Israel: Mehr als 1.500 Akademiker verurteilen apartheid-ähnliches Regime gegen Palästinenser

Akademiker und andere Personen des öffentlichen Lebens in Israel und den USA haben einen offenen Brief unterzeichnet, der eine vernichtende Anklage gegen das brutale Regime über die Palästinenser in den besetzten Gebieten und Israel darstellt.

Der Brief markiert einen Wendepunkt in den anhaltenden Massenprotesten gegen die Bestrebungen von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seiner Regierung aus Ultranationalisten und religiösen Zionisten, die Justiz zu entmachten und sich selbst unbeschränkte Befugnisse zu verleihen.

Zehntausende Israelis protestieren am Montag, 27. März 2023, vor dem Parlament in Jerusalem gegen die Justizreform von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu [AP Photo/AP]

Der Brief wurde von der Gruppe Jews for Justice verfasst und prangert das Versäumnis der Führer der Proteste an, „das eigentliche Problem“ anzuerkennen. Sie betonen: „Es kann für Juden in Israel keine Demokratie geben, solange die Palästinenser unter einem Regime leben, das von israelischen Rechtsexperten als Apartheid beschrieben wird.“

Mehr als 1.500 überwiegend jüdische Intellektuelle haben den Brief unterzeichnet. Er fasst die Situation in Israel prägnant, aber vernichtend zusammen und beschreibt die Aufgaben, mit denen ein wirklicher Kampf gegen die rechtsextreme Regierung konfrontiert ist.

Zu Beginn des offenen Briefs wird auf die „direkte Verbindung zwischen den jüngsten israelischen Angriffen auf die Justiz und das illegale Besatzungsregime über Millionen von Palästinensern in den besetzten Gebieten“ hingewiesen. „Palästinensern werden fast alle Grundrechte vorenthalten, einschließlich des Wahl- und Demonstrationsrechts. Sie sind ständig Gewalt ausgesetzt: Alleine in diesem Jahr haben israelische Streitkräfte im Westjordanland und im Gazastreifen mehr als 190 Palästinenser getötet und mehr als 590 Gebäude abgerissen. Bürgerwehren der Siedler legen ungestraft Brände, plündern und töten.“

Sie ziehen die notwendige Schlussfolgerung: „Ohne gleiche Rechte für alle, egal ob in einem oder zwei Staaten oder in irgendeinem anderen politischen Rahmen, besteht immer die Gefahr einer Diktatur. Es kann für Juden in Israel keine Demokratie geben, solange die Palästinenser unter einem Regime leben, das von israelischen Rechtsexperten als Apartheid beschrieben wird. Tatsächlich ist das letztendliche Ziel der Justizreform, die Auflagen im Gazastreifen zu verschärfen, den Palästinensern auf beiden Seiten der Grünen Linie die gleichen Rechte abzusprechen, immer mehr Land zu annektieren und alle Territorien unter israelischer Herrschaft von ihrer palästinensischen Bevölkerung zu säubern.“

Dann stellt der Brief klar: „Die Probleme haben nicht mit der jetzigen radikalen Regierung begonnen: Jüdischer Chauvinismus hat sich seit Jahren ausgebreitet und wurde 2018 durch das Nationalstaatsgesetz sogar gesetzlich verankert.“

Von großer Bedeutung ist, dass der Brief auf eine zunehmende politische Spaltung zwischen Juden in den USA und Israel hinweist. Diese geht teilweise auf Unterschiede zwischen Generationen zurück, aber auch auf eine gegensätzliche Klassenpositionen.

„Während sich Israel immer mehr nach rechts entwickelt und unter die Kontrolle der messianischen, homophoben und frauenfeindlichen Agenda der aktuellen Regierung geraten ist, wenden sich junge amerikanische Juden zunehmend von Israel ab. Gleichzeitig unterstützen milliardenschwere US-amerikanische jüdische Geldgeber die extreme Rechte in Israel.“ 

Der Brief endet mit einem Appell an die „Führung des nordamerikanischen Judentums“, Israels Protestbewegung zu unterstützen, „aber sie aufzufordern, für die Gleichheit für Juden und Palästinenser einzutreten“, „Menschenrechtsorganisationen zu unterstützen, die Palästinenser verteidigen“, „die Vorschriften für Lehrmaterialen und Lehrpläne für jüdische Kinder und Jugendliche zu überarbeiten“ und von der Führung der USA zu fordern, dass sie „helfen die Besatzung zu beenden, und die amerikanische Militärhilfe so einzuschränken, dass sie nicht in den besetzten Palästinensergebieten eingesetzt werden kann, sowie Israels Straffreiheit bei den UN und anderen internationalen Organisationen zu beenden“.

Israelische Sicherheitskräfte während Zusammenstößen mit Palästinensern nach einer Demonstration gegen den jährlichen nationalistischen Marsch durch Jerusalem. Aufgenommen nahe Ramallah im Westjordanland am 29. Mai 2022 [AP Photo/Majdi Mohammed]

Verfasser und Initiatoren des Briefes waren Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University, und Lior Sternfield, außerordentlicher Professor für Geschichte und jüdische Studien an der Penn State University.

Bartov verglich den Machtantritt extremistischer Mitglieder von Netanjahus Kabinett wie den nationalen Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich mit dem Entstehen des Faschismus in Deutschland. Damals „kamen politische Bewegungen, die zuvor Randerscheinungen waren, in die Regierungsverantwortung und erlangten die Kontrolle über die Schalthebel der Macht“, wie es die Washington Post zusammenfasste. Bartov erklärte: „Ich bin Historiker des 20. Jahrhunderts und stelle solche Analogien nicht leichtfertig an. ... So sieht es derzeit in Israel aus. Es ist erschreckend, das mit anzusehen.“

Zu den Unterzeichnern des Briefs gehören u.a. der anerkannte Historiker Benny Morris, emeritierter Professor an der Ben-Gurion-Universität, Peter Beinart von der City University of New York, die Anwältin Nancy Hollander, die zwei Häftlinge in Guantanamo Bay und Chelsea Manning verteidigt hat, und Osvaldo Golijov, der bekannte argentinische Komponist. Dass in so kurzer Zeit so viele Unterschriften zusammenkamen, deutet darauf hin, dass die tägliche Gewalt der israelischen Sicherheitskräfte gegen die Palästinenser und die eskalierende Protestbewegung gegen die Netanjahu-Regierung eine bedeutende Schicht von Intellektuellen beeinflusst.

Der Brief ist eine vernichtende Anklage gegen die Netanjahu-Regierung und ihre internationalen Hintermänner in Washington, London, Berlin und anderen Hauptstädten. Sie haben Kritik an Israels brutaler Unterdrückung der Palästinenser jahrelang als „linken Antisemitismus“ verurteilt und Hexenjagden organisiert. Beispielhaft dafür war das Vorgehen der britischen Labour Party gegen Jeremy Corbyn, in dessen Verlauf seine Anhänger in Scharen aus der Partei ausgeschlossen wurden, ohne dass Corbyn den geringsten Widerstand geleistet hätte.

Erst letzten Monat hat das US-Repräsentantenhaus eine Resolution verabschiedet, in der es bekräftigt, dass Israel kein „rassistischer oder Apartheidstaat“ ist, und solche Äußerungen als Antisemitismus verurteilt. In Deutschland hat der Antisemitismus-Beauftragte Felix Klein letzte Woche in einem Interview mit der Welt auf die deutsche Nahostexpertin Muriel Assenburg reagiert, die erklärt hatte, Israel betreibe prima facie in den besetzten Gebieten „das Verbrechen der Apartheid“. Klein behauptete, Israels Behandlung der Palästinenser als Apartheid zu bezeichnen, sei ein antisemitisches Narrativ.

Die Akademiker schlossen sich der israelischen Rechtsanwaltsorganisation Yesh Din und der Menschenrechtsorganisation B’Tselem, den New Yorker Organisationen Human Rights Watch und Amnesty International an und machten deutlich, dass solche Vergleiche gerechtfertigt sind in einem Staat, der auf religiöser Exklusivität, ethnischer Säuberung und anhaltender Unterdrückung der Palästinenser beruht, der die expansionistische Politik von „Groß-Israel“ verfolgt und sich auf eine Diktatur zubewegt.

Letzten Sonntag erklärte der pensionierte israelische Generalmajor Amiram Levi gegenüber Kan Radio, die Israelischen Verteidigungskräfte „seien dabei, sich Kriegsverbrechen schuldig zu machen“, und Taten zu begehen, die „an Abläufe in Nazi-Deutschland erinnern... Wenn Sie durch Hebron laufen, sehen Sie Straßen, in denen sich keine Araber bewegen dürfen. Es ist schmerzhaft und unangenehm, aber es ist die Realität.“

Die angeblichen liberalen Verteidiger des Zionismus in den internationalen Medien verstehen die politische Bedeutung des Briefs durchaus. Weder die New York Times noch der Guardian haben auch nur darüber berichtet. Die Washington Post ist die einzige große amerikanische Publikation, die darüber geschrieben hat.

Die Stellungnahme der Akademiker ist ein großer öffentlicher Rückschlag für die Führer der Protestbewegung in Israel. Sie besteht aus ehemaligen Ministern, Generälen, Sicherheits- und Geheimdienstchefs, die ebenso hinter der Ausweitung der israelischen Grenzen zu Lasten der Palästinenser stehen wie Netanjahu. Sie sind lediglich besorgt, weil die Hinwendung zu offener Diktatur massiven Widerstand in Israel und der Welt ausgelöst hat, der die Interessen der israelischen Wirtschafts- und Finanzelite gefährdet. Sie haben die letzten drei Monate damit verbracht, die Proteste gegen Netanjahus Putsch von jeder Kritik an der Besatzung zu trennen. Sie haben die Proteste mit israelischen Flaggen überschwemmt und die wenigen palästinensischen Flaggen von Demonstranten zerstört, selbst als Demonstranten Parolen riefen, in denen sie die brutale Behandlung durch die Bereitschaftspolizei mit den jüngsten pogrom-ähnlichen Aktionen im Westjordanland verglichen.

Der Brief widerlegt aufs Schärfste das Argument zahlreicher pseudolinker Kritiker Israels und des Zionismus, die die Massenprotestbewegung als im Grunde bedeutungslosen Fraktionskampf zwischen zwei Flügeln der zionistischen Bewegung abtun. Sie behaupten vehement, jüdische Arbeiter könnten nie für einen vereinten Kampf mit den Palästinensern gewonnen werden, weil sie loyal hinter dem „Siedler-Kolonialstaat“ stehen, der ihnen angeblich eine privilegierte Existenz bietet. Dieses Argument ignoriert die Existenz unterschiedlicher und entgegengesetzter Klassen in diesem Staat und ist eine Abwandlung der Lüge, man könne die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Industrienationen – vor allem die in den USA – nicht für den Sozialismus gewinnen, weil auch sie angeblich ihren Anteil an der Beute der imperialistischen Vorherrschaft erhalten.

Wie die World Socialist Web Site von Anfang an betont hat, steht hinter den Massenprotesten die zunehmende Sorge der Arbeiter und kleinbürgerlicher Schichten, dass die extreme Rechte und die extremistischen Siedler einen offenen Krieg gegen die Palästinenser schüren, während Netanjahu den verdeckten Krieg gegen den Iran und Syrien sowie im Libanon verschärft. Gleichzeitig ist Israel ein soziales und politisches Pulverfass. Die globale Wirtschaftskrise, die Pandemie, der Klimawandel und die Pläne der USA, den Krieg gegen Russland und seine regionalen Verbündeten Iran und Syrien zu verschärfen, destabilisieren den gesamten Nahen Osten. Tel Aviv agiert dabei als wichtigster Kampfhund Washingtons.

Das sind im Kern Klassenfragen, die ihren Ursprung in der zunehmenden Krise des Weltimperialismus haben, die die internationale Arbeiterklasse in den Kampf treibt. Dabei wird der zentrale Mythos des Zionismus zerstört – der Mythos der nationalen Einheit aller Juden, die die gleichen Interessen haben.

Die World Socialist Web Site erklärte:

Es stellen sich komplexe Probleme bei der Entwicklung einer echten sozialistischen Opposition gegen Netanjahus faschistische Agenda. Doch die Arbeiterklasse – bestehend aus israelischen und palästinensischen, jüdischen, säkularen, muslimischen und christlichen Arbeitern – wird objektiv in den Kampf gegen die herrschende Klasse und ihren Staatsapparat getrieben.

Nun entwickeln sich die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Kampf, um die gesamte Arbeiterklasse – die jüdische und die palästinensische – für einen vereinten sozialistischen Kampf gegen ihren gemeinsamen Unterdrücker zu gewinnen.

Der weltweit eskalierende Klassenkampf muss in eine bewusste politische Bewegung für den Sozialismus entwickelt werden. Doch das ist nur möglich über den Aufbau revolutionärer Parteien als Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, darunter auch eine israelisch-palästinensische Sektion. Sie muss die politische Führung geben, um den zionistischen Staat und die arabisch-bürgerlichen Regime zu stürzen und die Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens zu schaffen.

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