Seit dem aserbaidschanischen Angriff auf armenische Soldaten und russische Friedenstruppen in der Enklave Bergkarabach am 20. September sind mehr als 50.000 Armenier aus der umstrittenen Region geflohen. Die armenischen Truppen haben sich mittlerweile ergeben. Ein beträchtlicher Teil der 120.000-köpfigen Bevölkerung von Bergkarabach wurde zu Flüchtlingen.
Am Donnerstag unterzeichnete der Präsident der selbst ernannten armenischen Republik, Samwel Schahramanjan, den armenischen Behörden zufolge ein Dekret zur Auflösung aller staatlichen Institutionen zum 1. Januar 2024.
Der brudermörderische Krieg zwischen den zwei ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan, der sich vor dem Hintergrund des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine ereignet, ist eine weitere katastrophale Konsequenz aus der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie 1991. Der erste Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach begann 1989 und endete 1994 mit der Eroberung der Region durch Armenien. Angesichts des Nato-Kriegs in der nahegelegenen Ukraine flammt dieser Konflikt wieder auf.
Bereits im Jahr 2020 brachten aserbaidschanische Einheiten den armenischen Truppen in Bergkarabach eine Niederlage bei. Sie waren mit Drohnen bewaffnet und wurden vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan unterstützt. Seit Juni hat der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew eine Blockade über Bergkarabach verhängt, die Transportwege über Land gesperrt und der Enklave den Zugang zu Nahrungsmittel- und Medizinimporten unterbunden. Letzte Woche griff Aserbaidschan armenische Truppen an, die sich nach eintägigen Kämpfen ergeben mussten.
Laut unbestätigten Berichten bombardierten aserbaidschanische Einheiten die Dörfer und kontrollieren die Hauptstadt Stepanakert (auf Aserbaidschanisch: Chankendi). Zehntausende Zivilisten sind aus Bergkarabach geflohen. Am Montag ereignete sich eine weitere Tragödie, als ein Treibstoffdepot in Stepanakert explodierte, das von zivilen Autos umstellt war, die vor der Flucht nach Armenien noch einmal auftanken wollten. Bei der Explosion wurden mindestens 68 Menschen getötet und 290 weitere verwundet; viele erlitten ernsthafte Verbrennungen, die in der abgeriegelten Enklave nicht behandelt werden können.
Aserbaidschanische Regierungsvertreter wiesen die Behauptung zurück, sie würden zivile Wohngebiete angreifen, doch nach Armenien geflüchtete Zivilisten berichteten den internationalen Medien von schrecklichen Verhältnissen. Petja Grigorjan, ein 69-jähriger Fahrer, der nach Armenien geflohen ist, berichtete Reuters, aserbaidschanische Kräfte hätten sein Heimatdorf Kotschogot bombardiert. Auf den Straßen sollen Lastwagen voller Toten gelegen haben. „Es war keiner da, der sie hätte begraben können. ... Wir nahmen, was wir konnten und verschwanden. Wir wissen nicht, wo wir hingehen sollen, wir können nirgends hin.“
Nairy, ein Bauarbeiter, ist mit seiner Familie aus dem Dorf Schosch geflohen, als dieses von aserbaidschanischen Truppen beschossen wurde. Reuters gegenüber erklärte er: „Die Kinder waren verletzt. Wir saßen in den Kellern, bis die Friedenstruppen kamen und die Leute rausbrachten.“ Er und seine Familie flohen zum Flughafen Stepanakert, wo Tausende im Freien schliefen. „Wir sind den Jungs sehr dankbar, dass sie ihre Rationen mit den Kindern geteilt haben. Die russischen Friedenstruppen haben gehungert und ihre Rationen den Kindern gegeben.“
Narine Shakarjan erklärte, sie und ihre Familie seien im Auto ihres Schwiegersohnes geflohen. Sie seien in 24 Stunden nur 77 Kilometer weit gekommen und ganz ohne Nahrung nach Armenien gefahren. Sie erklärte: „Die Kinder haben die ganze Fahrt über geweint, weil sie Hunger hatten. Wir sind geflüchtet, damit wir am Leben bleiben.“
Aserbaidschanische Truppen griffen auch die russischen Soldaten an, die seit dem Krieg von 2020 als Friedenstruppen in Bergkarabach stationiert sind. Laut Angaben des russischen Militärs wurden fünf Männer getötet, darunter ein Kapitän der russischen Nordflotte. Aserbaidschanische Regierungsvertreter bezeichneten dies als Falschinformation und kündigten eine gemeinsame Untersuchung des Vorfalls mit der russischen Staatsanwaltschaft an.
Die Katastrophe, die sich in Bergkarabach abspielt, ist untrennbar mit dem allgemeinen Versinken der ehemaligen Sowjetunion in Bruderkriege verbunden. Auch der derzeitige Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist Ausdruck davon. Dies ist das giftige Nebenprodukt des Nationalismus der Sowjetbürokratie und ihrer falschen stalinistischen Theorie vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ sowie der jahrzehntelangen Kriege der imperialistischen Mächte im Nahen Osten und Zentralasien nach dem Ende der Sowjetunion.
Die großen kapitalistischen Regierungen geben sich nicht damit ab, Massaker oder die Vertreibung von Zivilisten aus ihrer Heimat zu verhindern. Vielmehr wollen sie die Krise nutzen, um ihre strategische Position im Krieg zu verbessern. Der US-Imperialismus spielt dabei die Vorreiterrolle, indem er versucht, Armenien und dessen Nato-freundlichen Präsidenten Nikol Paschinjan aus seinen traditionell engen Beziehungen zu Russland und dem Iran zu lösen.
Paschinjan reagierte auf das militärische Debakel Armeniens mit Angriffen auf Russland: „Die Fähigkeiten Russlands haben sich durch die Ereignisse in der Ukraine verschlechtert. ... Das alles sollte im Verantwortungsbereich der russischen Friedenstruppen liegen, und was diese Fragen angeht, sind sie mit ihrer Mission gescheitert.“
Am Dienstag begrüßte Paschinjan die Chefin der US Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) Samantha Power in der armenischen Hauptstadt Jerewan, wo sie an das Gewissen des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew appellierte. Sie forderte ihn auf, „die Waffenruhe einzuhalten und konkrete Schritte zu unternehmen, um die Rechte der Zivilisten in Bergkarabach zu schützen.“ Sie schlug zudem eine „internationale Beobachtungsmission“ in der Region vor.
Powers zynische Rhetorik zielt nicht darauf ab, der Zivilbevölkerung zu helfen oder Alijew zu beeinflussen, der die Eroberung Bergkarabachs anstrebt und offen erklärt, er strebe eine Kontrolle mit „eiserner Faust“ an. Vielmehr zielt Power darauf ab, den Einfluss der Nato an den Grenzen Russlands und in der Nähe der wichtigsten Kriegsschauplätze in der Ukraine auszuweiten.
Tatsächlich ist der Kaukasus nicht nur reich an wertvollen natürlichen Rohstoffen, sondern liegt auch strategisch günstig in der Nähe der an die Krim und die Ukraine angrenzenden Gebiete Russlands. Eine strategische und militärische Präsenz der Nato im Kaukasus würde sie bei der Vorbereitung auf einen direkten Krieg gegen Russland stärken.
Am Montag reiste Erdoğan zu einem Besuch bei Alijew nach Aserbaidschan und begrüßte den Sieg der aserbaidschanischen Truppen in der „Anti-Terror-Operation“ in Bergkarabach, wie Alijew sich ausdrückte. Erdoğan erklärte zynisch: „Es ist ein Anlass, stolz zu sein, dass die Operation in so kurzer Zeit mit so großer Rücksicht auf die Rechte der Zivilbevölkerung abgeschlossen wurde.“
Erdoğan und Alijew unterzeichneten ein Abkommen für eine gemeinsame Gaspipeline, die aserbaidschanisches Gas über die von Armenien und Aserbaidschan beanspruchten Gebiete in die Türkei befördern soll. In den Wochen vor der jüngsten Offensive Aserbaidschans hatten die türkische und die aserbaidschanische Regierung die Öffnung des 'Zanzegur-Korridors' ins Gespräch gebracht. Dabei handelt es sich um einen von Armenien abgelehnten Plan, Aserbaidschan mit der autonomen Republik Nachitschewan und der Türkei zu verbinden. Hierfür will Aserbaidschan die Kontrolle über eine durch armenisches Gebiet führende Straße übernehmen.
Ebenfalls am Montag schloss sich der Sprecher des US-Außenministeriums Matthew Miller Paschinjans Äußerungen an und erklärte, der Krieg zeige, dass Russland zu schwach sei, um Armenien zu verteidigen: „Ich glaube, dass Russland gezeigt hat, dass es in Sicherheitsfragen als Partner unzuverlässig ist.“ Miller forderte eine „internationale Mission“ im Kaukasus.
Der russische Botschafter in den USA Anatoli Antonow warf Miller daraufhin vor, er wolle „Russland strategisch schaden [und] uns aus der Region vertreiben.“
Die einflussreiche Washingtoner Denkfabrik Center for Strategic and International Studies schrieb, der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan böte der Nato die Gelegenheit, Russland als stärkste Militärmacht im Kaukasus abzulösen:
Russlands groß angelegter Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 hat seine Fähigkeit verringert, wirkungsvoll in den seit Jahrzehnten andauernden Konflikt einzugreifen und ihn zu kontrollieren... Das hat anderen externen Akteuren wie der Türkei, Israel und dem Iran Gelegenheit verschafft, ihre eigenen Interessen und Vorhaben in der Region durchzusetzen. Die neue aserbaidschanische Offensive gegen Armenien in Karabach ist beispielhaft für die Verschiebungen in der Machtdynamik und verschafft westlichen Entscheidungsträgern eine Gelegenheit, als potenzieller Garant eines längerfristigen Friedens im Kaukasus aufzutreten – ein Titel, den bisher Russland für sich beansprucht hat.
Um die Kriegsspirale zu beenden, muss die Arbeiterklasse in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und im Rest der Welt sich zusammenschließen. Dies ist nur auf der Grundlage trotzkistischer Prinzipien möglich und bedingt einen Kampf gegen Imperialismus und Stalinismus und für die sozialistische Revolution.
Der eskalierende Krieg der Nato gegen Russland verhindert eine friedliche Lösung der blutigen ethnischen Konflikte, die in Folge der Auflösung der Sowjetunion entstanden sind. Notwendig ist der Aufbau einer internationalen sozialistischen Bewegung der Arbeiterklasse gegen Imperialismus, Krieg und die korrupten kapitalistischen Regimes, die aus der Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion hervorgegangen sind.