Perspektive

Amerikanische Historiker veröffentlichen politisch bankrotte und intellektuell unehrliche Wahlempfehlung für Kamala Harris

Kurz vor dem Wahltermin hat eine Gruppe amerikanischer Historiker dazu aufgerufen, für Kamala Harris zu stimmen. Verfasst wurde der Appell von acht Historikern – Kai Bird, Sidney Blumenthal, Ken Burns (vor allem als Dokumentarfilmer bekannt), Ron Chernow, Beverly Gage, Eddie Glaude, Jon Meacham und Sean Wilentz. Zahlreiche weitere Wissenschaftler haben ihn unterzeichnet.

Die Präsidentschaftskandidatin der Demokratischen Partei und amtierende US-Vizepräsidentin Kamala Harris bei einem Wahlkampfauftritt in Pennsylvania, 4. November 2024 [AP Photo/Susan Walsh]

Der Wahlaufruf ist ein schauderhaftes Dokument – er offenbart sowohl den politischen Bankrott des amerikanischen Liberalismus als auch die erbärmliche Rolle seiner intellektuellen Vertreter, die sich der Unterstützung der Demokratischen Partei verschrieben haben.

Die Erklärung beschränkt sich nicht darauf, zur Wahl von Harris als „kleinerem Übel“ aufzurufen. Ein Appell, der sich auf dieses Argument stützt, wäre zwar politisch falsch, würde aber zumindest eine gewisse Distanz der Unterzeichner zu den Verbrechen der Regierung Biden-Harris zum Ausdruck bringen. Doch ganz im Gegenteil: Harris wird als Heldin der Demokratie gepriesen, die mit scharfem Schwert gegen Trump, den Leibhaftigen, zu Felde zieht.

Wenn man den Text liest, fällt es einem schwer zu glauben, dass seine Verfasser und Unterzeichner irgendetwas über amerikanische Geschichte wissen – geschweige denn, dass sie mit dem gegenwärtigen Zustand der amerikanischen Gesellschaft vertraut wären. Es heißt darin:

Seit 1789 gedeiht die Nation unter einer Verfassung, die der Sicherung des Gemeinwohls gewidmet ist, unter einer nationalen Regierung, die an die Rechtsstaatlichkeit gebunden ist und in der kein Interesse und keine Person absolute Macht besitzt. Im Jahr 1860 versuchte eine Elite, die sich der Versklavung von Menschen verschrieben hatte, die Union zu zerschlagen, anstatt sich der verfassungsmäßigen Herrschaft des Rechts zu beugen und das Wahlergebnis zu akzeptieren. So wurde die Nation in einen Bürgerkrieg gestürzt.

Diese Darstellung beruht nicht auf Geschichtswissenschaft, sondern auf einem Mythos. Sie stellt Trumps reaktionärem Schlachtruf „Make America Great Again“ das inbrünstige Flehen „Keep America Great“ entgegen. Viele der Unterzeichner haben Bücher verfasst, in denen die Unzulänglichkeiten der ursprünglichen Verfassung thematisiert werden und aufgezeigt wird, dass die Sklavenhalter des Südens deshalb behaupten konnten, dass Lincoln gegen die Verfassung verstoßen habe, weil der Frage der Sklaverei ausgewichen worden war. Die eigentliche politische und moralische Grundlage des Standpunkts der Union entsprang nicht einer engen Auslegung der Verfassung, sondern beruhte auf den in der Unabhängigkeitserklärung aufgestellten Grundsätzen. Abgesehen von diesem wesentlichen historischen Punkt ist die Behauptung der Historiker, die Nation gedeihe „unter einer Verfassung, die der Sicherung des Gemeinwohls gewidmet ist“, der reinste patriotische Unsinn und nicht glaubwürdiger als die Behauptung, dass George Washington einen Silberdollar über den Potomac geworfen habe und dass die Gründerväter nie gelogen hätten.

Alle grundlegenden und wesentlichen demokratischen Rechte, die formell gesetzlich verankert sind, gehen auf Änderungen an der ursprünglichen Verfassung zurück. Die Verfassung, wie sie in den 72 Jahren von 1789 bis 1861 bestand, schützte die Sklaverei – eine Tatsache, die den Kampf für die Abschaffung der Sklaverei schwächte und bisweilen sogar lähmte. Schließlich musste der Norden, angeführt von Lincoln und den radikalen Republikanern, einen revolutionären Krieg gegen die Sklavenhalter führen. Um die Ergebnisse des militärischen Kampfes rechtlich abzusichern, mussten außerdem drei Verfassungsänderungen – der dreizehnte, vierzehnte und fünfzehnte Verfassungszusatz – verabschiedet werden.

Des Weiteren stellt sich die Frage: Auf welche „Nation“ und welches „Gemeinwohl“ beziehen sich die Historiker?

In den blutigen Nachwehen des Bürgerkriegs schlossen der Wohlstand und das „Gemeinwohl“, wie sie von unseren vergesslichen Historikern gepriesen werden, weder die ehemaligen Sklaven ein, die der Rache und Unterdrückung ihrer ehemaligen Herren ausgesetzt waren, noch die amerikanischen Ureinwohner, die Opfer eines von der US-Regierung sanktionierten Völkermords wurden.

Unter den Unterzeichnern befindet sich eine ganze Reihe von Historikern der Arbeiterbewegung. Doch die brutale, von extremer Gewalt begleitete Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die herrschende Kapitalistenklasse in den 70 Jahren nach dem Bürgerkrieg scheint ihnen nun entfallen zu sein.

Kurz gesagt, die Beschwörung der Geschichte der Vereinigten Staaten als Triumphzug der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des American Way – bevor Trump die Bühne betrat – ist eine Fälschung.

Die Unterzeichner verurteilen Trumps Ablehnung der „verfassungsmäßigen Gepflogenheiten“ und der „Rechtsstaatlichkeit“. Diese Feststellung ist wahr, aber sie ignoriert die Tatsache, dass es für Trumps Verachtung gegenüber demokratischen Prinzipien und „Rechtsstaatlichkeit“ zahlreiche Präzedenzfälle im Verhalten früherer Regierungen gibt, sowohl der Republikaner als auch der Demokraten. Die Obama-Regierung institutionalisierte den Einsatz gezielter Tötungen und schreckte auch vor außergerichtlichen Hinrichtungen US-amerikanischer Bürger nicht zurück. Im vergangenen Jahr hat die Regierung Biden-Harris bei der Finanzierung und Bewaffnung des völkermörderischen Krieges, den Israel gegen die Bevölkerung von Gaza führt, systematisch wesentliche Grundsätze des Völkerrechts missachtet und verletzt.

Die Historiker warnen vor Trumps Plänen, diejenigen einzuschüchtern, strafrechtlich zu verfolgen und zu inhaftieren, die von ihm als „Feinde im Innern“ bezeichnet werden. Aber mit einem solchen Vorgehen würde Trump an die Verletzungen demokratischer Rechte anknüpfen, die jede Regierung in den letzten 85 Jahren begangen hat, darunter die Inhaftierung von Trotzkisten aufgrund erfundener Anklagen wegen Aufwiegelung während des Zweiten Weltkriegs, die spätere Verfolgung von Mitgliedern der Kommunistischen Partei unter dem Smith Act, die Hinrichtung der Rosenbergs, die Schwarzen Listen in Hollywood und zahllose andere Verstöße gegen den ersten Verfassungszusatz.

Die Historiker haben das letzte Vierteljahrhundert offenbar mit Schlafwandeln verbracht. Die massiven Verletzungen demokratischer Rechte im Zusammenhang mit dem verbrecherischen „Krieg gegen den Terror“ – legitimiert und geführt auf der Grundlage kolossaler Lügen durch die Regierungen von Republikanern und Demokraten – sind unbemerkt an ihnen vorbeigegangen.

Der Aufruf lobt Kamala Harris in den höchsten Tönen und versteigt sich dabei zu äußerster politischer Verlogenheit. Die Historiker hätten ihren Lesern raten können, sich die Nase zuzuhalten, wenn sie Harris ihre Stimme geben. Aber es reichte ihnen nicht, für gewöhnlichen politischen Opportunismus einzutreten. Sie entschieden sich für hemmungslose politische Kriecherei. Im Stil unterwürfiger Höflinge verkünden sie:

Kamala Harris hat ihr Leben der Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gewidmet. Als Staatsanwältin und Generalstaatsanwältin von Kalifornien vertrat sie das Recht furchtlos und unvoreingenommen. Als US-Senatorin trat sie denjenigen entgegen, die den böswilligen Missbrauch von Autorität unterstützen und fördern. Als Vizepräsidentin hat sie sich um Lösungen für dringende Probleme im In- und Ausland bemüht. Als Präsidentschaftskandidatin hat sie ihrem Gegner vorgeworfen, gegen seinen Eid, die Verfassung zu bewahren, zu schützen und zu verteidigen, schandhaft verstoßen zu haben.

Dieses salbungsvolle Gefasel bezieht sich auf ein intellektuelles Leichtgewicht und eine substanzlose Politikerin, deren Karriere – wie bei allen, die im Rahmen des kapitalistischen Zweiparteiensystems vorankommen – einzig und allein auf ihrer Fähigkeit beruht, die Drecksarbeit für ihre Zahlmeister in der Finanz- und Konzernelite zu erledigen. Die Autoren versäumen es, die großen gesellschaftlichen Anliegen zu benennen, für die Harris „furchtlos und unvoreingenommen“ gekämpft hat. In ihrer Amtszeit als Generalstaatsanwältin von Kalifornien zeichnete sie sich vor allem durch ihre Härte und ihre Verachtung für die Armen aus. So verteidigte sie beispielsweise die Todesstrafe und widersetzte sich der Entlassung von Insassen aus überfüllten Gefängnissen sowie der Forderung, dass Schüsse von Polizisten untersucht werden müssen. Nach ihrem Einzug in den Senat wurde Harris schnell in den Geheimdienstausschuss berufen, was zeigt, dass sie das Vertrauen der CIA und des Militärs genießt. Ihre unbestrittene Loyalität gegenüber den Interessen des US-Imperialismus sicherte ihr den Aufstieg zur Vizepräsidentin unter Biden.

Über Harris’ Mitschuld am Völkermord in Gaza und ihre enthusiastische Unterstützung des Stellvertreterkriegs in der Ukraine hüllen sich die Historiker in schuldbewusstes Schweigen. Die vierjährige Amtszeit der Vizepräsidentin ist blutgetränkt. Sie legte Wert darauf, bei jedem einzelnen Treffen Bidens mit Netanjahu anwesend zu sein, und verband sich auf diese Weise mit dem von den USA unterstützten Massaker an mehr als 43.000 Palästinensern, darunter mehr als 13.000 Kinder.

Was das Eintreten für „Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“ betrifft, so hat Harris als Teil der Biden-Regierung die Verfolgung von Gegnern des Völkermords, darunter viele Studierende und Akademiker, gestützt. Tatsächlich hielt Harris eine ihrer letzten Wahlkampfveranstaltungen am Muhlenberg College in Allentown, Pennsylvania, ab, wo Maura Finkelstein, eine jüdische Anthropologieprofessorin, wegen israelkritischer Äußerungen entlassen wurde.

Die Autoren schließen ihre Erklärung mit einem flammenden Wahlaufruf für Harris: „Vom Ausgang dieser Wahl, nicht weniger als von der Wahl von 1860, hängt das Schicksal von Geist und Buchstaben der Verfassung ab.“ Diese Aussage ist politisches und theoretisches Kauderwelsch. Das große Thema, mit dem sich die amerikanische Bevölkerung bei den Wahlen von 1860 konfrontiert sah, war die Sklaverei. Eine Stimme für Lincoln bedeutete eine Entscheidung für die Verteidigung der Union gegen die Diktatur der Sklavenhalter. Wie der große Historiker James McPherson geschrieben hat, schossen die Menschen, als kurz nach der Wahl der Bürgerkrieg ausbrach, ebenso, wie sie gewählt hatten.

Welches sind die großen demokratischen Grundsätze, die Harris vertritt? Welche tief greifenden Veränderungen in den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen der Vereinigten Staaten treibt sie voran, „furchtlos und unvoreingenommen“? Lincoln formulierte zwei Jahre vor der Wahl von 1860 in öffentlichen Debatten mit Stephen A. Douglas, seinem späteren Herausforderer um die Präsidentschaft, die Grundprinzipien, auf denen der Kampf gegen die Sklaverei beruhen sollte.

Wo und wann hat Vizepräsidentin Harris – die, wenn sie keinen Teleprompter vor sich hat, nur auswendig gelernte Plattitüden aufsagen kann – die Grundsätze dargelegt, die bei der Wahl 2024 auf dem Spiel stehen? Einen flüchtigen Verweis auf den Faschismus hat sie schnell wieder zurückgenommen. Der offenkundig faschistische Charakter der Republikanischen Partei und deren umfassende Beteiligung an den Verschwörungen von Trump bleiben völlig unerwähnt.

Dieser unwürdige Wahlkampf zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die wirklichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme nicht zur Sprache kommen: dass die Vereinigten Staaten bereits tief in einen sich rasch ausweitenden globalen Krieg verwickelt sind, der zu einem katastrophalen Atomkrieg zu eskalieren droht; dass die Vereinigten Staaten von massiver sozialer Ungleichheit zerrissen sind, mit einem schwindelerregenden Reichtum, der sich auf einen verschwindend geringen Prozentsatz der Bevölkerung konzentriert; dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unter erheblicher wirtschaftlicher Not leidet; und dass das soziale Leben tief erschüttert wurde durch die Folgen einer seit fünf Jahren andauernden Pandemie, die das Leben von 1,5 Millionen Amerikanern gekostet und Millionen weitere schwer geschädigt hat.

Das Schweigen der Harris-Kampagne zu diesen Verhältnissen, für welche die Demokratische Partei die volle Verantwortung trägt, wird von den Historikern mitgetragen und verstärkt. Abgesehen von der Persönlichkeit Trumps, des infernalischen Eindringlings in den demokratischen Garten Eden Amerikas, bieten die Historiker keine Analyse der Ursachen für seinen politischen Aufstieg. Es wird kein Versuch unternommen zu erklären, warum über 70 Millionen Amerikaner für ihn stimmen werden.

Nie wird die entscheidende Frage gestellt: Was sind die objektiven Bedingungen, die dem Phänomen des Trumpismus und der faschistischen MAGA-Bewegung zugrunde liegen? Wie kann das Wahlergebnis an sich die Demokratie vor der Zerstörung bewahren? Wird sich die tief verwurzelte Wut und Frustration von Millionen von Amerikanern verflüchtigen, wenn Trump keine Mehrheit bei den Wahlen erhält? Die Sklavenhalter im Süden reagierten auf ihre Niederlage bei den Wahlen von 1860 mit einem konterrevolutionären Aufstand im Jahr 1861. Nach den Erfahrungen vom 6. Januar 2021 gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass das endgültige Schicksal der amerikanischen Demokratie durch den Ausgang der Wahl entschieden wird.

Ohne eine Analyse der Ursachen für das Entstehen einer erheblichen faschistischen Bedrohung in den Vereinigten Staaten kann es keinen ernsthaften und erfolgreichen Kampf gegen sie geben.

Der Aufruf der Historiker spiegelt den Bankrott dessen wider, was in akademischen Kreisen als politisches Denken durchgeht. Aber diese intellektuelle Verarmung ist nicht einfach dem Versagen von Individuen geschuldet. In einer Epoche der tiefgreifenden Krise der bestehenden Gesellschaftsordnung und der zunehmenden Konfrontation zwischen den beiden mächtigsten Klassen, Kapitalisten und Arbeiter, schrumpft die Rolle von bürgerlichen Ideologen, die den Klassenkompromiss hochhalten und die Herrlichkeit der kapitalistischen Demokratie preisen, bis zur Bedeutungslosigkeit. Ihre politischen Beschwichtigungen nehmen einen irrelevanten und absurden Charakter an.

Unabhängig vom Ausgang am Wahltag stehen die Vereinigten Staaten vor einer Zukunft mit erbitterten Klassenkämpfen. Der Kampf gegen die Schrecken von Faschismus und Krieg erfordert eine klare und weitsichtige sozialistische Perspektive. Diese wird nicht von Lehrstühlen und Instituten ausgehen. Die Perspektive wird vielmehr aus den Reihen der trotzkistischen Bewegung kommen, die sich auf die theoretischen Grundlagen des Marxismus stützt, in enger Verbindung mit der Entwicklung von Kämpfen der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten und weltweit.

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