Die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Montag, den 25. Dezember, dem Parlament einen neuen Gesetzentwurf zur Mobilmachung vorgelegt. Gestützt darauf sollen bis zu 500.000 weitere Soldaten eingezogen werden, um den Nato-Stellvertreterkrieg gegen Russland fortzusetzen.
Die Einzelheiten des Gesetzentwurfs werden absichtlich unter Verschluss gehalten, da man eine Reaktion der Bevölkerung vermeiden möchte. Journalisten der Nachrichtenagentur Hromadske konnten jedoch eine erläuternde Beschreibung herunterladen, ehe die Website des ukrainischen Parlaments für die Öffentlichkeit gesperrt wurde. Hier einige der vorgeschlagenen Änderungen:
- Das Wehrpflichtalter soll von 27 auf 25 Jahre gesenkt werden.
- In jeder Bildungsanstalt soll es für alle ukrainischen Bürger im Alter von 18 bis 25 Jahren eine dreimonatige militärische Grundausbildung geben.
- Für Personen unter 25 Jahren, die bisher keine militärische Grundausbildung abgeschlossen haben, wird ein fakultativer Militärdienst eingeführt.
- Für ukrainische Staatsbürger, die sich der Einberufung zum Wehrdienst entziehen und den Wehrdienst nicht ableisten, soll es künftig Einschränkungen geben.
- Alle Zentren für Verwaltungsdienste und die Arbeitsämter und Einstellungszentren sollen in die militärische Rekrutierung einbezogen werden.
Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, Einberufungsbescheide per E-Mail zuzustellen und einen Online-Dienst für Wehrpflichtige und Reservisten einzurichten.
Zu den umstrittenen Aspekten des Gesetzentwurfs gehört der Vorschlag, die Pässe von im Ausland lebenden Ukrainern zu annullieren, wenn sie sich weigern, sich zu stellen. Dieser Schritt würde auch ihren rechtlichen Status in dem Land, in dem sie sich derzeit aufhalten, gefährden. Deshalb standen Ukrainer in ganz Europa kurz nach Bekanntwerden des Gesetzes Schlange vor den Konsulaten, um ihre Pässe zu erneuern, ehe die Änderungen in Kraft treten. Im spanischen Valencia standen offenbar 550 Menschen stundenlang an, um ihren Pass zu erneuern und ihren Aufenthalt in Spanien für das kommende Jahr sicherzustellen.
Das ukrainische Parlament wird sich mit den neuen Mobilmachungsregeln befassen und wahrscheinlich schon Mitte Januar 2024 darüber abstimmen. Berichten zufolge wurden die Mitglieder von Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ angewiesen, nicht in der Öffentlichkeit über Details des Gesetzentwurfs zu sprechen.
Selenskyj hatte den Vorschlag, der sowohl in der Ukraine als auch weltweit für Schlagzeilen sorgte, erstmals auf seiner Pressekonferenz zum Jahresende am 19. Dezember angekündigt. Demnach sollen 13,3 Milliarden Dollar aufgewendet werden, um die halbe Million zusätzlicher Soldaten zu mobilisieren.
Selenskyj behauptete damals, dass der Vorschlag auf ein Ersuchen des Befehlshabers der Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, zurückgehe. Mit ihm hatte Selenskyj in voller Öffentlichkeit einen Kampf über die Ausrichtung des Krieges ausgetragen. Saluschnyj erklärte jedoch am 26. Dezember, weder er selbst noch die Armeeführung hätten jemals einen Antrag auf die Mobilmachung einer bestimmten Anzahl von Soldaten gestellt. Er widersprach damit unmittelbar dem Präsidenten und seiner Rechtfertigung für das Mobilmachungsgesetz.
Das neue Gesetz zeugt von der extremen Krise, in die der Krieg und das ukrainische Oligarchenregime insgesamt geraten sind. Es zeigt auch, dass die herrschende Klasse inmitten dieser Krise bereit ist, für ihren Krieg gegen Russland Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Menschen zu opfern. Allerdings steht nicht nur die Finanzierung der Mobilmachung, sondern auch ihre physische Durchführung ernsthaft in Frage.
In der Ukraine gab es vor dem Krieg etwa 36 Millionen Einwohner. Der Vorschlag, eine halbe Million zusätzlich zu mobilisieren, bedeutet, dass ein weiterer riesiger Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in den Stellvertreterkrieg der Nato hineingezwungen wird. Dabei hat dieser Krieg kein einziges der von der ukrainischen Regierung oder der Nato gesteckten Ziele erreicht.
Der prozentuale Anteil der Mobilisierten ist sogar noch größer, wenn man bedenkt, dass Millionen von Menschen aus dem Land geflohen sind und viele weitere in Gebieten leben, welche die Selenskyj-Regierung nicht kontrollieren kann.
Wie BBC Ukraine im November berichtete, haben seit Beginn des Kriegs 650.000 ukrainische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren die Ukraine verlassen. Selenskyjs ehemaliger Berater Alexej Arestowitsch behauptete kürzlich sogar, dass 4,5 Millionen ukrainische Männer, also fast die Hälfte der männlichen Bevölkerung, ins Ausland geflohen seien, um sich dem Militärdienst zu entziehen, und dass 30 bis 70 Prozent der Militäreinheiten aus „Verweigerern“ bestünden, die sich unerlaubt von der Truppe entfernt hätten.
Jetzt schon sind Hunderttausende im Krieg getötet worden. Ihre Zahl schätzt Selenskyjs ex-Berater Arestovitsch auf schwindelerregende 400.000. Wenn man davon ausgeht, dass auf einen toten Soldaten durchschnittlich drei Verwundete kommen, muss die Zahl der Verletzten inzwischen weit über eine Million betragen. Mindestens 80.000 Menschen mussten bisher Gliedmassen amputieren lassen.
Inzwischen räumte selbst Saluschnyj im November im Economist ein, dass der Krieg in eine „Pattsituation“ geraten sei. Damit hat er den Zorn Selenskyjs auf sich gezogen, der kurz darauf die geplanten Präsidentschaftswahlen 2024 absagte. Da das ukrainische Militär im vergangenen Jahr an der Front unter einem gravierenden Mangel an Männern litt, ist es dazu übergegangen, Menschen von der Straße weg zu entführen, sie in Einkaufszentren und anderen öffentlichen Orten aufzugreifen, um sie zwangsweise in die Armee einzugliedern.
Roman Kostenko, Mitglied des ukrainischen Parlaments und Sekretär des parlamentarischen Sicherheitsausschusses, erklärte kürzlich gegenüber der Nachrichtenagentur Ukrinform: „Die Worte über die zusätzliche Mobilisierung von 450.000 bis 500.000 Soldaten sind für alle eine kalte Dusche.“ Er fügte hinzu, dass das Militär aufgrund von Verlusten aufgestockt werden müsse, da sich der Krieg „noch lange hinziehen kann“.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Selenskyj und die ukrainische herrschende Klasse wissen, wie unpopulär eine neue Runde der Massenmobilisierung sein wird, da sich der Krieg hinzieht und die Verluste weiter steigen. Ein erster, aber nicht unwichtiger Ausdruck der wachsenden Antikriegsstimmung waren die landesweiten Proteste von Familienangehörigen von Soldaten, die teilweise seit Kriegsbeginn im Februar 2022 vor fast zwei Jahren an der Front eingesetzt sind.
Selenskyj hat den Vorschlag selbst als „ein sehr sensibles Thema“ bezeichnet. Er versucht, einen Großteil der Verantwortung auf das Parlament und das Militär unter Saluschnyjs Führung abzuwälzen.
Die Tatsache, dass der Gesetzentwurf ausgerechnet am Weihnachtstag eingebracht wurde, war dem Versuch geschuldet, einen Aufruhr in der Bevölkerung zu vermeiden. Es war der Tag, an dem die ukrainischen orthodoxen Christen zum ersten Mal überhaupt Weihnachten am 25. Dezember feierten, nachdem das Fest bisher auch in der Ukraine wie in Russland am 7. Januar gefeiert worden war. Der Schritt der neu gegründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine, in diesem Jahr in Absprache mit der rechten Regierung das Datum zu ändern, war ein russenfeindlicher und reaktionärer Versuch, die ukrainische Arbeiterklasse entlang religiöser Grenzen zu spalten.
Die Regierung und die herrschende Klasse hegen die Befürchtung, dass das Gesetz ein zu offenes Eingeständnis der katastrophalen Kriegslage sein könnte. Äußerungen von Oleksandr Musienko, Leiter der Nichtregierungsorganisation Center of Military Law Studies, deuten darauf hin, dass Teile der ukrainischen herrschenden Klasse das neue Mobilmachungsgesetz als Zeichen der Panik und Verzweiflung Selenskyjs betrachten.
„Der Aggressor [Russland] kann sich bis zu einem gewissen Grad freuen“, sagte Musienko diese Woche dem Radiosender Neue Stimme der Ukraine. „Ich verstehe nicht, warum das [der Gesetzentwurf] eingeführt wurde. Die Situation in unserem Staat ist nicht fatal oder katastrophal. Man beobachtet und interpretiert sie aber so, als ob die Panik irgendwie schon zu uns durchgedrungen wäre und unsere Entscheidungen nicht von rationalen Berechnungen, sondern von einer panischen Reaktion beeinflusst würden.“
Weiter sagte er: „Ich habe das Gefühl, dass jemand bewusst, absichtlich oder unabsichtlich [durch bestimmte fehlerhafte Handlungen] versucht, die Mobilmachungskampagne in der Ukraine zu diskreditieren. Das ist sehr, sehr gefährlich.“
Der Gesetzentwurf zur Mobilmachung wurde inmitten einer neuen Runde provokativer Angriffe der Ukraine auf der Krim bekanntgegeben. Satellitenbilder zeigen erhebliche Schäden an dem russischen Panzerlandungsschiff „Nowotscherkassk“, das die Ukraine nach eigenen Angaben am vergangenen Dienstag durch einen Marschflugkörperangriff zerstört hat. Das Schiff, das zur russischen Schwarzmeerflotte gehört, hat nach Angaben des US-Militärs eine 87 Mann starke Besatzung und bietet Platz für 237 Soldaten.
Das ukrainische Militär und die ukrainische Presse machen viel Aufhebens von dem Angriff, doch wurde die Operation zeitlich so gelegt, dass sie von einer anderen Nachricht ablenken sollte: Die ukrainischen Streitkräfte hatten die Stadt Marinka in der östlichen Region Donezk verloren – ein weiterer Gebietsverlust für die Ukraine, über den sogar die New York Times berichten musste.