Mick Lynch, Vorsitzender der Gewerkschaft Rail, Maritime and Transport (RMT), hat das faktische Ende des Arbeitskampfs angekündigt, den die Eisenbahner seit 18 Monaten führen, um Löhne und Arbeitsbedingungen zu verteidigen.
Im Juni letzten Jahres haben erstmals 40.000 RMT-Mitglieder die Arbeit niedergelegt, um die Pläne der Regierung abzuwehren, welche die Löhne kürzen, die Arbeitsbedingungen verschlechtern und Tausende von Beschäftigten entlassen will. Seitdem haben die Eisenbahner wiederholt gestreikt, wobei sie seit dem Jahreswechsel immer seltener aufgerufen wurden. Im März 2023 hat die RMT-Führung 20.000 Mitglieder von Network Rail mit einem miserablen Tarifvertrag abgespeist, der noch unter der Inflation liegt. Seither befindet sich nur noch die Hälfte der ursprünglich beteiligten RMT-Mitglieder im Arbeitskampf.
Zuletzt wurden zwei Streiktage für die beiden Samstage, 26. August und 2. September, angekündigt. Am Donnerstag davor schickte Lynch eine Mitteilung an die RMT-Mitglieder, die bei den britischen Train Operating Companies (TOCs) beschäftigt sind. [Als Train Operating Companies werden Bahnunternehmen bezeichnet, die unter der gemeinsamen Marke National Rail Personenzüge betreiben.] Lynch teilte den gewerkschaftlich organisierten Eisenbahnern mit: „Der nationale Gewerkschaftsvorstand hat den Konflikt erneut geprüft und die folgenden Richtlinien und Ziele für unsere Verhandlungsführer festgelegt.“
Die Gewerkschaft, hieß es weiter, werde den Unternehmern erlauben, „ihre Gespräche mit der RMT, einschließlich formeller Konsultationen und Verhandlungen, so lange aufzuschieben, bis die Regierung das Ergebnis der Konsultation über die Schließung von Ticketschaltern vorlegt, und diese Gespräche werden auf keinen Fall vor dem 1. Dezember 2023 beginnen.“ Da das bestehende sechsmonatige Mandat der RMT im November ausläuft, bedeutet dies selbst dann, wenn die Gewerkschaft vor diesem Datum eine neue Urabstimmung einberuft, dass weitere Arbeitskämpfe mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vor Ende des Jahres stattfinden werden.
In der Mitteilung heißt es weiter, die Gewerkschaft wolle „die Zusage erhalten, dass in der Zwischenzeit, d.h. vor dem 1. Dezember 2023, jede Eisenbahngesellschaft der RMT schriftlich eine vollständige Agenda und Einzelheiten ihrer Workforce Reform vorlegt“, bzw. die Reformpläne offenlegt, die sie „für sämtliche Funktionen und Besoldungsgruppen [ihres Personals] im Unternehmen umzusetzen gedenkt“.
Um sicherzustellen, dass es in der Zwischenzeit zu keinem Arbeitskampf kommt, und dass die Unternehmen ausreichend Zeit erhalten, um ihre Workforce Reform (einschließlich Lohn- und Gehaltskürzungen, wachsendem Arbeitsdruck und Produktivitätssteigerungen) auszuarbeiten, fügte die Gewerkschaft ihrem Schreiben noch hinzu: „Wir erwarten die Zusage, dass die bestehenden Tarifverhandlungsstrukturen und -verfahren in jedem Unternehmen respektiert und in vollem Umfang eingehalten werden. Dies schließt Konsultationen und Verhandlungen in jeweils angemessener Form ein und sieht gegebenenfalls die Anwendung von Verfahren vor, um Konflikte zu vermeiden.“
Im April hatte die Gewerkschaft als wichtigen Schritt zur Beendigung des Konflikts den sogenannten Workforce Reforms & Pay Dispute Resolution Process unterzeichnet. Es handelt sich dabei um ein Verfahren, das die „Beilegung von Streitigkeiten über Personalreformen und Löhne“ vorsieht. Dieser Prozess „umfasst die Umstrukturierung der Bahnhöfe und der Verkaufsschalter und die Schaffung einer neuen, vielseitig qualifizierten Funktion an den Stationen, sowie die Umstrukturierung in den Bereichen Catering, Verwaltung und Eisenbahnflotte, einschließlich der besonderen Personalreformen ...“.
Entsprechend diesem Verfahren ist vorgesehen, dass „die Verkehrsunternehmen und die Arbeitnehmervertreter in den Betriebsräten (…) eine Reihe von Treffen planen, um innerhalb eines Zeitrahmens von voraussichtlich drei Monaten sinnvolle Diskussionen über die detaillierten Vorschläge zur Personalreform zu führen“.
Das Verfahren, das Lynch als Weg zur Konfliktvermeidung anpreist, ist Teil einer bereits bestehenden Vereinbarung, die einen Aufschub von mindestens drei Monaten zwingend vorschreibt, ehe zu einem Arbeitskampf aufgerufen wird. In seinem Dokument heißt es weiter: „Wenn das Verweisungsverfahren abgeschlossen ist, und allenfalls keine Einigung erzielt wurde, gilt das Tarifverhandlungsverfahren als erschöpft. Nach Ausschöpfung des Tarifverhandlungsverfahrens AOD [Avoidance of Dispute] kann eine neue Urabstimmung über Arbeitskampfmaßnahmen eingeleitet werden. Bevor die Bahnunternehmen mit der Umsetzung spezifischer Änderungen der Besoldungsgruppen im Zusammenhang mit dem AOD fortfahren, werden weitere zwei Wochen vergehen, um beiden Parteien eine Bedenkzeit zu ermöglichen.“
Die Gewerkschaft hat keine konkrete prozentuale Gehaltsforderung aufgestellt, sondern fordert lediglich die Zusage, dass sie „einen einjährigen Gehaltsvorschlag für alle Unternehmen für das Betriebsjahr 2022–2023 bekommt, der auch eine rückwirkende Aufstockung zu den jeweiligen Jahrestagen von 2022 enthalten wird“.
Während die Drohung im Raum steht, dass tausende Arbeitsplätze im ganzen Schienennetz vernichtet werden, lautet die einzige Forderung der RMT: „Eine Garantie muss gewährt werden, dass auf betriebsbedingte Kündigungen verzichtet wird.“
Lynchs jüngste Mitteilung hat deutlich gemacht, dass dies auch künftig so bleibt. Die RMT versucht lediglich, „eine Zusage zu erhalten, dass die Lohnverhandlungen für das Jahr 2023–2024 am 1. Dezember 2023 beginnt“. (Der aktuelle Konflikt betrifft das Jahr 2022–2023) In einem YouTube-Video kommentierte Lynch: „Es könnte einige Zeit dauern, bis die Ergebnisse der Beratungen über die Bahnhöfe bekannt werden. Und dann könnten wir uns mit anderen Themen befassen, einschließlich der Agenda der Unternehmen und der Regierung, aber auch mit eurem Lohn für 2023–2024, der ebenfalls überfällig ist.“
Seit dem vergangenen Sommer haben die RMT-Mitglieder bei der Bahn an 33 Tagen gestreikt. Und weil es dafür kein Streikgeld gab, haben sie Tausende von Pfund an Einkommen verloren. Die Streikenden mussten individuelle Härtefallanträge bei der Gewerkschaft stellen, während Lynch selbst 84.000 Pfund im Jahr verdient, zuzüglich Sozialversicherung, Steueranteilen und Rentenbeiträgen. Entsprechende Beschwerden wimmelte Lynch mit den Worten ab: „Wende dich an deine Zweigstelle, wenn du Unterstützung benötigst. Das sind Solidaritätsgelder der Mitglieder, die zur Unterstützung von Streikenden bereitstehen. Es ist kein Almosen.“
Die Entwicklung unterstreicht die Warnungen der WSWS, dass die Kampagne der RMT gegen die Schließung der Ticketschalter nur ein Deckmantel für ihren Verrat am Arbeitskampf ist. Anfang Juli haben die Manager des Bahn-Interessenverbands Rail Delivery Group (RDG) mit Unterstützung der Regierung die Schließung der meisten der 1.007 Fahrkartenschalter an den Bahnhöfen ganz Englands angekündigt. Das wird in den nächsten drei Jahren zum Verlust Tausender von Arbeitsplätzen führen.
Unzählige Aufgaben, die bisher die Ticketverkäufer an diesen Schaltern erledigten, werden künftig auf die Zugbegleiter abgewälzt. Das geht zweifellos zu Lasten der Sicherheit im Bahnverkehr. Als Reaktion darauf unterstützt die RMT eine dreiwöchige öffentliche Konsultation, die jedoch völlig zahnlos ist. Sie sollte ursprünglich am 26. Juli enden. Aber der Widerstand in der Öffentlichkeit gegen die Abschaffung dieser lebenswichtigen Dienstleistung war so groß, dass die Konsultation bis zum 1. September verlängert worden ist. Und bisher haben schon mehr als 460.000 Menschen Protestnoten an die Konsultationsstellen London TravelWatch und Transport Focus geschickt.
In der Zwischenzeit hat die RMT ihre Arbeitskampfmaßnahmen auf ein Minimum beschränkt. Im Juli haben sie die Verkehrsbetriebe bloß an drei Tagen, am 20., 22. und 29. Juli, bestreikt. Außerdem wurde am 26. August ein Streiktag durchgeführt und ein weiterer für den 2. September angekündigt.
Die Kampagne der RMT konzentriert sich auf die Proteste gegen die Schalterschließungen. Die Gewerkschaft hat die Öffentlichkeit aufgerufen, an ihr lokales Bahnunternehmen zu schreiben und an Abgeordnete und Ratsmitglieder aller Parteien zu appellieren, dass sie sich gegen die Schließungspläne wenden. Die RMT rief für den 13. und 18. Juli zu zwei weiteren „Aktionstagen“ auf, die jedoch reine Protestaktionen vor den Stationen waren. In einem Rundschreiben forderte Lynch die Mitglieder in drei Zeilen auf: „(...) ich möchte dich darauf hinweisen, dass es sich um Aktionstage handelt, bei denen es darum geht, Postkarten an die Fahrgäste zu verteilen und sie auf die Kampagne aufmerksam zu machen, und nicht um irgendeine Form von Arbeitskampf.“
Die Kampagne, von den konservativen Abgeordnete und Bahnmanagern einen Kurswechsel zu erbitten, ist aber derart erbärmlich, dass nur wenige an den beiden Aktionstagen teilgenommen haben. Hauptsächlich wurden sie von einigen RMT-Funktionären und Mitgliedern pseudolinker Gruppen getragen.
Da die Konsultationsfrist am 1. September endet, soll die bankrotte RMT-Kampagne „Rettet unsere Ticketschalter“ am 31. August in einem Marsch vor das Verkehrsministerium und einer Kundgebung vor der Downing Street ihren Höhepunkt finden. Dieser wird also darin bestehen, an Premierminister Rishi Sunak zu appellieren. Die RMT erklärte, ihr Ziel sei es, „diese Pläne zu vereiteln, zu verwässern und zu verzögern“.
Alles geht von der Annahme aus, dass die Konservativen einen Sinneswandel vollziehen könnten. Dieselben Tories haben sich jedoch schon geweigert, den Streiks der Bahn- und Postbeschäftigten, des Pflegepersonals und der Lehrkräfte im letzten Jahr nachzugeben. In der Erklärung der RMT heißt es: „Wenn [die Verbraucherorganisationen] Transport Focus und London Travelwatch Einwände gegen die Schließung der Ticketschaltern erheben, wird die Entscheidung dem Verkehrsminister vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt wird eine neue Kampagne stattfinden, um direkt Druck auf den Verkehrsminister Mark Harper auszuüben, damit die Fahrkartenschalter offen bleiben.“
Die Eisenbahner müssen der RMT den Kampf aus den Händen nehmen. Der Konflikt steht kurz vor der totalen Niederlage, wie sie schon mehr als eine Million Postbeschäftigte, Pflegekräfte und Lehrerinnen und Lehrer erlitten haben. In jedem Betrieb müssen Aktionskomitees gebildet werden. Sie werden alle Eisenbahner und Bahnbeschäftigten in einem gemeinsamen Kampf vereinen und eine echte Gegenoffensive gegen diese verhasste Regierung vorbereiten.