Draghi-Bericht offenbart tiefe Krise des europäischen Kapitalismus

Die existenzielle Krise der Europäischen Union und die Unmöglichkeit, sie im Rahmen des kapitalistischen Systems der Nationalstaaten zu überwinden, zeigt ein letzte Woche veröffentlichter Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU. Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank und frühere italienische Ministerpräsident Mario Draghi hat den Report für die Europäische Kommission (EK) verfasst.

Mario Draghi, ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank und ehemaliger italienischer Ministerpräsident [AP Photo/Josh Reynolds for MIT Golub Center for Finance and Policy]

Diese Schlussfolgerungen stammen nicht von Draghi, der Vorschläge zur Überwindung der Krise in der EU gemacht hat, aber sie gehen klar aus dem Bericht hervor.

Was auf dem Spiel steht, ist Draghi selbst mehr als bewusst. In seinen Kommentaren bei der Präsentation des Berichts sagte er mit Blick auf seine Empfehlungen: „Tun Sie es, oder es wird ein langsames Siechtum sein“. Und um diesen Punkt noch einmal zu unterstreichen, fuhr er fort: „Es handelt sich hier um eine existenzielle Herausforderung“.

Der Bericht wurde im vergangenen Herbst von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Auftrag gegeben. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass die EU in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung aufgrund des jahrzehntelang sinkenden Wachstums und der faktischen Stagnation in den letzten Jahren immer weiter hinter die USA und China zurückfällt.

Eine Aufzählung aller Bereiche, in denen Europa im Rückstand ist, ist an dieser Stelle nicht möglich – sie ziehen sich quer durch die gesamte Wirtschaft. Draghi begann seine Rede mit der Behauptung, dass Europa mit einem Binnenmarkt von 440 Millionen Verbrauchern, 23 Millionen Unternehmen und einem Anteil von 17 Prozent am weltweiten BIP über die Grundlagen für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige Wirtschaft verfüge. Aus dem Bericht geht jedoch eindeutig hervor, dass dies nicht der Fall ist.

Er weist darauf hin, dass sich das Wachstum in der EU aufgrund des nachlassenden Produktivitätswachstums verlangsamt hat, was „die Fähigkeit Europas, seine Ziele zu erreichen, in Frage stellt“.

Das Wirtschaftswachstum in der EU „war in den letzten zwei Jahrzehnten durchweg langsamer als in den USA, während China schnell aufgeholt hat“. Der Abstand des BIP zu Preisen von 2015 hat sich von etwas mehr als 15 Prozent im Jahr 2002 auf 30 Prozent im Jahr 2023 vergrößert.

Andere Zahlen, die kürzlich vom Wirtschaftskorrespondenten des Londoner Telegraph Ambrose Evans-Pritchard zitiert wurden, zeigen, dass die EU im Jahr 1990 26,5 Prozent des weltweiten BIP erwirtschaftete, obwohl sie aus nur 12 Staaten bestand. Heute hält die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten nur noch einen Anteil von 16,1 Prozent am weltweiten BIP.

In einem Kommentar im Economist sagte Draghi, in der Vergangenheit sei eine Verlangsamung des Wachstums „als Unannehmlichkeit, aber nicht als Katastrophe angesehen worden. Damit ist jetzt Schluss. Europas Bevölkerung wird schrumpfen, und das Wachstum wird sich stärker auf die Produktivität stützen müssen. Wenn die EU ihr durchschnittliches Produktivitätswachstum seit 2015 beibehielte, würde dies nur ausreichen, um das BIP bis etwa 2050 konstant zu halten.“

Das größte Problem ist, dass die Voraussetzungen für ein Wachstum in der EU, selbst wenn dieses langsamer ausfällt, nicht mehr gegeben sind.

Der Bericht stellt fest, dass die Situation nach dem Kalten Krieg und die damit einhergehende Ausweitung des Welthandels, die das Wachstum der EU stützte, „verblasst“. Und weiter: „Die multilaterale Handelsordnung steckt in einer tiefen Krise, und die Ära des raschen Welthandelswachstums scheint vorbei zu sein“.

Mit der „Normalisierung“ der Beziehungen zu Russland nach der Auflösung der UdSSR 1991 konnte Europa seinen Energiebedarf decken. „Doch diese relativ billige Energiequelle ist nun zu enormen Kosten für Europa weggebrochen“.

Seit ihrem Höchststand im Jahr 2022 – nach dem Beginn des von den USA und anderen Nato-Mächten angezettelten Krieges in der Ukraine – sind die Energiepreise im Ergebnis zwar etwas gesunken. Dennoch sind die Unternehmen in der EU immer noch mit Strompreisen konfrontiert, die zwei- bis dreimal so hoch sind wie in den USA. Bei Erdgas sind die Preise sogar vier- bis fünfmal so hoch.

Die erste Voraussetzung für einen Wandel in der EU sei die „Notwendigkeit, Innovationen zu beschleunigen und neue Wachstumsmotoren zu finden“. In diesem Zusammenhang verwies Draghi auf die Entwicklung fortschrittlicher Technologien. Insbesondere der Einsatz künstlicher Intelligenz sei ein Motor für zukünftiges Wachstum. Doch gerade in diesem kritischen Bereich verschlechtert sich die Position der europäischen Unternehmen.

Nur vier der 50 weltweit führenden Technologieunternehmen kommen aus Europa. Zwischen 2013 und 2023 sank der Anteil der EU an den weltweiten Technologieumsätzen von 22 Prozent auf 18 Prozent, während der Anteil der USA von 30 Prozent auf 38 Prozent gestiegen ist.

Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass einer der Hauptgründe für die sich seit Mitte der 1990er Jahre vergrößernde Produktivitätslücke zwischen den USA und der EU das Versäumnis Europas ist, aus der ersten durch das Internet ausgelösten digitalen Revolution Kapital zu schlagen. Mit der neuen digitalen Revolution, die gerade begonnen hat, „sieht es derzeit so aus, als würde Europa noch weiter zurückfallen“.

„Der größte europäische Cloud-Anbieter hat nur einen Anteil von 2 Prozent am EU-Markt. Das Quantencomputing steht kurz davor, die nächste große Innovation zu werden. Fünf der zehn größten Technologieunternehmen, die in Quantencomputer investieren, haben ihren Sitz in den USA und vier in China. Keines dieser Unternehmen hat seinen Sitz in der Europäischen Union.“

Zwar wurden einige Innovationen im Bereich der autonomen Robotik und der KI-Dienstleistungen entwickelt, doch „innovative digitale Unternehmen sind im Allgemeinen nicht in der Lage, in Europa zu expandieren und Finanzmittel anzuziehen. Dies spiegelt sich in einer enormen Kluft zwischen der EU und den USA bei der Finanzierung in späteren Phasen wider. In der Tat gibt es in der EU kein Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von mehr als 100 Milliarden Euro, das in den letzten 50 Jahren aus dem Nichts heraus gegründet wurde, während in den USA alle sechs Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von mehr als 1 Billion Euro in diesem Zeitraum entstanden sind“.

Mit der Entwicklung der EU und der Einführung des Euros im Jahr 1999 als gemeinsamer Währung versuchten die europäischen herrschenden Klassen, einen stabileren Rahmen für die wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen und die Probleme zu überwinden, die sich aus der überholten Aufteilung des Kontinents in rivalisierende Nationalstaaten ergeben hatten.

Europa auf kapitalistischer Grundlage zu vereinen, ist jedoch immer eine Utopie geblieben, da jede der herrschenden Klassen in Europa im Nationalstaatensystem verwurzelt ist. Daher haben sich die Konflikte zwischen ihnen eher verschärft als vermindert.

Dies erschwerte die Entwicklung einer kohärenten Industriepolitik. Der Binnenmarkt wurde durch die Fähigkeit der Länder „mit dem größten fiskalischen Spielraum [gemeint ist hier Deutschland] und durch die mangelnde Koordinierung der Finanzierungsinstrumente beeinträchtigt“.

„Während die EU als Ganzes viel Geld für die Finanzierung ihrer industriepolitischen Ziele ausgibt, sind die Finanzierungsinstrumente entlang der nationalen Grenzen sowie zwischen den Mitgliedstaaten und der EU fragmentiert. Diese Fragmentierung behindert die Skalierung und verhindert die Schaffung großer Kapitalpools, insbesondere für Investitionen in bahnbrechende Innovationen.“

Europa sollte eine führende Rolle bei der Dekarbonisierung und bei grünen Technologien spielen, betont der Bericht. Doch die Vorteile, die es in der Vergangenheit genossen hat, werden nun in Frage gestellt. Im Bericht wird festgestellt, dass sich die Patentinnovation seit 2020 verlangsamt hat. Zwischen 2015 und 2019 entfielen 65 Prozent des Risikokapitals für die Entwicklung von Wasserstoff- und Brennstoffzellen auf die EU. Zwischen 2020 und 2022 sank dieser Anteil auf nur noch 10 Prozent.

In seinem Vorwort zum Bericht schrieb Draghi, dass die globale Dekarbonisierung eine „Wachstumschance“ für die europäische Industrie darstelle, die jedoch nicht garantiert sei.

„Der chinesische Wettbewerb wird in Branchen wie der grünen Technologie und der Elektromobilität akut, dank einer mächtigen Kombination aus massiver Industriepolitik und Subventionen, der Kontrolle über Rohstoffe und der Fähigkeit zur Produktion im kontinentalen Maßstab.“

Die EU steckt in einem Dilemma. Auf der einen Seite kann China den billigsten Weg bieten, die Dekarbonisierungsziele zu erreichen. Auf der anderen Seite „stellt Chinas staatlich geförderte Konkurrenz eine Bedrohung für unsere produktiven sauberen Technologien und die Automobilindustrie dar“.

Der globale Kampf um den Zugang zu kritischen Rohstoffen, die für die Entwicklung grüner Technologien benötigt werden, verschärft sich. Die Dekarbonisierung steht in direktem Zusammenhang mit Militärausgaben und -kapazitäten sowie dem Zugang zu den neuesten Computerchips.

Europa brauche eine „Außenwirtschaftspolitik“ in einer Situation, in der „die Bedrohungen für die physische Sicherheit zunehmen und wir uns darauf vorbereiten müssen. Die EU ist weltweit der zweitgrößte Geldgeber für das Militär, aber das entspricht nicht der Stärke unserer Verteidigungsindustrie.“

Sie sei „zu zersplittert, was ihre Fähigkeit zur Produktion in großem Maßstab behindert, und sie leidet unter einem Mangel an Standardisierung und Interoperabilität der Ausrüstung, was die Fähigkeit Europas schwächt, als kohärente Macht zu handeln“.

Im Hauptteil des Berichts weist Draghi darauf hin, dass die Abhängigkeit von anderen Ländern bei der Versorgung mit wichtigen Rohstoffen immer verwundbarer wird und eine Bedrohung für die Lieferketten darstellt. Gleichzeitig betrügen die Verteidigungsausgaben insgesamt nur ein Drittel der Ausgaben der USA. Die europäische Verteidigungsindustrie leide unter jahrzehntelanger Unterinvestition und erschöpften Beständen.

„Um echte strategische Unabhängigkeit zu erlangen und seinen globalen geopolitischen Einfluss zu stärken, braucht Europa einen Plan, um diese Abhängigkeiten zu überwinden und seine Verteidigungsinvestitionen zu erhöhen“.

Um ihre Ziele in den Bereichen Technologie, Dekarbonisierung und militärische Fähigkeiten zu erreichen, muss die EU nach Draghis Berechnungen ihre Investitionen um 800 Milliarden Euro oder fast 5 Prozent des BIP pro Jahr erhöhen. Zum Vergleich: Der Aufschwung durch den Marshallplan in den Jahren 1948-51 betrug zwischen 1 und 2 Prozent des BIP der Empfängerländer.

Dies würde eine massive Restrukturierung des Finanzsystems erfordern, einschließlich aller EU-Schulden. Draghi räumte ein, dass die gemeinsame Kreditaufnahme ein „sehr sensibles“ Thema sei, sagte aber auch, dass sie „ein wichtiges Instrument zur Erreichung der Ziele der EU“ sei.

Diese Sensibilität wurde sofort deutlich. Der Geschäftsführer der Beratungsfirma Eurasia Group, Mutjaba Rahman, sagte der Financial Times, dass „die politischen Realitäten in Paris und Berlin bedeuten, dass seine Empfehlungen keine Chance haben, umgesetzt zu werden“.

Bestätigt wurde diese Einschätzung durch die Reaktion aus Berlin. Bundesfinanzminister Christian Lindner schrieb auf X, eine gemeinsame Kreditaufnahme der EU sei keine Lösung für die strukturellen Probleme. Den Unternehmen fehle es nicht an Subventionen, sondern sie seien „gefesselt durch Bürokratie und Planwirtschaft“.

Sein niederländischer Amtskollege Eelco Heinen sagte, er stimme voll und ganz zu, dass Europa wachsen müsse, aber das erfordere Reformen und „mehr Geld ist nicht immer die Lösung“.

Bei der Entgegennahme des Berichts vermied es von der Leyen, die Frage höherer Verschuldung zu unterstützen.

Draghi betonte jedoch, dass die EU vor einer existenziellen Krise stehe, wenn dieses Hin und Her anhalte. „Wir sollten uns von der Illusion verabschieden, dass nur Zögern den Konsens aufrechterhalten kann. In Wirklichkeit hat das Hin und Her nur zu einer Verlangsamung des Wachstums geführt und ganz sicher nicht zu einem neuen Konsens.“

Draghi ging nicht im Detail darauf ein, welche Konsequenzen drohen, wenn der derzeitige Kurs anhält. Aber er gab einige Hinweise: Er verwies auf die Gefahren für den „Wohlstand“ und das angebliche „Sozialmodell“ Europas. Mit anderen Worten: weitere und tiefere Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der europäischen Arbeiter.

Doch sein Plan zeigt nicht den Ausweg aus der Misere. Im Gegenteil, er ist Ausdruck der tiefen Krise des europäischen Kapitalismus in einer Situation, in der die Bedingungen, die es der Arbeiterklasse ermöglichten, einige begrenzte Fortschritte zu erzielen, durch tiefgreifende Veränderungen in den Grundlagen der kapitalistischen Weltökonomie zerstört wurden.

Ein Plan für eine harmonische wirtschaftliche Entwicklung in der Zukunft ist mit den Empfehlungen des Berichts nicht verbunden. Im Gegenteil, sie unterstreichen die Unmöglichkeit einer solchen Entwicklung unter kapitalistischen Bedingungen. Der Bericht ist auf seine Weise eine Bestätigung der Perspektive, für die die marxistische Bewegung seit mehr als einem Jahrhundert kämpft: Nur der politische Kampf der Arbeiter für den Sturz des Kapitalismus und die Errichtung der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa kann eine solche Zukunft garantieren.

Loading