Kurz nachdem Vizepräsidentin Kamala Harris am 6. November ihre Niederlage im Rennen um die Präsidentschaft gegen Donald Trump eingestanden hatte, veröffentlichte Senator Bernie Sanders, ein getreuer Wahlkämpfer für Harris, auf seinen Social-Media-Accounts eine Erklärung, in der er den Demokraten vorwarf, „die Arbeiterklasse im Stich zu lassen“.
Bislang wurde Sanders’ Erklärung auf X mehr als 35 Millionen Mal aufgerufen, und in der kapitalistische Presse wurde ausführlich darüber berichtet. Der Senator aus Vermont schrieb:
Es dürfte keine große Überraschung sein, dass die Demokratische Partei, nachdem sie die Arbeiterklasse im Stich gelassen hat, feststellen muss, dass die Arbeiterklasse nun sie in Stich gelassen hat. Erst waren es die weißen Arbeiter, jetzt sind es auch die lateinamerikanischen und schwarzen Arbeiter. Während die Führung der Demokraten den Status quo verteidigt, ist die amerikanische Bevölkerung wütend und will Veränderungen. Und sie hat Recht.
Es kommt noch weitaus schlimmer, doch bereits dieser erste Absatz ist eine vernichtende Selbstentlarvung der politischen Rolle von Sanders. Als Erstes drängt sich die Frage auf: Wann kam Sanders diese Erleuchtung? Wann erkannte er, dass die Demokraten, eine Partei der amerikanischen Konzerne und des Pentagons, für deren Fraktion er arbeitet und für die er fast vier Jahrzehnte lang Wahlkampf gemacht hat, „die Arbeiterklasse im Stich gelassen“ hat?
Tatsächlich waren die Demokraten – die Partei der Sklavenhalter-Aristokratie, der Rassentrennung, von Jim Crow sowie von Hiroshima und Nagasaki und des Vietnamkriegs – nie eine Partei der Arbeiterklasse. Sie war immer eine kapitalistische Partei und wird nie etwas anderes sein. Wie die World Socialist Web Site immer wieder erklärt hat, besteht Sanders’ politische Rolle darin, seine Stellung als nominell „unabhängiger“ Senator zu nutzen, um den Demokraten einen Anschein von Glaubwürdigkeit zu verleihen und damit den Widerstand gegen das ganze kapitalistische System in Schach zu halten.
Doch wie Sanders’ Erklärung und das Wahlergebnis vom 5. November deutlich machen, fällt diese Fassade rapide in sich zusammen.
Sanders spricht in seiner Erklärung von einer „Führung der Demokraten“, die den „Status quo verteidigt“. Welche Rolle hat Sanders selbst in diesem Prozess gespielt? Im Verlauf des letzten Jahres hat der Senator aus Vermont im Fernsehen, in den sozialen Medien und in der Presse Arbeiter und Jugendliche, die über die unaufhörlichen Kriege, die zunehmende Ungleichheit und Inflation empört waren, dazu gedrängt, zuerst Joe Biden und dann Kamala Harris bei den Präsidentschaftswahlen zu unterstützen.
Am 13. Juli veröffentlichte er eine Stellungnahme in der New York Times, in der er die Wähler zur Unterstützung Bidens aufrief und behauptete, dieser habe eine „hervorragende Bilanz“ vorzuweisen. Die Wähler waren offensichtlich anderer Meinung. Zu dieser Bilanz gehört, dass Sanders und die Demokraten den Streik der Eisenbahner im Jahr 2022 verboten und mit Arbeitsministerin Julie Su zusammengearbeitet haben, um wichtige Klassenkämpfe der Hafenarbeiter und in der Luft- und Raumfahrtindustrie zu zerschlagen, zuletzt bei Boeing.
Den ganzen Sommer über, als Bidens Umfragewerte weiter einbrachen und in Gaza und der Ukraine Massengräber ausgehoben wurden, verteidigte Sanders den halbsenilen Kriegsverbrecher als Kämpfer für die Arbeiterklasse. Selbst nach Bidens Ausscheiden aus dem Präsidentschaftsrennen lobte Sanders seine Leistungen in einem Interview mit dem Vermont Public Radio am 1. August 2024:
In Wirklichkeit war Präsident Biden, was die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung angeht… wahrscheinlich der progressivste Präsident unseres Landes seit Franklin Delano Roosevelt in den 1930er-Jahren.
Auf dem Parteitag der Demokraten erklärte Sanders, Harris würde die Nachfolge von Biden antreten und seine Arbeit fortsetzen, indem sie auf dessen Errungenschaften aufbaut. Er behauptete erneut, Biden hätte mehr erreicht „als jede andere Regierung seit Roosevelt“.
Nirgendwo in seiner Erklärung geht Sanders auf seine eigene Rolle als Unterstützer des „Status quo“ ein. Dieses Versäumnis ist kein Fehler. Sanders verschleiert, dass er durch seine heuchlerische Unterstützung der Demokraten dazu beigetragen hat, die Bedingungen für Trumps Sieg zu schaffen.
In seiner Erklärung weist Sanders darauf hin, dass Arbeiter und ihre Familien seit 50 Jahren mit sinkenden Löhnen zu kämpfen haben, und beklagt: „Wir finanzieren den Krieg der extremistischen Netanjahu-Regierung gegen das palästinensische Volk, der zu der schrecklichen humanitären Katastrophe mit massenhafter Unterernährung und dem Hungertod von Tausenden von Kindern geführt hat, weiterhin mit Milliarden Dollar.“
Dass sich Sanders weigert, das seit mehr als einem Jahr andauernde Massaker in Gaza als Völkermord zu bezeichnen und ausschließlich Netanjahu dafür verantwortlich macht, ist typisch dafür, wie er „den Status quo verteidigt“. Der Völkermord in Gaza ist nicht einfach eine schlechte Entscheidung Netanjahus und einiger seiner engen Berater, sondern eine von der US-Regierung betriebene imperialistische Politik, die von Israel ausgeführt wird. Die USA haben diesen „unsinkbaren Flugzeugträger“, wie Biden Israel nannte, seit mehr als 76 Jahren militärisch, wirtschaftlich und politisch unterstützt, um ihre geopolitischen Interessen in der Region durchzusetzen.
Massive Militärausgaben im Ausland, von denen Sanders viele unterstützt hat, können nur durch verschärfte Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse bezahlt werden. Das ignorierte Sanders und rief seine Anhänger eine Woche vor der Wahl auf, Harris zu unterstützen, obwohl sie angekündigt hatte, den Völkermord in Gaza fortzusetzen. Die Begründung von Sanders lautet: „Trump und seine rechten Freunde sind schlimmer.“
Die Politik des Pragmatismus, das „kleinere Übel“ zu wählen, und die Unterordnung jeglichen Widerstands gegen Faschismus, Völkermord und Ungleichheit unter die Demokratische Partei ist gerade der Grund für die Rückkehr Trumps an die Macht. Sanders und verschiedene pseudolinke Organisationen, die ihn unterstützt haben, darunter die Democratic Socialists of America, haben in diesem Prozess eine wichtige Rolle gespielt.
Sanders wurde erstmals 1990 ins Repräsentantenhaus gewählt und stimmte in acht Legislaturperioden in 98 Prozent der Fälle mit den Demokraten. Er tat dies auch, als der damalige Präsident Bill Clinton begann, „dem Sozialstaat, wie wir ihn kennen, ein Ende zu setzen“ und eine „Mauer“ an der Grenze der USA zu Mexiko zu errichten. Während Clintons Präsidentschaft unterstützte Sanders die Bombardierung Serbiens 1999 und unter George W. Bush die Invasion in Afghanistan 2001.
Nach acht Legislaturperioden im Repräsentantenhaus wurde Sanders bei seiner Kandidatur für den Senat 2005 und 2006 vom Establishment der Demokraten unterstützt. Zu den Unterstützern des „unabhängigen“ Senators gehörten der New Yorker Senator Chuck Schumer, auch als „Senator der Wall Street“ bekannt, und der damalige Senator Barack Obama.
Nachdem Obama und die Demokraten in den Jahren 2008 und 2009 die Banken mit Steuergeldern gerettet hatten, während Millionen Menschen aus ihren Häusern geworfen wurden, kandidierte Sanders bei den Vorwahlen der Demokraten 2016 für das Präsidentenamt. Die Demokraten taten alles in ihrer Macht Stehende, um die Unterstützung für Sanders zu unterdrücken – er wurde als Kommunist verleumdet und seine Anhänger als Frauenhasser, weil sie die bereits beschlossene Nominierung Clintons nicht unterstützten. Dennoch gewann Sanders in den Vorwahlen mit seinen Versprechen, sich gegen die „Milliardärsklasse“ zu stellen, Millionen von Stimmen.
Obwohl Hillary Clinton seit Jahrzehnten eine Kriegsverbrecherin und leidenschaftliche Verteidigerin der Finanzoligarchie war, blies Sanders schließlich seine „politische Revolution“ ab und rief seine Anhänger auf, Clinton zu unterstützen, die er als progressive Verbündete aller arbeitenden Menschen darstellte.
Im Jahr 2020 verlief es ähnlich. Zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren mobilisierte Sanders mit seinen Aufrufen zur „politischen Revolution“ und dem Schwerpunkt auf soziale Ungleichheit eine große Anhängerschaft unter Arbeitern und Jugendlichen. Als er an Boden gewann, griffen ihn führende Demokraten und die Presse als Agenten Russlands an, der sich nicht für die Verteidigung die Interessen des US-Imperialismus im Ausland einsetze.
Als Reaktion auf diese Angriffe rückte Sanders weit nach rechts und versprach, falls notwendig Krieg gegen Russland, den Iran und Nordkorea zu führen, um „unsere Verbündeten“ und die Nato zu verteidigen. Schließlich zog er seine Kandidatur zurück und unterstützte Biden.
Im Jahr 2024 kandidierte Sanders nicht für das Präsidentenamt, sondern diente gemeinsam mit der New Yorker Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez als Bidens wichtigster Wahlhelfer. Selbst nach Bidens katastrophaler Debatte mit Trump bekräftigten Ocasio-Cortez und Sanders ihre Unterstützung. Sanders trat sogar in der Late Show mit Stephen Colbert auf, um einmal mehr zu behaupten, Biden sei „der stärkste, fortschrittlichste Präsident während meiner Lebenszeit“ gewesen.
Bis zum Wahlabend bezeichnete Sanders wiederholt Biden als den „progressivsten, arbeiterfreundlichsten Präsidenten seit Roosevelt“.
Zum Schluss seiner Erklärung schreibt Sanders: „In den kommenden Wochen und Monaten müssen diejenigen, denen an Basisdemokratie und wirtschaftlicher Gerechtigkeit liegt, einige sehr ernsthafte politische Diskussionen führen. Bleiben Sie dran.“
Der Präsidentschaftskandidat der Socialist Equality Party, Joseph Kishore, erklärte auf X:
Sanders versucht, als Kritiker zu manövrieren, seine eigene lange und üble Rolle zu vertuschen und die Demokratische Partei zu decken. Jede von ihm gegründete Initiative wird darauf abzielen, das kapitalistische Zwei-Parteien-System zu erhalten.
Trumps Wahlsieg ist eine ernsthafte Gefahr für die Arbeiter in den USA und auf der ganzen Welt. Er vertritt mit seiner Agenda Teile der Wirtschafts- und Finanzoligarchie, die entschlossen sind, ihre Interessen mit eiserner Faust durchzusetzen.
Die Demokraten tragen die politische Hauptverantwortung für Trumps Sieg. Als Partei der Wall Street und des Imperialismus haben sie die Bedingungen geschaffen, unter denen Trump und die Republikaner die sozialen Missstände ausnutzen konnten. Jetzt arbeiten sie daran, den Widerstand zu demobilisieren und Trumps Pläne zu verschleiern.
Sanders hat in der bürgerlichen Politik durchgehend eine entscheidende Rolle gespielt. Allerdings geht es nicht nur um seine persönliche Rolle, sondern um eine Politik in den USA und der Welt, mit der versucht wird, die soziale Wut zu kanalisieren, das kapitalistische System zu erhalten und zu verteidigen und die Entstehung einer Bewegung zu verhindern, die die wahren Interessen der Arbeiterklasse artikuliert. Wie der Aufstieg Trumps zeigt, stärkt diese Art von opportunistischer Politik nur die extreme Rechte.