In der deutschen Industrie bahnt sich ein gewaltiges Arbeitsplatzmassaker an. Hunderttausende, teils hochqualifizierte Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Seinen Schwerpunkt hat der Kahlschlag in der Auto- und Zulieferindustrie, wo – Werkstätten, Tankstellen, Handel und Verkauf nicht eingerechnet – über 800.000 Menschen beschäftigt sind. Je nach Quelle und Prognose sind mehr als die Hälfte dieser Arbeitsplätze gefährdet.
Die Entlassungen beschränken sich aber nicht auf den Automobilsektor, auch die Chemie-, die Stahl-, die Bau-, die Haushaltsgeräte- und selbst die Softwareindustrie sind betroffen. Im Einzelhandel, im Gesundheitsbereich, wo Dutzenden Kliniken der Bankrott droht, und im Güterbereich der Bahn stehen ebenfalls zehntausende Arbeitsplätze auf der Kippe.
Das Jobmassaker reicht von den Werkhallen über die Verwaltungen bis zu den Entwicklungszentren. „Plötzlich droht auch Führungskräften auf mittleren Stufen und erfahrenen Ingenieuren der Jobverlust,“ schreibt das Handelsblatt, das Ende Februar unter der Überschrift „Und raus bist du – Die neue Welle des Personalabbaus“ einen umfangreichen Artikel zu dem Thema veröffentlichte.
„Die aktuelle Kündigungswelle, sie trägt nicht immer Blaumann, sondern häufiger als sonst auch Kostüm, Laborkittel oder Hoodie,“ so das Handelsblatt. Es warnt unter Berufung auf Arbeitsmarktexperten vor der Illusion, „dass die meisten der betroffenen Beschäftigten problemlos auf andere, freie Stellen wechseln können“. Selbst wenn dies der Fall sei, „dann sind diese neuen Jobs oft deutlich schlechter bezahlt als die angestammte Position im Großkonzern“.
Viele Unternehmen stoßen jetzt Fachkräfte ab, die sie bisher aus Angst, bei Bedarf keine neuen zu finden, trotz mangelnder Auslastung weiterbeschäftigt hatten.
Dieser Überblick über die wichtigsten Branchen zeigt, welches Ausmaß das Arbeitsplatzmassaker hat. Er ist alles andere als vollständig und erst der Anfang. „In den kommenden Wochen und Monaten dürften weitere Unternehmen neue oder verschärfte Sparprogramme inklusive Stellenabbau verkünden,“ prophezeit das Handelsblatt unter Berufung auf Wirtschaftsexperten.
Laut einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) rechnen für 2024 nur noch fünf von 47 Branchenverbänden mit einer Zunahme der Beschäftigtenzahl, 23 Branchen rechnen mit einem Abbau, darunter so beschäftigungsintensive Wirtschaftszweige wie der Groß- und Einzelhandel, der Maschinenbau, das Handwerk und das Baugewerbe. Der Kreditversicherer Allianz Trade geht davon aus, dass die Zahl der Insolvenzen in Deutschland 2024 auf 20.260 Fälle steigt. Das sind 13 Prozent mehr als im Vorjahr.
Auto- und Zulieferindustrie
In der Auto- und Zulieferindustrie geht die Umstellung auf elektrische Fahrzeuge, deren Herstellung wesentlich weniger Arbeitszeit erfordert, mit einem erbitterten Kampf um höhere Renditen einher.
Die großen Autohersteller legen in enger Zusammenarbeit mit IG Metall und Betriebsräten seit Jahren Sparprogramme auf, denen (wie bei VW) Tausende Arbeitsplätze oder (wie bei Ford Saarlouis) ganze Standorte zum Opfer fallen. Im Elektrobereich herrscht inzwischen ein erbitterter Verdrängungskampf, an dem sich neben amerikanischen, europäischen, japanischen und koreanischen auch chinesische Hersteller beteiligen.
Stellantis-Chef Chef Carlos Tavares spricht von einem „Blutbad“ und einem „turbulenten Jahr 2024“. Die Werke seines Konzerns, zu dem in Deutschland Opel gehört, waren im vergangenen Jahr nur zu 60 Prozent ausgelastet.
Noch verheerender ist die Lage im Zulieferbereich. Kleinere Betriebe mit einigen Hundert oder Tausend Beschäftigten, die oft auf einzelne Komponenten spezialisiert sind, machen reihenweise dicht.
So meldete Anfang des Monats Eissmann Automotive Insolvenz an. Das Unternehmen mit Sitz in Bad Urach südlich von Stuttgart fertigt Verkleidungskomponenten für fast alle Automarken und beschäftigt weltweit an 17 Standorten 5000 Mitarbeiter, 1000 davon in Deutschland.
Aber auch die Branchenriesen Bosch, Continental und ZF Friedrichshafen bauen tausende Stellen ab.
ZF, das weltweit 165.000 Menschen beschäftigt, will seine Belegschaft in Deutschland bis 2029 um 12.000 reduzieren, das sind fast ein Viertel aller Arbeitsplätze. Es können aber auch 18.000 werden, wie Betriebsratschef Achim Dietrich, der Einsicht in die Pläne hatte, dem Handelsblatt berichtete. Der hochverschuldete Konzern will seine Kosten so um sechs Milliarden Euro senken.
Bosch, das rund 60 Prozent seines Umsatzes im Mobility-Bereich erzielt, stellt diesen Bereich völlig um. Seit Monaten gibt der Konzern, der allein in Deutschland knapp 134.000 Leute beschäftigt, scheibchenweise Stellenstreichungen bekannt. Insgesamt ist derzeit von 4000 Stellen die Rede. Bosch schließt aber nicht aus, dass es auch mehr werden können. So fallen allein der Einstellung der Diesel-Entwicklung 1500 Arbeitsplätze in Entwicklung und Verwaltung zum Opfer. Weitere 1200 Stellen stehen im Softwarebereich auf der Streichliste.
Continental will weltweit 7150 Stellen abbauen, das sind mehr als 3 Prozent der Gesamtbelegschaft. 5400 entfallen auf den Verwaltungsbereich, 1750 auf Forschung und Entwicklung. Trotz der raschen technischen Veränderungen streicht der Konzern seine Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 12 auf 9 Prozent des Umsatzes zusammen. Auch die Softwaretochter Elektrobit mit Sitz in Braunschweig und 380 Beschäftigten steht auf der Streichliste.
Reifenhersteller machen ebenfalls reihenweise dicht. So zieht sich Michelin aus der Produktion von Lkw-Reifen in Deutschland zurück und streicht bis Ende 2025 u.a. in Karlsruhe und Trier mehr als 1500 Stellen.
Goodyear will das Werk im brandenburgischen Fürstenwalde mit 700 Arbeitsplätzen schließen.
Chemieindustrie
Der Chemiekonzern Bayer (100.000 Beschäftigte weltweit, 22.000 in Deutschland) hat den Abbau mehrerer tausend Arbeitsplätze beschlossen, um die Rendite zu erhöhen und den Schuldenberg von über 30 Milliarden Euro abzubauen. Betroffen ist insbesondere das mittlere Management. In den USA, wo es keinen Kündigungsschutz gibt, hat die Pharmadivision des Konzerns bereits 40 Prozent der Managementjobs gestrichen. An die Stelle der alten Hierarchien sollen flexible Teams treten, um mehr Tempo und bessere Ergebnisse zu bringen – also den Arbeitsdruck massiv zu erhöhen.
Um den Abbau möglichst reibungslos zu gestalten, hat der Betriebsrat Abfindungen und Vorruhestandsregelungen vereinbart, die etwas über dem Üblichen liegen. Die maximale Abfindung von 52,5 Monatsgehältern, die in den Medien zirkuliert, wird allerdings kaum jemand erhalten. Man muss dafür 35 Jahre bei Bayer gearbeitet haben und sofort zugreifen.
Um die Beschäftigten unter Druck zu setzen, sinkt nämlich die Abfindung, je länger sie warten. Ab 2027 schließt Bayer auch betriebsbedingte Kündigungen nicht mehr aus. „Die derzeitige schwierige wirtschaftliche Situation des Unternehmens führt dazu, dass betriebsbedingte Kündigungen nach Auslaufen dieser Beschäftigungssicherungs-Vereinbarung konkret im Raum stehen“, schrieb Betriebsratschefin Heike Hausfeld an die Beschäftigten.
Der Chemiekonzern BASF (weltweit 112.000 Beschäftigte) hatte schon vor einem Jahr ein Sparprogramm bekanntgegeben. Durch den Abbau von 2600 Stellen (zwei Drittel davon in Deutschland) sollten jährlich 1,1 Milliarden Euro eingespart werden. Nun will der Konzern am Standort Ludwigshafen eine zusätzliche Milliarde Euro einsparen. Damit werde auch ein weiterer Stellenabbau verbunden sein, kündigte Konzernchef Martin Brudermüller an.
Auch der Essener Chemiekonzern Evonik will in den nächsten zwei Jahren 2000 von 33.000 Arbeitsplätzen streichen, 1500 davon in Deutschland. Wie bei Bayer soll der Schwerpunkt beim mittleren Management liegen. Als Begründung nennt der Konzern Gewinneinbrüche. 2024 erwartet er bei einem Umsatz von 15 bis 17 Milliarden Euro „nur“ noch einen operativen Ertrag von 1,7 bis zwei Milliarden Euro.
IT-Bereich
Der größte europäische Softwarekonzern SAP hat den Abbau von 8000 Stellen angekündigt. Er begründet dies mit der Ausrichtung auf andere Geschäftsfelder, vor allem auf KI für Unternehmen. Dafür sollen etwa gleich viele neue Arbeitsplätze entstehen, aber nicht für dieselben Leute. Nur etwa jeder Dritte der 8000 Betroffenen soll umgeschult werden, zwei Drittel müssen SAP verlassen. Es gehe SAP auch darum, „altgediente SAPler mit hohen Gehältern von der Gehaltsliste zu bekommen“, kommentierte ein Mitglied des Betriebsrats.
Haushaltsgeräte
Der Haushaltsgerätehersteller Miele will 2000 von weltweit 23.000 Stellen streichen. 700 Arbeitsplätze in der Waschmaschinen-Montage am Hauptsitz Gütersloh sollen aus Kostengründe nach Polen verlagert werden. Als Gründe nennt das Unternehmen Auftragseinbrüche nach einem Umsatzrekord im Jahr 2022 und steigende Kosten.
Auch in der Hausgeräte-Sparte von Bosch (BSH), dem europäischen Marktführer, stehen mehrere Tausend Stellen auf der Kippe. Der Betriebsrat verhandelt zurzeit über einen massiven Beschäftigungsabbau.
Stahlindustrie
Thyssenkrupp plant den Abbau von mindestens 5000 der verbliebenen 27.000 Arbeitsplätze in der einst mächtigen Stahlindustrie des Ruhrgebiets. Ein Hochofen und zwei Walzwerke in Duisburg sollen geschlossen werden. Das meldete das Handelsblatt unter Berufung auf interne Planungen.
Das Unternehmen dementierte zwar umgehend. Aber Äußerungen des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, der inzwischen den Aufsichtsrat von ThyssenKrupp Steel leitet, und der IG Metall bestätigen, dass Abbaupläne diskutiert werden.
Gabriel bestätigte in einem Interview, dass der Vorstand derzeit Vorschläge für eine Neustrukturierung des Stahlbereichs erarbeite. Der Stahlbereich habe jährliche Kapazitäten von 12 Millionen Tonnen, verkaufe aber nur 9 Millionen.
Und IGM-Bezirksleiter Knut Giesler forderte ein Gesamtkonzept für den Stahlbereich: „Ob Verkauf, Beteiligung oder Verselbstständigung – es braucht endlich ein industrielles Konzept, das finanziell und strukturell abgesichert ist. Das ständige Hin und Her muss ein Ende haben.“ Ein unmissverständliches Signal, dass die Gewerkschaft auch die nächste Kahlschlagrunde unterstützen wird, wie sie das bei allen früheren getan hat.
Bahn
Bei DB Cargo stehen mindestens 2500 Stellen auf der Streichliste. Ein erstes Weißbuch zur „Transformation“ vom September 2023 sah die Streichung von bundesweit 1800 Stellen vor. Ein zweites Weißbuch fügte 700 weitere hinzu. Die Zahl könnte sich noch weiter erhöhen.