Nach einem für das Finanzsystem turbulenten Jahr notierte der US-Aktienmarkt zum Jahresende nahezu auf einem Rekordhoch.
Der Anstieg an der Wall Street, der durch die „weiche“ Wende der US-Notenbank auf ihrer Sitzung am 13. Dezember begünstigt wurde, wird durch die Markterwartungen von mindestens drei und möglicherweise sogar sechs Zinssenkungen im Jahr 2024 angeheizt.
Der Aufschwung an den Aktienmärkten setzt sich auf breiter Front fort. Der Dow hat in diesem Monat sieben neue Höchststände erreicht, und der S&P 500 liegt nur noch knapp unter seinem Rekordhoch vom Januar 2022, nachdem er seit seinem Tiefststand im vergangenen Jahr um 34 Prozent gestiegen ist. Und der weltgrößte Anleihemarkt, der US-Treasury-Markt, ist auf dem besten Weg, den größten jemals verzeichneten Zweimonatsgewinn zu erzielen.
Der Technologieindex NASDAQ 100 wird voraussichtlich den größten Anstieg seit 1999, dem Höhepunkt der Dot.com-Blase, verzeichnen. Angetrieben von den Gewinnaussichten der künstlichen Intelligenz ist er in diesem Jahr um 55 Prozent gestiegen.
Der Höhenflug der Märkte wird jedoch auch von der Sorge begleitet, dass die extreme Volatilität des Finanzsystems, die das ganze Jahr über zu beobachten war, zum Auslöser größerer Probleme einschließlich einer Krise werden könnte.
„Wir haben eine ‚Alles-ist-möglich‘-Rallye zum Jahresende. Das Ausmaß ist atemberaubend“, sagte Sonja Laud, Investmentchefin des größten britischen Vermögensverwalters Legal & General Investment, der Financial Times (FT). „Ich mache mir darüber große Sorgen. Es gibt keinerlei Spielraum für Fehler.“
Und trotz der Euphorie, die die Aussicht auf Zinssenkungen an den Märkten ausgelöst hat, sind die Auswirkungen des starken Zinsanstiegs der letzten 18 Monate – der Leitzins der Fed liegt nun bei über fünf Prozent, nachdem er mehr als ein Jahrzehnt lang nahe null gelegen hatte – noch immer im System präsent und können plötzliche Schocks auslösen.
So hatte beispielsweise niemand vorhergesehen, dass die Zinserhöhungen vom März drei der vier größten Bankenzusammenbrüche in der Geschichte der USA auslösen würden. Sie waren durch den schnellsten Abfluss von Geldeinlagen in der Geschichte gekennzeichnet und erforderten ein massives Eingreifen der Fed und der Regierung, um eine Finanzkrise zu verhindern.
Es ist bezeichnend, dass einer der besorgniserregendsten Bereiche der Markt für US-Staatsanleihen ist. Mit einem Volumen von fast 27 Billionen Dollar ist dieser Markt das Fundament des Finanzsystems in den USA und der ganzen Welt.
Es gibt Anzeichen dafür, dass die Volatilität zugenommen hat. Mitte des Jahres stiegen die Renditen zehnjähriger Anleihen, während sie verkauft wurden – Renditen und Anleihekurse bewegen sich gegenläufig – in der Erwartung, dass die Fed ihre geldpolitische Straffung beibehalten würde.
Doch als die Inflationszahlen zu sinken begannen und die Forderungen nach höheren Löhnen weiterhin von den Gewerkschaften unterdrückt wurden, forderten die Märkte verstärkt, dass die Zinsen gesenkt werden. Anfangs schien es, als würde sich die US-Fed diesen Forderungen widersetzen. Auf der Dezember-Sitzung warf der Fed-Vorsitzende Jerome Powell jedoch das Handtuch und vollzog eine Kehrtwende, nur zwei Wochen nachdem er zuvor darauf bestanden hatte, dass der bisherige Kurs beibehalten werde.
Das Ergebnis war, dass die Rendite der 10-Jahres-Anleihen, die im Oktober noch bei knapp über fünf Prozent lag, inzwischen auf etwa vier Prozent gefallen ist und noch weiter fallen dürfte. Auf einem Markt, auf dem Verschiebungen von Bruchteilen eines Prozentpunktes erheblich sein können, sind derart tektonische Bewegungen ein Zeichen von Instabilität.
Ein weiterer Grund zur Besorgnis, der in diesem Jahr aufgetaucht ist, sind die so genannten Basisgeschäfte. Dabei wird in großem Umfang auf die geringe Differenz zwischen den Anleihekursen und dem, was sie an den Terminmärkten einbringen werden, gewettet. Um das Geschäft rentabel zu machen, müssen die Händler wegen der geringen Preisunterschiede sehr viel Geld anleihen.
Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat in einem kürzlich erschienenen Artikel auf seiner Chartbook-Website darauf hingewiesen, dass die Regulierungsbehörden „besonders besorgt“ über den spekulativen Charakter dieser Art des Handels sind, bei dem ein Hedgefond ein Minimum an eigenem und ein Maximum an geliehenem Geld einsetzt.
Die Summen, die dabei auf dem Spiel stehen, sind gigantisch, mehr als eine halbe Billion Dollar.
„Nach einer Reihe von Schätzungen“, so Tooze, „haben Hedgefonds im Dezember 2022 Schulden in Höhe von 553 Milliarden US-Dollar in Form von Handelskrediten und einen Verschuldungsgrad von 56 zu 1. Damit ist das Potenzial entweder für große Verluste im Kreditsystem oder für eine große Hedgefonds-Pleite geschaffen“.
Die Zahl der betroffenen Fonds ist in diesem Jahr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gestiegen, so dass die Gefahr besteht, dass der Ausfall auch nur eines Fonds einen „Ansturm auf das Bargeld“ und eine Art „Untergangsspirale“ auslösen könnte, wie sie sich im Oktober 2022 in Großbritannien entwickelte, als fallende Anleihekurse Pensionsfonds zwangen, Anleihen zu verkaufen, um Bargeld zu beschaffen, was die Kurse noch weiter nach unten trieb.
Doch wie Tooze anmerkt, tappen die Regulierungsbehörden – selbst wenn sie einzugreifen versuchen – weitgehend im Dunkeln, weil „wir nicht alles über den Anleihemarkt und seine Funktionsweise wissen“.
Selbst wenn die Zinsen sinken sollten, werden sie wahrscheinlich immer noch weit über dem Niveau von nahe Null liegen, auf das sie nach dem Finanzcrash von 2008 und der quantitativen Lockerungspolitik der Fed gefallen sind, die Billionen Dollar ausgab, um Staatsanleihen zu kaufen.
Die Staatsverschuldung in den USA ist durch die steigenden Staatsausgaben für Krieg und Militär in die Höhe geschnellt. Sie hat mit über 33 Billionen Dollar ein neues Rekordniveau erreicht. Die Zinskosten für diese Schulden steigen rapide an. Sie sind inzwischen der drittgrößte Posten der Staatsausgaben, nach der Gesundheitsfürsorge und der Sozialversicherung.
Dies hat zu verstärkten Forderungen nach Kürzungen in wichtigen Bereichen der Sozialausgaben geführt, während die Militärausgaben weiter steigen. Mit anderen Worten: Um die ständig steigenden Kriegsausgaben zu finanzieren und die Gläubiger der Staatsschulden zu bezahlen, müssen die Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der Arbeiter verschärft werden.
Der jüngste Anstieg der Aktienmärkte und die Aussicht auf weitere Kursgewinne haben eine euphorische Stimmung erzeugt. Bei genauerem Hinsehen erweist sie sich jedoch als äußerst instabil.
In den 1960er und 1970er Jahren wurde die Wall Street von den so genannten „Nifty Fifty“ angetrieben, einer Gruppe von Qualitätsaktien, die gute Renditen abwarfen.
Diese Zeiten sind längst vorbei und der Markt wird nun von den sogenannten „Magnificent Seven“ dominiert. Dazu gehören die großen Tech-Namen Apple, Microsoft, Alphabet (Eigentümer von Google), Amazon, Tesla, Meta (Eigentümer von Facebook) und Nvidia.
Der Markt hat eine derartige Kopflastigkeit entwickelt, dass die Kurse dieser Aktien bis zur Jahresmitte zwischen 40 und 180 Prozent zulegten und den gesamten Anstieg des S&P 500 bis dahin ausmachten, während alle anderen Aktien unverändert blieben. In der Zwischenzeit haben sich zwar auch andere Unternehmen der „Alles-ist-möglich“-Rallye angeschlossen, aber die Mag7 dominieren nach wie vor und sind für 64 Prozent des Anstiegs des S&P verantwortlich.
In der FT hieß es kürzlich: „Ihre Unternehmensgröße ist so enorm, dass sie nicht nur die US-Aktienmärkte dominieren, sondern auch wesentlich zur Performance der globalen Aktienmärkte beitragen“.
Dieser hohe Konzentrationsgrad der Finanzmacht, der sich in diesem Jahr beschleunigt hat, spiegelt sich auch im Bankensektor wider. In den ersten neun Monaten des Jahres strich JPMorgan Chase fast 20 Prozent der Gewinne der US-Banken ein, so eine FT-Analyse, die sich auf Zahlen eines Branchenbeobachters stützt. Ein Jahr zuvor waren es noch rund 12 Prozent.
Die Gewinne von JPMorgan Chase übertrafen die der Konkurrenten Bank of America und Citigroup zusammen, und in den Worten eines Analysten von Wells Fargo ist „JPMorgan der Goliath unter den Goliaths“.
Doch während sich die Wall Street und das Finanzkapital über die Aussicht auf billigeres Geld freuen, beginnt die Wirtschaft zu schwächeln. Gewerbliche Immobilien beginnen, die Auswirkungen höherer Zinssätze zu spüren, die Verbraucherausgaben werden durch die Inflation beeinträchtigt, während die Löhne und Gehälter weiter zurückgelassen werden. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen nimmt zu – in den zwölf Monaten bis September um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – und es kommt zu Massenentlassungen, insbesondere im High-Tech-Sektor.
Unter der Oberfläche der derzeitigen Feierlichkeiten auf den Finanzmärkten sind all die Bedingungen, die zu den Turbulenzen des Jahres 2023 geführt haben, nicht verschwunden, sondern sie verschärfen sich weiter.