Am letzten Wochenende wurde der ehemalige Reeder und Goldman-Sachs-Banker Stefanos Kasselakis zum Parteivorsitzenden von Syriza (Koalition der radikalen Linken) in Griechenland gewählt. Er tritt damit die Nachfolge von Alexis Tsipras an.
Kasselakis erhielt fast 57 Prozent der Stimmen von 133.600 Parteimitgliedern, was einer Beteiligung von über 70 Prozent entspricht. Bis zum Jahr 2023 war nichts bekannt über Verbindungen zwischen Kasselakis und Syriza. Er lebte bis vor einigen Monaten in den USA, wo er nicht nur eine Reederei leitete und für Goldman Sachs arbeitete, sondern sich im Jahr 2008 auch als Freiwilliger beim Vorwahlkampf von Joe Biden engagierte und am Center for Strategic and International Studies (CSIS) arbeitete.
An seinem oberflächlichen Wahlkampf, in dem konkrete politische Inhalte fast völlig fehlten, fallen folgende drei Kommentare auf.
Erstens, in einer im Juli veröffentlichten Kolumne erklärte Kasselakis, dass sein plötzliches Engagement in der griechischen Politik ein „kurzes Zwischenspiel zwischen zwei Kapiteln meiner Geschäftskarriere“ sei.
Zweitens, dass er aufgrund seiner „besseren Englisch-, Finanz- und Wirtschaftskenntnisse“ besser geeignet sei, den griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis zu besiegen.
Drittens erklärt er, Syriza sollte „einfach so schnell wie möglich das Rezept der USA kopieren“ und eine „Volkspartei“ nach dem Muster der Demokraten aufbauen.
Gratulationen an die Adresse des neuen Parteichefs kamen u.a. von der rechten Regierungspartei Nea Dimokratia (ND). Deren Sprecher Pavlos Marinakis begrüßte mit Beifall, dass es eine „ernsthafte und glaubwürdige Opposition“ gebe und „Syriza auf einem realistischeren Weg“ sei.
Der ehemalige ND-Abgeordnete Evangelos Antonaros, der im Mai bei den Wahlen auf Wunsch von Tsipras für Syriza kandidierte, erklärte: „Wir unterstützen Kasselakis, weil er die Partei in die Mitte rücken will, das Terrain, das Syriza bei den letzten Wahlen verloren hat.“
Die Wahl von Kasselakis entlarvt erneut auf vernichtende Weise die Kräfte, die Syrizas linke Selbstdarstellung in ihrem ersten Wahlkampf 2014–15 unterstützt haben. Sie bestätigt die Einschätzung der World Socialist Web Site, die Syriza als pseudolinke Partei bezeichnet, die Schichten der wohlhabenden Mittelklasse repräsentiert und den Interessen des Finanzkapitals und der imperialistischen Mächte dient.
Syriza wurde im Jahr 2015 wegen ihrer Versprechen gewählt, sich den Sparauflagen der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds zu widersetzen. In einem von der Partei etwas später im Jahr 2015 organisierten Referendum lehnten sechzig Prozent der Wähler die verheerende „Umstrukturierung“ der griechischen Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes ab, die von den europäischen Banken und Regierungen gefordert wurde.
Syriza ignorierte dieses Mandat, setzte in den folgenden vier Jahren in Koalition mit den rechtsradikalen Unabhängigen Griechen eine beispiellose Sparpolitik im Land durch und unterdrückte brutal jeden Widerstand der Arbeiterklasse. Gleichzeitig wurden die Militärausgaben effektiv erhöht.
Die sozialen Folgen waren verheerend, stürzten die Arbeiter in schreckliches Elend und dienten als Vorlage für eine Welle weiterer Ausgabenkürzungen und Lohnsenkungen in ganz Europa. Wenn Kasselakis erklärt, „ich erweise Alexis Tsipras meine Hochachtung und bin hier, um sein Vermächtnis am Leben zu erhalten“, so ist dies eine Drohung, die sich gegen die Arbeiterklasse richtet.
Als Angehöriger des CSIS, einer der wichtigsten Denkfabriken des US-Imperialismus, dessen Ursprünge im Kalten Krieg liegen, wird er auch Syrizas Eintreten für die Nato und den Krieg gegen Russland in der Ukraine bekräftigen.
Griechenland ist während Syrizas Amtszeit Mitglied der Nato geblieben, hat ihre Operationen im Mittelmeer und dem Schwarzen Meer ermöglicht und eine wichtige Rolle bei der Aufnahme von Nordmazedonien gespielt. Im Jahr 2018, dem Jahr, bevor die Partei abgewählt wurde, waren die Militärausgaben mit 2,4 Prozent des BIP die zweithöchsten pro Kopf unter den Nato-Mitgliedsstaaten – direkt nach den USA. In der Opposition stimmte Syriza letztes Jahr für die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato.
Angesichts der Verschärfung des Ukrainekriegs wurde Kasselakis mit aktiver Unterstützung durch Washington in die griechische Politik katapultiert, um sicherzustellen, dass diese Politik vertieft und die größten Parteien Griechenlands die Nato-freundliche Front beibehalten – gegen die in der Bevölkerung weit verbreitete Feindschaft gegenüber der Nato.
Er übernimmt eine völlig diskreditierte Organisation. Syriza hat an Unterstützung verloren, seit sie erstmals an die Macht gekommen ist. Im Jahr 2019 wurde sie in der Regierung durch die Nea Dimokratia abgelöst. Ihre Zeit in der Opposition hat ihren Niedergang nicht beendet. Zwischen Januar 2015 und den letzten Wahlen im Juni 2023 ist Syrizas Stimmanteil um die Hälfte auf weniger als achtzehn Prozent gesunken.
Parteichef Tsipras war nach der Wahlniederlage im Juni zurückgetreten und leitete damit die Wahlen für einen neuen Vorsitzenden ein, die Kasselakis an die Spitze brachten. Jetzt, da sich der Rückhalt in der Bevölkerung, den sie vor acht Jahren hatte, in Nichts aufgelöst hat, tritt das politische Wesen der Partei zutage. Syriza hat sich von einer Partei, die den Bankern dient, in eine Partei verwandelt, die direkt von einem Banker geführt wird.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) hatte auf der Grundlage einer marxistischen Analyse der Klassenkräfte bereits im Vorfeld der Wahlen vor der reaktionären Rolle gewarnt, die Syriza in der Regierung spielen würde. Am 24. Januar 2015, unmittelbar vor den Wahlen, die sie an die Macht brachten, erschien auf der WSWS ein Artikel, in dem es hieß:
Nach fünf Jahren brutaler, von der EU und dem IWF diktierter Sparmaßnahmen liegt das Land wirtschaftlich und sozial am Boden. Die traditionellen Parteien sind derart verhasst, dass die Partei Syriza (hervorgegangen aus der „Koalition der Radikalen Linken“) große Chancen hat, die Wahl zu gewinnen und die Regierung zu übernehmen. Doch für die arbeitende Bevölkerung wäre eine Syriza-Regierung kein Ausweg aus der Krise. Sie stellt im Gegenteil eine enorme Gefahr dar.
Syriza ist, ungeachtet ihrer linken Fassade, keine Arbeiter-, sondern eine bürgerliche Partei, die sich auf wohlhabende Schichten der Mittelklasse stützt. Ihre Politik wird bestimmt von Gewerkschaftsbürokraten, Akademikern, Selbständigen und Parlamentsfunktionären, die ihre Privilegien verteidigen wollen, indem sie die soziale Ordnung bewahren. Während ihr Vorsitzender Alexis Tsipras den Wählern in Griechenland eine – äußerst geringe – Milderung des verheerenden Sparkurses verspricht, versichert er den Vertretern der Banken und Regierungen im Ausland unermüdlich, sie hätten von einer Syriza-Regierung „nichts zu befürchten“.
Genau dieses soziale Milieu hat Kasselakis unterstützt. Und ihr führender Vertreter während der letzten zehn Jahre war Tsipras, der sich jetzt anschickt, einen – aus der Sicht des griechischen und europäischen Kapitalismus – wohlverdienten Ruhestand zu genießen. Sein ehemaliger Finanzminister Yanis Varoufakis führt heute mit einem Jahreseinkommen von etwa 200.000 Euro pro Jahr ein sehr komfortables Leben auf der idyllischen Insel Aegina und leitet formell die Partei MeRA25 (eine Syriza 2.0).
Während die Pseudolinken weltweit um Unterstützung für Syriza warben und ihre Verrätereien entschuldigten, veröffentlichte das IKVI am 15. November 2015 (auf Deutsch am 21. November) eine Analyse mit dem Titel „Die politischen Lehren aus dem Verrat Syrizas in Griechenland“. Darin klagte es diese Organisationen an und fasste die Ereignisse in Griechenland folgendermaßen zusammen:
Syriza stützte sich auf die Dienste einer ganzen Schicht von politischen Tendenzen, die Illusionen schürten, Syriza würde sich dem Diktat des griechischen und internationalen Finanzkapitals widersetzen. Diese ganze Ansammlung pseudolinker Parteien ist jetzt als reaktionäres Werkzeug des Finanzkapitals bloßgestellt.
Die Wahl von Kasselakis formalisiert diese Beziehung und bestätigt die von vornherein getroffene Einschätzung des IKVI:
Die zentrale Aufgabe ist die politische Neubewaffnung der Arbeiterklasse und der Aufbau einer neuen revolutionären Führung, die sich auf die erbarmungslose Kritik an den Parteien, Persönlichkeiten und politischen Konzepten stützt, die für die Niederlage [der griechischen Arbeiterklasse] verantwortlich sind.
In Griechenland, in Europa und überall auf der Welt kann die Arbeiterklasse sich nur verteidigen durch den Aufbau neuer Parteien der Arbeiterklasse, die völlig unabhängig sind von allen Teilen der kapitalistischen Klasse und sich auf ein internationalistisches revolutionäres Programm gründen. Dessen Ziel muss die Errichtung der Arbeitermacht, die Abschaffung des Kapitalismus und die Errichtung einer weltweiten sozialistischen Gesellschaft sein.
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