Am 5. Juli 1948 wurde in Großbritannien der National Health Service (NHS, Nationale Gesundheitsdienst) gegründet. Die Labour-Regierung unter Clement Attlee hatte ihn in der Nachkriegszeit eingerichtet und mit dem Versprechen eines „umfassenden Gesundheitsdienstes für England und Wales“ versehen.
Damals war der NHS das Kronjuwel eines Sozialstaats, zu dem auch der soziale Wohnungsbau, ein umfassendes Bildungswesen und viele weitere Sozialleistungen gehörten. Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter schätzen ihn bis heute. Aber 75 Jahre später hat die systematische Unterfinanzierung den NHS an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, und so ist das Prinzip der „kostenlosen Versorgung an jeder Stelle“ (free at the point of use) heute ernsthaft in Gefahr.
Eine Umfrage der Health Foundation ergab, dass 71 Prozent der Menschen erwarten, dass im nächsten Jahrzehnt Gebühren für die NHS-Versorgung erhoben werden. Diese Meinung teilen auch die Angehörigen der Gesundheitsberufe.
Am 4. Juli sagte Professor Philip Banfield, der Vorsitzende des Ärzteverbandes British Medical Association: „Sehr häufig höre ich Ärzte wie auch Patienten sagen, dass diese Regierung den NHS mit Absicht herunterwirtschaftet. Bei der Geschwindigkeit, mit der der NHS schrumpft, wäre ich sehr überrascht, wenn er in seiner jetzigen Form die nächsten fünf oder zehn Jahre überlebt.“
Die herrschende Klasse hat der Bevölkerung die kostenlose Gesundheitsversorgung und andere wichtige Sozialreformen nicht einfach geschenkt. Sie betrachtete sie als notwendige Zugeständnisse, um eine soziale Revolution zu verhindern. Die Schrecken des Kriegs hatten die Arbeiterklasse radikalisiert. Inmitten von Arbeitermassenbewegungen in Europa, China und auf der ganzen Welt verlangten die Arbeiter „ein Land, das Helden würdig ist“. Die Reformen wurden durch Steuererhöhungen finanziert, und das Profitsystem wurde nicht angetastet.
Die herrschende Klasse, die zu diesen Maßnahmen gezwungen wurde, hat sich mit der Existenz des NHS und seinem Ethos einer kostenlosen allgemeinen Gesundheitsversorgung niemals abgefunden. Nach den großen Niederlagen, die sie der Arbeiterklasse in den 1980er Jahren zufügte, haben sowohl Regierungen der Tories als auch der Labour Party den NHS immer wieder heftig angegriffen. Hunderte Milliarden Pfund wurden ihm vorenthalten, und derart unterfinanziert, wurde der NHS von der Pandemie in die Knie gezwungen. Seither ist er nicht mehr in der Lage, die Millionen, die ihn benötigen, angemessen zu behandeln.
Mittlerweile stehen 7,4 Millionen Menschen auf den Wartelisten für eine NHS-Behandlung, und einige warten bis zu sieben Jahre lang. Anfang Juli veröffentlichte der King's Fund eine Studie, die besagt, dass der NHS „unterdurchschnittliche“ Gesundheitsergebnisse erziele, weil ihm pro Person für die Gesundheitsversorgung ein „unterdurchschnittliches“ Budget zur Verfügung stehe. Auch sei die Sterblichkeitsrate bei behandelbaren Krankheiten höher als in den meisten vergleichbaren Ländern, und bei vielen Krebsarten liege die Überlebensrate unter dem Durchschnitt. Die Tatsache, dass als direkte Folge der staatlichen Kürzungen Tausende sterben, kommt einem Akt des sozialen Massenmords gleich.
Ohne das Engagement seiner 1,4 Millionen Beschäftigten wäre der NHS schon längst zusammengebrochen, was für die bedürftige Bevölkerung schreckliche Folgen hätte.
Die Thatcher-Fanatiker, die in Rishi Sunaks Regierung das Sagen haben, hassen die Vorstellung des NHS schlechthin. Kein einziger dieser Multimillionäre (Sunak und seine Frau besitzen 730 Millionen Pfund) wird den NHS je in Anspruch nehmen. Das wäre für sie das Letzte, denn sie haben Zugang zur besten Privatmedizin, die man für Geld kaufen kann. Sie gehören zu den 12 Prozent der herrschenden und wohlhabenden oberen Mittelschicht, die selbstverständlich privat versichert sind.
Diese Woche gab Sunak seinen NHS-Langzeitplan bekannt und erklärte, er werde „die Zukunft unseres NHS für die nächsten Jahre sichern“. Ein schlechter Scherz. Die Regierung sagt, sie werde bis 2037 – in mehr als zwei Legislaturperioden – 230.000 zusätzliche Ärzte einstellen. Bis dahin benötigt der NHS jedoch weitere 360.000 Stellen. Derzeit sind 150.000 Stellen unbesetzt.
Darüber hinaus stellt Sunak für die nächsten fünf Jahre nur 480 Millionen Pfund pro Jahr in Aussicht, bei einem jährlichen Gesamtbudget des NHS von 150 Milliarden Pfund. Gleichzeitig wird jeder noch so kleine Betrag, der dem NHS zur Verfügung gestellt wird, anderen ebenso wichtigen öffentlichen Diensten entzogen. Denn, so Sunak: „Wenn wir dem NHS Priorität einräumen, dann können wir uns andere Dinge nicht mehr leisten.“
Das derzeitige NHS-Personal wird gezwungen sein, seine Effizienz noch mehr zu steigern. Es werde keinen „einfachen Weg“ in der Art und Weise geben, dass man den Pflegekräften Gehälter über der Inflationsrate bezahle, versicherte der Premierminister.
Der Thatcher-Konsens wird nur zur Hälfte durch die Tories umgesetzt; die andere Hälfte bestimmt die Labour Party. Sie trägt mit den Gewerkschaften zusammen einen großen Teil der Verantwortung dafür, dass der NHS infolge der tausenden Einschnitte im Sterben liegt.
Tony Blairs New-Labour-Regierung verwirklichte das, was Thatcher stolz als ihre größte Errungenschaft bezeichnete: Sie öffnete der Privatisierung Tür und Tor und lud den britischen Binnenmarkt und die Finanzhaie ein, sich an den ruinösen Öffentlich-Privaten Partnerschaften zu beteiligen. Bis heute kosten solche Programme den NHS jedes Jahr mehr als 2 Milliarden Pfund, die an private Unternehmen fließen, und bis 2050 sind noch etwa 50 Milliarden Pfund zu zahlen.
Die Labour-Regierung unter Gordon Brown (2007–2010) forderte Einsparungen beim NHS in Höhe von 20 Milliarden Pfund. Hunderttausende Beschäftigte des Gesundheitswesens wehrten sich, als die Tories begannen, das von der Labour Party nach dem Finanzcrash geplante „Zeitalter der Sparmaßnahmen“ umzusetzen. Aber die Gewerkschaften brachen die Streiks von 2011–2012 wieder ab, und die Regierung von David Cameron konnte ihr brutales Gesundheits- und Sozialhilfegesetz verabschieden.
Dieses Dreierbündnis zwischen den Konservativen, der Labour Party und den Gewerkschaften betätigte sich auch in den darauffolgenden Jahren – mit verheerenden Konsequenzen: Die NHS-Infrastruktur wurde heruntergewirtschaftet, die medizinische Ausrüstung wurde nicht in Stand gehalten und erneuert, und beim Personal, das immer mehr verarmte, breiteten sich Burnouts und Resignation aus. Und gleichzeitig sank das Niveau der Patientengesundheit.
Dieses Jahr haben die Pflege-Gewerkschaften den Gipfel des Verrats erreicht. Sie haben einen Massenstreik ausverkauft, bei dem die Pflegekräfte Lohnerhöhungen über der Inflationsrate und mehr Mittel für den NHS forderten. Damit sabotierten die Gewerkschaftsbürokraten die Streiks von Hunderttausenden von Krankenschwestern und -pflegern, Ambulanzbesatzungen und weiterem Personal, das an vorderster Front arbeitet. Damit ermöglichten sie es den Tories, einen weiteren Tarifvertrag mit Niedriglöhnen durchzusetzen.
Seitdem die Gewerkschaft Royal College of Nursing in der vergangenen Woche den jüngsten Streik von NHS-Beschäftigten ebenfalls ausverkauft hat, befinden sich nur noch die Assistenzärzte und die leitenden Ärzte, die zum Monatsende getrennt streiken werden, im Arbeitskampf. Die Ärzte sind ebenfalls bedroht, während ihr Berufsverband British Medical Association den Gesundheitsminister anfleht, ein paar Brosamen als Rechtfertigung für eine vollständige Beendigung des Kampfs anzubieten.
Die Labour-Partei steht dem NHS, den sie selbst gegründet hat, inzwischen offen feindlich gegenüber. Der Parteivorsitzende Sir Keir Starmer verurteilt Streiks der Beschäftigten des Gesundheitswesens wie auch aller anderen Teile der Arbeiterklasse und verbietet allen Ministern des Schattenkabinetts, sich an einem Streikposten blicken zu lassen. Der Schattengesundheitsminister Wes Streeting hat das Gesundheitspersonal in der Zeitung Telegraph und in der Times beschuldigt, sie seien „das Hindernis“ bei der notwendigen, „unsentimentalen Reform“ des NHS.
Diese Woche wiederholte Streeting sein Mantra, dass der NHS „kein Heiligtum“ sei. Schon im Januar hatte Streeting seinen rechten Unterstützern im Sunday Telegraph erklärt: „Mit Labour wird es im NHS keine Kultur der Selbstbedienung mehr geben ... Ich bin nicht bereit, Geld in ein schwarzes Loch zu stecken.“
Mit Blick auf die Parlamentswahlen, die spätestens im Januar 2025 stattfinden sollen, hat Labour keinen einzigen Penny an zusätzlichen Mitteln für den NHS zugesagt, spricht aber offen über weitere Privatisierungen. In seiner letzten Neujahrsbotschaft erklärte Starmer, eine Labour-Regierung werde „nicht etwa das große Regierungsscheckbuch herausholen“.
Der Angriff auf den NHS ist Teil eines weltweiten Angriffs, den die Regierungen seit Jahrzehnten auf alle Sozialprogramme führen, und der seit der Corona-Pandemie noch beschleunigt wurde. In Großbritannien sind infolge des kriminellen Umgangs der Regierung mit der Pandemie 226.000 Menschen ums Leben gekommen. Darunter waren mehr als 1.500 NHS-Pflegekräfte. Zehntausende wurden schwer krank, und viele leiden bis heute an den Auswirkungen von Long Covid. Die Weigerung, die Beschäftigten des Gesundheitswesens mit hochwertigen FFP3/N95-Masken und anderen Schutzmaßnahmen auszustatten, um sie gegen ein Virus zu schützen, das sich über die Luft überträgt, hat in diesem Teil der Arbeiterklasse zu unermesslichem Leid und Tod geführt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind von Januar 2020 bis Mai 2021 weltweit schätzungsweise 115.000 Beschäftigte im Gesundheitswesen an Covid gestorben.
Die Pandemie hat nicht nur die NHS-Belegschaften dezimiert, sie diente der herrschenden Klasse auch als Test für ihre Pläne, die Gesundheit und Lebenserwartung der gesamten Arbeiterklasse deutlich abzusenken.
Die endgültige Zerstörung des NHS durch die Tories und Labour versetzen dem, was vom sozialreformistischen Projekt übrig ist, den Todesstoß. In den letzten vierzig Jahren hat sich eine vollkommen globalisierte Produktion herausgebildet, und dies wird benutzt, um den Maßstab für Löhne und Arbeitsbedingungen auf das Niveau der am stärksten ausgebeuteten Teile der internationalen Arbeiterklasse herabzusetzen. Dies geht mit einer drastischen Verschärfung der Klassengegensätze einher, was jede Grundlage für Reformen untergräbt.
Mit dem De-facto-Krieg der Nato gegen Russland in der Ukraine soll dieser Prozess noch beschleunigt werden. Die herrschenden Klassen aller Welt haben das Ende der „Friedensdividende“ nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerufen. Die imperialistischen Mächte planen einen Krieg in großem Stil mit den Großmächten Russland und China. Dies erfordert die Plünderung von Arbeiterlöhnen und eine umfassende Umschichtung von Mitteln aus den Sozialausgaben in die Rüstungsindustrie und das Militär.
Die Gesundheitsbudgets sind dieser Entwicklung bereits zum Opfer gefallen. Die Tory-Partei plant, in den nächsten acht Jahren 150 Milliarden Pfund mehr für das Militär auszugeben. Im vergangenen Jahr schrieb die Denkfabrik Royal United Services Institute (RUSI): „Seit Mitte der 1950er Jahre konnte das Vereinigte Königreich den wachsenden Anteil am Nationaleinkommen, der für den NHS und die staatlichen Renten aufgewendet wird, durch Kürzungen des BIP-Anteils für die Verteidigung finanzieren.“ Der leitende Forschungsökonom des Institute for Fiscal Studies, Ben Zaranko, schrieb dazu im letzten Jahr in The Conversation: „Durch die Kürzungen im Verteidigungssektor wurde der britische Sozialstaat 60 Jahre lang effektiv finanziert – allerdings ist das seit Ukraine offenbar nicht mehr möglich.“
Die Herrschenden können ihre Pläne nicht verwirklichen, ohne massive soziale Kämpfe zu provozieren. Deshalb wird der Staat mit neuen repressiven Gesetzen aufgerüstet, die auf Arbeitskämpfe und demokratische Rechte abzielen. Die Tories machen sich die Demobilisierung der Arbeiter durch die Gewerkschaften zunutze und erlassen Antistreikgesetze, welche die Arbeitskampfmaßnahmen in den „systemrelevanten Diensten“ (einschließlich des NHS) effektiv verbieten. So bereiten sie sich auf den Ausbruch von Massenkämpfen wie in Frankreich vor.
Die Verteidigung der sozialen Grundrechte, einschließlich des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Bildung, ist heute mit einer internationalen Offensive der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus eng verbunden. Dies erfordert ein sozialistisches Programm, das die Arbeiter in die Lage versetzt, unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien, die sie bevormunden, und gegen eine feindliche Labour Party zu handeln.
Deshalb hat die Socialist Equality Party [die britische Schwesterpartei der Sozialistischen Gleichheitspartei] die Organisation NHS FightBack gegründet. Sie ist der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) angeschlossen und wird die Beschäftigten im gesamten Gesundheitssektor für diesen dringenden Kampf organisieren. Beteilige dich noch heute daran!