Perspektive

„The Lancet“-Studie: Israelische Kugeln und Bomben haben wahrscheinlich über 60.000 Palästinenser in Gaza getötet

Aufsteigender Rauch und Explosionen im Gaza-Streifen, Blick vom Süden Israels, 17. März 2024 [AP Photo/Ariel Schalit]

Eine maßgebende Studie von Forschern der London School of Hygiene & Tropical Medicine, die letzte Woche in The Lancet veröffentlicht wurde, schätzt, dass die offizielle Zahl der Todesopfer des Völkermords im Gazastreifen die Zahl der durch israelische Angriffe zwischen Oktober 2023 und Juni 2024 getöteten Menschen um 41 Prozent unterschätzt.

Nach offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza wurden seit Beginn des Völkermords im Oktober 2023 über 46.000 Menschen durch israelische Kugeln und Bomben getötet. Sollte sich die in der neuen Studie ermittelte höhere Todesrate bis heute halten, würde dies bedeuten, dass die Zahl der seit Oktober 2023 von israelischen Streitkräften getöteten Menschen bei über 64.000 liegt, was 2,9 Prozent der Vorkriegsbevölkerung des Gazastreifens entspricht.

Milliarden Menschen auf der ganzen Welt waren zu Recht schockiert über die Waldbrände in Los Angeles, die mehr als 12.000 Häuser, Geschäfte, Schulen und andere Gebäude zerstört haben und 24 Todesopfer forderten. Gavin Newsom, Gouverneur von Kalifornien, erklärte, dass dies gemessen an den Kosten die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte der USA sein könnte. Doch die Zahl der Todesopfer des Völkermords im Gazastreifen – einer winzigen und belagerten Enklave, nicht in eine der reichsten Städte der Welt – ist tausende Male höher und verursacht durch vorsätzliches menschliches – oder besser unmenschliches – Handeln.

Die Studie ergab, dass 59 Prozent der Opfer Frauen, Kinder oder Menschen über 65 Jahre alt waren. Diese Ergebnisse bestätigen die unbestreitbare Tatsache, dass das systematische Massaker an der Bevölkerung von Gaza durch die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) – unterstützt und gefördert durch die USA und andere imperialistische Mächte – ein Völkermord ist.

Doch selbst diese entsetzliche Zahl der Todesopfer, die in der Studie der London School of Hygiene aufgedeckt wird, stellt in mehrfacher Hinsicht eine erhebliche Unterschätzung dar. Erstens sind, wie die Autoren klarstellen, in der Studie diejenigen nicht berücksichtigt, die noch immer unter den Trümmern begraben sind und als tot gelten, eine Zahl, die vom UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) auf etwa 10.000 geschätzt wird.

Ebenso wenig berücksichtigt die Studie die Auswirkungen von Hunger, Dehydrierung und der Ausbreitung von Infektionskrankheiten, die durch die bewussten Bemühungen der israelischen Regierung gefördert werden, dem Gazastreifen Nahrungsmittel vorzuenthalten und systematisch die Krankenhäuser zu zerstören.

Die letzte Woche veröffentlichte Studie verwendet eine äußerst detaillierte und feinabgestimmte statistische Methode, um die Zahl der Todesopfer zu schätzen. In der Studie wurden Daten aus drei Quellen zusammengeführt: Das Sterberegister des Gesundheitsministeriums, eine vom Ministerium durchgeführte Online-Umfrage und Nachrufe in sozialen Medien.

Eine Methode, die als Capture-Recapture-Analyse bekannt ist, wurde verwendet, um Überschneidungen und Lücken zwischen den Datensätzen zu identifizieren. Dies ermöglichte es den Forschern, Todesfälle zu berücksichtigen, die von keiner einzigen Quelle erfasst wurden. Fehlende Daten wurden durch statistische Modellierung berücksichtigt, und es wurden verschiedene Szenarien getestet, um die Genauigkeit zu verbessern.

Bisher wurde keine Studie mit ähnlicher Exaktheit oder Stringenz durchgeführt, um die Gesamtzahl der Todesfälle zu schätzen, einschließlich der Todesfälle durch Hunger und übertragbare Krankheiten, und eine solche Studie ist möglicherweise nicht einmal möglich. Die Autoren der Studie erklären: „Obwohl eine Erhebung vor Ort zuverlässige Schätzungen liefern könnte, ist sie aufgrund der äußerst unsicheren Bedingungen für die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und des Gesundheitswesens im Gazastreifen und der Zugangsbeschränkungen derzeit nicht durchführbar.“

In einem im Juli in The Lancet veröffentlichten Artikel wurde auf der Grundlage der Auswirkungen früherer Kriege geschätzt, dass die Zahl der Todesopfer im Zusammenhang mit dem Völkermord 186.000 oder mehr betragen könnte.

Es ist durchaus möglich, dass angesichts der erheblichen Unterschätzung der gewaltsamen Todesfälle, die durch die jüngste Studie aufgedeckt wurde, die frühere Zahl von 186.000 Todesfällen aus allen Ursachen selbst eine erhebliche Unterschätzung darstellt.

Die offizielle Position der Biden-Regierung ist, dass die Zahl der Todesopfer in Gaza das Nebenprodukt von Israels Krieg gegen eine bewaffnete Widerstandsgruppe sei. Die jüngste Studie unterstreicht jedoch, dass die Zahl der Toten das Ergebnis einer gezielten Kampagne ist, so viele Zivilisten wie möglich zu töten, um den Widerstand der palästinensischen Bevölkerung gegen die illegale israelische Besatzung des Gazastreifens zu brechen. Es handelt sich nicht um einen Krieg gegen eine bewaffnete Gruppe, sondern um einen Völkermord an der gesamten Bevölkerung.

Letzten Monat berichtete die New York Times über die Existenz offizieller israelischer Militärdokumente, die die Tötung von 20 Nichtkombattanten bei jedem Angriff auf einen einzigen mutmaßlichen Hamas-Anhänger genehmigen, wobei das Verhältnis in einigen Fällen bis zu 100 zu eins beträgt. „Bei jedem Angriff, so der Befehl, hatten die Offiziere die Befugnis, die Tötung von bis zu 20 Zivilisten zu riskieren“, schrieb die Times.

Der Bericht der Times hat deutlich gemacht, dass das „System“ zur Ermordung mutmaßlicher Hamas-Sympathisanten nichts weiter als ein Deckmantel für die flächendeckende Bombardierung des Gazastreifens mit Blockbuster-Bomben war, mit dem Ziel, so viele Menschen wie möglich zu töten und so viel wie möglich von Gaza zu zerstören.

Anfang Dezember veröffentlichte Amnesty International einen ausführlichen 296-seitigen Bericht, in dem es heißt, dass „nur die Absicht, die Palästinenser in Gaza zu zerstören“, „das Ausmaß und den Umfang“ des Massenmords, der gewaltsamen Vertreibung und des vorsätzlichen Aushungerns der Palästinenser in Gaza durch Israel erklären kann.

Am 27. November erließ der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant. Den beiden Männern werden „das Kriegsverbrechen des Aushungerns als Methode der Kriegsführung und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Mord, Verfolgung und anderen unmenschlichen Handlungen“ vorgeworfen.

Am Montag, in der letzten außenpolitischen Rede seiner Präsidentschaft, freute sich US-Präsident Joe Biden, dass „Israel dem Iran und seinen Stellvertretern viel Schaden zugefügt hat“ und dass, was die Vereinigten Staaten betrifft, „unsere Aktionen einen wichtigen Beitrag geleistet haben“. Das Vermächtnis seiner Präsidentschaft zusammenfassend, erklärte Biden: „Wir haben Amerikas Macht in jeder Dimension gestärkt“, und fügte hinzu: „Wir haben unsere militärische Macht gestärkt.“ Er schloss mit den Worten: „Unsere Quellen nationaler Macht sind viel stärker als bei unserem Amtsantritt.“

In einem Telefonat mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu am Wochenende rühmte Biden die „grundlegend veränderten regionalen Umstände“ im gesamten Nahen Osten, „den Sturz des Assad-Regimes in Syrien und die Schwächung der Macht des Irans in der Region.“

Der Völkermord im Gazastreifen ist ein wesentlicher Bestandteil der Bestrebungen der USA, die „Macht“ des US-Imperialismus im Nahen Osten zu vergrößern. Die Biden-Regierung verfolgt die Endlösung der palästinensischen Frage, das Bestreben, den Widerstand des palästinensischen Volkes vollständig zu brechen, um zu schaffen, was die nationale Sicherheitsberaterin der Bush-Regierung Condoleezza Rice den „Neuen Nahen Osten“ getauft hat - ein Begriff, den der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu wiederholt verwendet hat, um das Ziel des die ganze Region umfassenden Krieges zu beschreiben, den er im Namen der imperialistischen Mächte führt.

In nur sechs Tagen wird US-Präsident Donald Trump sein Amt antreten. In einer Pressekonferenz letzte Woche versprach Trump, dass im Nahen Osten „die Hölle los sein wird“, wenn die Hamas sich nicht den Forderungen Israels beugt. Vizepräsident J.D. Vance versprach, „die Israelis in die Lage zu versetzen, die letzten paar Bataillone der Hamas und ihre Führung auszuschalten“.

Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich hat auf die Wahl Trumps reagiert, indem er Vorbereitungen für die Annexion des Westjordanlandes anordnete und damit drohte, das Westjordanland wie Gaza aussehen zu lassen.

Alle Fraktionen des amerikanischen politischen Establishments, von der blutgetränkten Biden-Regierung bis hin zu Trump und seiner Bande von Faschisten, sind der Normalisierung von Völkermord und neokolonialer Annexion verpflichtet. Sie betrachten das andauernde Massaker an den Palästinensern nicht als Ausnahme, die sich niemals wiederholen darf, sondern als Modell, das auf alle rebellischen Völker im In- und Ausland angewendet werden soll.

Während sich Trump auf seinen Amtsantritt vorbereitet, muss der Kampf gegen den Völkermord in Gaza verstärkt und in einen Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung umgewandelt werden, von der das Gemetzel in Palästina nur eine grausame Erscheinungsform ist.