Am Dienstag demonstrierten mehrere Tausend Stahlarbeiter vor dem Thyssenkrupp-Stammwerk im Duisburger Norden. Die IG Metall hatte sie von allen Standorten Thyssenkrupps in Nordrhein-Westfalen und von den Hüttenwerken Krupp Mannesmann (HKM) im Duisburger Süden dorthin gebracht.
Die IG Metall und ihre Betriebsräte, die von der Bundes- und der Landesregierung unterstützt wurden, machten den Arbeiterinnen und Arbeitern unmissverständlich klar, dass sie den Abbau von Tausenden Arbeitsplätzen unterstützen. Das ist die wirkliche Bedeutung des Mottos „Zukunft statt Kündigung“, unter das sie die Veranstaltung gestellt hatten.
Als Aufsichtsratschef Sigmar Gabriel und das Management im Februar und März andeuteten, dass bis zu 5000 Arbeitsplätze abgebaut werden könnten, reagierten die IG Metall und der Betriebsrat sofort. Mit dem Abbau der Arbeitsplätze waren sie einverstanden. Sie wollten lediglich mitreden, wie dieser gestaltet wird. Der ehemalige Stahl- und heutige Konzern-Gesamtbetriebsratschef Tekin Nasikkol bekräftigte, er wolle am Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis März 2026 „nicht rütteln“ lassen.
Mit diesem Mechanismus sind in der deutschen Stahlindustrie seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 über die Hälfte der 179.000 Arbeitsplätze vernichtet worden. Nicht ein einziger Arbeitsplatz wurde per betriebsbedingter Kündigung abgebaut. Vielmehr stand unter jedem Schließungs- und Abbaubeschluss die Unterschrift der IG Metall.
Detlef Wetzel, der frühere IG Metall-Chef und stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende von Thyssenkrupp Stahl, hat bereits Pläne verkündet, am Ende, wenn ein weiterer „Zukunftsvertrag“ den Abbau Tausender Arbeitsplätze besiegelt hat, einen weiteren Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen zu vereinbaren. Dies wollen die IG Metall und ihre Betriebsräte dann wieder als Erfolg verkaufen.
Viele Arbeiter, mit denen Mitglieder der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) auf der Kundgebung sprachen, sorgten sich um ihre Arbeitsplätze.
Mehmet von Thyssenkrupp aus Hohenlimburg möchte seinen Job behalten. „Wir müssen alle zusammenhalten“, sagt der Verfahrenstechnologe, der mit anderen jungen Kollegen gekommen war. „Keiner kann das für sich allein ausmachen.“
Sein Kollege Emin betont, er sei heute hier, weil er für seine Zukunft kämpfen wolle. „Wir können uns das nicht gefallen lassen“, sagt er. „Es werden immer mehr Arbeitsplätze abgebaut, deshalb bin ich hier.“ Er befürchte aber, dass er nach Hause fahre, „ohne dass wir hier erfahren, wie es weitergeht“.
Besonders groß ist die Unsicherheit bei den Beschäftigten von HKM. Sie wissen noch gar nicht, wie es weitergeht.
Hassan ist einer von über 3000 Stahlarbeitern, die in eine ungewisse Zukunft gehen. Er selbst arbeitet seit 32 Jahren als Stahlbauschlosser und Schweißer im Hüttenwerk. Die Eigentümer von HKM sind Thyssenkrupp Stahl (50 Prozent), Salzgitter Stahl (30 Prozent) und der französische Konzern Valourec (20 Prozent). Seitdem das französische Unternehmen angekündigt hat, nach der Schließung seiner Röhrenwerke in Düsseldorf und Mülheim/Ruhr (ehemals Mannesmann) sich vollständig aus Deutschland zurückzuziehen, ist die Sorge unter den HKM-Beschäftigten groß, dass das Werk abgewickelt wird.
HKM war durch den Zusammenschluss des Krupp-Stahlwerks im Duisburger Stadtteil Rheinhausen und dem Mannesmann-Werk im Stadtteil Hüttenheim Ende 1987 entstanden. Krupp Rheinhausen wurde dann nach einem langen und heftigen Arbeitskampf, den die IG Metall damals verriet, 1993 geschlossen.
Seitdem haben sich die IG Metall-Funktionäre in direkte und gutbezahlte Handlanger der Konzernvorstände und Aktionäre verwandelt. Das war indirekt auch der Grund für den Protest vor dem Stahlwerk.
Ursprünglich hatte der Betriebsrat zu einer internen Betriebsratsversammlung ins MSV-Stadion eingeladen, zu der 10.000 der 27.000 Thyssenkrupp-Beschäftigten und rund ein Drittel der über 3000-köpfigen Belegschaft von HKM erwartet wurden.
Dann wurde kurzfristig umdisponiert. Anstatt einer internen Versammlung gab es einen öffentlichen Protest vor dem Hauptverwaltungsgebäude des Stammwerks. Begründet wurde dies damit, dass der tschechische Milliardär Daniel Kretinsky mit 20 Prozent beim Thyssenkrupp-Stahlkonzern einsteigt. Am Ende soll sein Anteil auf 50 Prozent wachsen und der Stahlbereich aus dem Industriekonzern herausgelöst werden. Seit acht Monaten laufen die Verhandlungen zwischen Thyssenkrupp und Kretinskys Investmentfirma EP Global Commerce (EPGC).
Genauso wie dem Arbeitsplatzabbau hat die IG Metall auch schon dem Einstieg des Milliardärs zugestimmt. Konzernbetriebsratschef Nasikkol hatte bereits Anfang September vergangenen Jahres vor Journalisten in Duisburg zu Protokoll gegeben: „Gegen Milliardäre haben wir nichts. Wenn sie das Geld in Stahl investieren, freuen wir uns.“
Was Nasikoll und seine Entourage in den Betriebs- und Aufsichtsräten nun auf die Palme gebracht hat, ist, dass Thyssenkrupp-Gesamtkonzernchef Miguel López sie beim Einstieg Kretinskys nicht ausreichend mit einbezogen hat. Die IG Metall behauptet, sie seien erst vier Stunden, bevor die Öffentlichkeit davon erfuhr, über den ersten Deal informiert worden.
Nicht der Einstieg als solcher stört die IG Metall und ihre Betriebsräte. Sie sorgen sich vielmehr um ihre Pfründe. Als die Gewerkschaftsfunktionäre vor über einem halben Jahr erstmals mit Kretinsky und seinen Gefolgsleuten zusammentrafen, hatten sie ihnen einen Forderungs- und Fragenkatalog vorgelegt. Zu klären war aus Sicht der IG Metall vor allem, ob der Stahlbereich nach einer Übernahme durch Kretinsky weiterhin seinen Sitz in Deutschland haben werde und ob Thyssenkrupp langfristig daran beteiligt bleibe.
Denn daran hängt die Montanmitbestimmung, die gesetzlich geregelte Korruption der Gewerkschaften in Deutschland. Für die Funktionäre steht viel Geld auf dem Spiel. Die Betriebsräte und gewerkschaftlichen Aufsichtsräte erhalten hohe, bis zu sechsstellige Summen im Jahr. Wer es schafft – wie Dieter Kroll, Ralph Labonte, Dirk Sievers, Markus Grolms, Oliver Burkhard oder Carsten Laakmann und Peter Gasse bei HKM – von der IG Metall als Arbeitsdirektor in den Vorstand bestellt zu werden, hat das große Los gezogen. Da sind dann auch Millionenbeträge drin.
Neben dieser Verschmelzung von Gewerkschaft und Konzern spielen auch zahlreiche SPD-Politiker mit, die – wie der ehemalige Parteivorsitzende und Außenminister Sigmar Gabriel – in den Aufsichtsräten sitzen. So sprach gestern neben Bundesarbeitsminister Hubertus Heil auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (beide SPD) zu den Stahlarbeitern und verlangte klare Informationen für die Beschäftigten. Sie sitzt im Aufsichtsrat von HKM, ist also über alle Entwicklungen bestens informiert.
Ein Arbeiter, der seinen Namen nicht im Internet lesen möchte, wies zudem darauf hin, dass der Bruder von Betriebsratschef Nasikkol von Vorstandschef López aus Dubai zurückbeordert wurde, um den Konzern auf Profit zu trimmen. Der zwei Jahre ältere Cetin Nazikkol (der seinen Nachnamen nicht eingedeutscht hat) arbeitet für Thyssenkrupp seit über 20 Jahren als Manager im Ausland, lange Zeit in der Türkei, zuletzt soll es Dubai gewesen sein. Er ist seit letztem Jahr Chief Transformation Officer.
Während das für den Arbeiter „mehr als einen üblen Beigeschmack“ hat, winkte Tekin Nasikkol entsprechende Nachfragen von Journalisten damals ab. Konfliktthemen mit seinem Bruder sehe er „im Moment“ nicht.
Offensichtlich hat die bisherige Rolle der IG Metall und ihre offene Korruption viele Arbeiter davon abgehalten, überhaupt an dem Protest teilzunehmen. 30.000 Stahlarbeiter waren eingeladen und 10.000 erwartet worden, doch schließlich kamen mehrere Tausend weniger.
Viele Arbeiter interessierten sich für die Perspektive der Sozialistischen Gleichheitspartei, Kolleginnen und Kollegen, die wirklich für den Erhalt der Arbeitsplätze kämpfen wollen, in Aktionskomitees zu organisieren, die unabhängig von der Gewerkschaft sind. „Schöne Perspektive“, wie Emin es ausdrückte. Hassan von HKM hat sich fest vorgenommen, am Samstagabend an der International MayDay Rally teilzunehmen, auf der Vertreter aus der ganzen Welt eine Perspektive für den Kampf gegen Krieg und soziale Verwüstung vorstellen.