Ein 35-jähriger Mann hat am Dienstag in der Risbergska-Schule in der schwedischen Stadt Örebro zehn Menschen getötet, bevor er die Waffe gegen sich selbst richtete. Dieser bisher schlimmste Anschlag in der Geschichte des Landes geschah vor dem Hintergrund rapide zunehmender sozialer Ungleichheit, der Propagierung von Militarismus und Krieg sowie anhaltender Bandengewalt, befeuert durch die wachsende soziale Krise.
Der Schütze, der als Rickard Andersson identifiziert wurde, war der Polizei vorher unbekannt. In Berichten wurde er als Einzelgänger mit wenigen sozialen Kontakten beschrieben. Er lebte alleine, beschäftigte sich intensiv mit Online-Videospielen und verfügte in den letzten Jahren über kein steuerpflichtiges Einkommen. Bisher gibt es keine Informationen, die auf ein Motiv für seine mörderische Tat hindeuten. Einem nicht bestätigten Bericht zufolge hatte er sich für mehrere Mathematikkurse an der Schule angemeldet, diese aber nicht beendet. Die Kurse sollen Erwachsenen helfen, ihre Ausbildung abzuschließen.
Andersson hat seine Opfer offenbar willkürlich ausgesucht. Einer der Toten war der 28-jährige Schüler Salim Iskef, der laut dem Fernsehsender SVT geplant hatte, im Juli zu heiraten. Einige Opfer sind noch nicht öffentlich identifiziert. Bei dem Anschlag – von der Polizei als „Inferno“ bezeichnet – wurden zahlreiche Menschen verwundet. SVT berichtete, er habe eine halbautomatische Waffe benutzt und Waffenscheine für fünf Feuerwaffen besessen, von denen er drei am Tatort bei sich trug. Bei der Leiche wurden noch große Mengen von nicht benutzter Munition gefunden.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass weitere Informationen enthüllen, dass Andersson von rechtsextremen Ansichten beeinflusst wurde. Die derzeit verfügbaren Informationen deuten jedoch darauf hin, dass er ein sozial benachteiligter, desorientierter junger Mann war, der angesichts wachsender sozialer Spannungen und ununterbrochener Kriegspropaganda durchgedreht ist.
Während große Teile der Bevölkerung spürbar erschüttert sind, waren die offiziellen Stellungnahmen nichts als banale Plattitüden. Ministerpräsident Ulf Kristersson versuchte ein Bild nationaler Einheit zu vermitteln, indem er am Mittwoch gemeinsam mit dem König an einer öffentlichen Gedenkfeier in Örebro teilnahm. Kristerssons Regierungskoalition unter Führung der konservativen Partei Moderaterna ist im Parlament auf die Unterstützung der rechtsextremen Schwedendemokraten angewiesen.
Auf einer Pressekonferenz beschrieb Kristersson das Massaker als „den schlimmsten Amoklauf in der Geschichte Schwedens. ... Es ist schwer, das Ausmaß dessen zu begreifen, was heute geschehen ist. An diesem Abend hängt Dunkelheit über Schweden. ... Was nicht passieren darf, ist jetzt in Schweden passiert.“
Jede ernsthafte Erklärung für Anderssons schreckliche Tat muss den dramatischen sozialen Niedergang in Schweden berücksichtigen. In den letzten 30 Jahren hat sich Schweden von einem Land mit einem der größten Wohlfahrtsstaaten der Welt in eine von sozialer Ungleichheit, Armut und Arbeitslosigkeit zerrissene Gesellschaft verwandelt. Während sozialdemokratische Politiker Schweden früher als Beweis dafür angeführt haben, dass die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus reformiert werden können, ist Schweden heute zum Synonym für Wirtschaftsderegulierung, fremdenfeindliche Hetze, Law-and-Order-Politik und Kriegsaufrüstung geworden.
Dafür waren überwiegend sozialdemokratisch geführte Regierungen verantwortlich, die nach der Wirtschaftskrise der frühen 1990er Jahre begannen, die Sozialausgaben systematisch zu kürzen und öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren. Schwedens national regulierter Arbeitsmarkt, der auf dem Co-Management von Arbeitgebern und Gewerkschaften basierte, wurde angesichts des Drucks durch die globalisierte Produktion aufgegeben. Die sozialdemokratisch geführte Regierung von 1994 bis 2006, die auch von den Grünen und der ex-stalinistischen Linkspartei unterstützt wurde, ebnete mit ihrem Kurs der rechten Allianz-Regierung den Weg, die ab 2006 Schwedens größte Privatisierungswelle begann.
Die ehemaligen Economist-Redakteure John Micklewait und Adrian Woolridge fassten im Jahr 2014 in ihrem Buch The Fourth Revolution (Die vierte Revolution) Schwedens Verwandlung in ein Paradies der freien Marktwirtschaft zusammen: „In den Straßen von Stockholm fließt das Blut der heiligen Kühe. Die lokalen Denkfabriken quellen über vor frischen Ideen über Wohlfahrtsunternehmer und schlankes Management. In der Tat hat Schweden die meisten Dinge getan, von denen Politiker wissen, dass sie sie tun sollten, aber selten den Mut haben, sie zu versuchen.“
Während die öffentlichen Dienstleistungen immer weiter ausgehöhlt wurden und die soziale Ungleichheit zunahm, suchte das gesamte politische Establishment nach einem Sündenbock für den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang. Stefan Löfvens sozialdemokratische Regierung verwandelte Schwedens offenes Einwanderungs- und Asylsystem ab 2014 zum restriktivsten in Europa.
Alle großen Parteien machen Ausländer für die steigende Arbeitslosigkeit, Bandengewalt und andere gesellschaftliche Missstände verantwortlich, um von den wahren Schuldigen abzulenken: den Parteien, die Sparmaßnahmen und Kürzungen umgesetzt haben, und den Kapitalisten, die Profite eingefahren und sich bereichert haben, indem sie die öffentlichen Gelder in die eigenen Taschen umleiteten.
Zu diesem Zweck haben alle Parteien die rechtsextremen Schwedendemokraten gefördert, deren Wurzeln in der Neonazi-Bewegung der 1980er Jahre liegen. Die Sozialdemokraten und ihre Partner, die Grünen und die Linkspartei, sowie traditionelle rechte Parteien wie Kristerssons Moderaterna haben viele der ausländerfeindlichen Forderungen der Schwedendemokraten übernommen und dadurch mitgeholfen, die extreme Rechte so stark zu machen, dass sie in den Koalitionsverhandlungen nach den Wahlen von 2022 zum Königsmacher wurde.
Das explosionsartige Anwachsen der sozialen Ungleichheit ist umfassend dokumentiert. Laut dem Global Wealth Report von Credit Suisse und UBS von 2023 besitzen die reichsten zehn Prozent der schwedischen Bevölkerung 74,4 Prozent des Vermögens, womit Schweden das Land mit der größten Ungleichheit bei der Vermögensverteilung in Europa ist. Ein wichtiger Faktor dabei war die Finanzialisierung der Wirtschaft, von der die Reichen mit Zugang zu Investitionen unverhältnismäßig stark profitieren.
Laut Statista sind 16 Prozent der schwedischen Bevölkerung armutsgefährdet – der höchste Wert aller nordischen Staaten. Die anderen liegen zwischen acht und 12,7 Prozent. Im globalen Oxfam-Index für das Engagement zur Verringerung der Ungleichheit liegt Schweden auf Platz 20 und damit unter allen anderen nordischen Staaten.
Die medizinische Fachzeitschrift The Lancet erklärte im März 2023 in einem Artikel: „Es ist eine gut fundierte Tatsache, dass wirtschaftliche Ungleichheit zu einer Zunahme von Gewalt, Verbrechen, Armut und gesundheitlicher Ungleichheit führt, die sich über Generationen hinweg auswirken können.“ Daher hat die Waffenkriminalität in Schweden dramatisch zugenommen: Im Jahr 2000 war Schweden das europäische Land mit der niedrigsten Rate an Waffengewalt in Europa, heute ist es das Land mit der höchsten Zahl von Toten durch Schusswaffen pro Kopf der Bevölkerung.
Obwohl die meisten Fälle von Waffenkriminalität im Zusammenhang mit Bandengewalt stehen, ist die gesamte Bevölkerung davon betroffen. Im Jahr 2023 wurden bei 363 Schießereien 55 Menschen getötet – in einem Land mit nur zehn Millionen Einwohnern.
Die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen von breiten Teilen der Bevölkerung ist mit Schwedens Militarisierung und der Entwicklung zu einem Frontstaat in dem vom Imperialismus geführten Krieg gegen Russland verknüpft. Nachdem Schweden seine lange propagierte „Neutralität“ aufgegeben hat, gehört es heute der Nato an und leistet der Ukraine umfangreiche militärische Unterstützung im Nato-Stellvertreterkrieg gegen Russland.
Schweden hat 2017 die Wehrpflicht wieder eingeführt und sich 2022 verpflichtet seine Militärausgaben bis 2028 um über 60 Prozent zu erhöhen. Die immensen Mittel, die für den Krieg benötigt werden, sollen durch Lohnsenkungen, die Zerstörung der öffentlichen Dienstleistungen und Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen aus der Arbeiterklasse herausgepresst werden.
Neben den finanziellen Auswirkungen der Militarisierung bringt auch die allgegenwärtige, von Politik und Medien geschürte Kriegspropaganda die brutale Gewalt in alle Bereiche des täglichen Lebens. Das öffentliche Auftreten der Armee mit Militärübungen unter Führung der USA in Stockholm und die Rekrutierungskampagnen des Militärs haben stark zugenommen. Letzten November hat die schwedische Regierung an alle Haushalte eine Informationsbroschüre geschickt, in der die Leser darüber informiert wurden, wie sie im Falle eines Kriegs bis zu einer Woche überleben können.
Dass ein offensichtlich isolierter und zutiefst desorientierter Mensch eine blutige Gewalttat verübt, ist unter diesen Umständen letztlich nicht überraschend. Leider stellt sich nicht die Frage, ob, sondern wann der nächste Ausbruch soziopathischer Gewalt stattfindet. Weitere Amokläufe mit vielen Toten und andere Taten, die den barbarischen Charakter der Gesellschaft offenbaren, können nur verhindert werden, wenn die Arbeiterklasse für den Sozialismus kämpft und den Kapitalismus und die von ihm verursachten sozialen Missstände beseitigt.