalinistische Organisationen zu füllen versuchen. Diese Organisationen haben bei allen Unterschieden eines gemeinsam: Es handelt sich um bewusste Initiativen von Vertretern der herrschenden Klasse und nicht um zentristische Organisationen, die sich unter dem Druck der Massen Richtung Sozialismus bewegen. Ihre Aufgabe besteht darin, jede unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse im Keim zu ersticken.
231. Lange Zeit galt die italienische Partei Rifondazione Comunista all diesen Organisationen in Europa als Vorbild. Rifondazione war 1991 aus einem Teil der Kommunistischen Partei hervorgegangen und hatte die ganze Palette italienischer Ex-Radikaler, einschließlich der italienischen Sektion des pablistischen Vereinigten Sekretariats, in ihre Reihen aufgenommen. Während sie mit einem Bein im Lager außerparlamentarischer Protestbewegungen stand, verhalf sie schon in den 1990er Jahren diversen bürgerlichen Mittelinks-Regierungen zu parlamentarischen Mehrheiten. 2006 trat Rifondazione dann selbst in die Mittelinks-Regierung Romano Prodis ein, die mit massiven Sparmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse vorging. Das besiegelte ihren Bankrott. Die Regierung Prodi machte sich derart verhasst, dass sie in nur zwei Jahren der Rechtskoalition Silvio Berlusconis den Weg zurück an die Regierung bahnte. Rifondazione selbst verfehlte 2008 den Wiedereinzug ins Parlament und brach auseinander.
232. In Frankreich bereiteten die Pablisten ihre Integration in die Strukturen der bürgerlichen Politik vor, indem sie im Januar 2009 die 40 Jahre alte Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) auflösten und eine neue Partei gründeten, die sich ausdrücklich vom Trotzkismus distanzierte und jede Verbindung zu einer revolutionären sozialistischen Perspektive zurückwies. Sie reagierten damit auf die Wahlerfolge ihres Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot, der 2002 und 2007 jeweils über eine Million Wählerstimmen erhalten hatte. Das Programm der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) geht nicht über Reformen am kapitalistischen System im Rahmen einer neokeynesianischen Wirtschaftspolitik hinaus. Die NPA bemüht sich um ein „Linksbündnis“ mit der Kommunistischen Partei und der Linkspartei (einer Abspaltung der Sozialistischen Partei), das den diskreditierten Sozialisten zu einer neuen Regierungsmehrheit verhelfen soll. Sie ist eine wichtige Stütze der Gewerkschaftsbürokratie, die ihrerseits tief in den kapitalistischen Staat integriert ist.
233. In Deutschland schlossen sich im Sommer 2007 die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit ( WASG ) zur Partei Die Linke zusammen. Die Linkspartei vereint zwei bürokratische Apparate unter einem Dach, die beide über jahrzehntelange Erfahrung in der Bevormundung und Unterdrückung der Arbeiterklasse verfügen. Die PDS ist die Erbin der stalinistischen Staatspartei der DDR. Sie organisierte 1990 unter Hans Modrow die deutsche Einheit und übernahm anschließend, als sich die soziale Lage zuspitzte, Ordnungsfunktionen in den neuen Bundesländern. Die WASG entstand in der Endphase der Regierung Schröder. Sie wurde von langjährigen SPD – und Gewerkschaftsfunktionären gegründet, die über den Mitgliederschwund der SPD alarmiert waren. Die Initiative zum Zusammenschluss ging von Oskar Lafontaine aus, einem der erfahrensten deutschen bürgerlichen Politiker, der vorher 40 Jahre lang führende Ämter in Regierung und SPD ausgeübt hatte.
234. Kleinbürgerliche Renegaten der trotzkistischen Bewegung – wie die Sozialistische Alternative (SAV) und Marx21 – haben sich der Linkspartei angeschlossen und behaupten, sie sei der Ausgangspunkt für den Aufbau „einer kämpferischen Massenpartei mit Zehntausenden Mitgliedern“. Das ist eine groteske Täuschung. Das Programm der Linkspartei geht nirgends über den Rahmen eines bürgerlichen Reformprogramms hinaus. Sie verteidigt das kapitalistische Privateigentum und den bürgerlichen Staat und hat sich ausdrücklich hinter das Bankenrettungspaket der Bundesregierung gestellt, das den Banken Milliarden an öffentlichen Geldern zur Verfügung stellte. Wo die Linkspartei Regierungsverantwortung übernimmt, beugt sie sich dem Diktat der Finanzwelt. Exemplarisch ist der Berliner Senat, wo sie seit 2001 in einer Koalition mit der SPD einen beispiellosen Kahlschlag im öffentlichen Dienst verantwortet. Die gelegentlichen linken Phrasen der Linkspartei dienen ausschließlich dazu, eine Mobilisierung gegen soziale Missstände oder Krieg aufzufangen und sie den Bedürfnissen des deutschen Imperialismus unterzuordnen.