Perspektive

Die Raserei des Supreme Court gegen demokratische Rechte

Gruppenporträt der Mitglieder des Supreme Court, aufgenommen am 7. Oktober 2022 im Gebäude des Obersten Gerichts [AP Photo/J. Scott Applewhite]

Seit der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten vor 13 Monaten das Urteil Roe v. Wade gekippt und den Frauen damit das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung entzogen hat, läuft die ultrarechte Richtermehrheit regelrecht Amok gegen die demokratischen und sozialen Grundrechte der Arbeiterklasse.

Dies gipfelte am Freitag in zwei Entscheidungen, die die Richter mit 6:3 Stimmen beschlossen haben: Erstens erklärten sie den Teilerlass der Biden-Regierung für Studienkredite für verfassungswidrig, und zweitens billigten sie das „Recht“ einer kommerziellen Webdesignerin, sich zu weigern, eine Hochzeitsseite für ein homosexuelles Paar zu erstellen.

Bei der ersten Entscheidung ist der Klassencharakter offensichtlich: Eine Maßnahme der Bundesregierung zur Rettung reicher Bankeinleger ist verfassungskonform, nicht jedoch eine noch so schwache Maßnahme, die verschuldete Studierende entlastet. Die zweite Entscheidung zerstört das verfassungsmäßige Recht auf Diskriminierungsfreiheit, während sie gleichzeitig ein Lippenbekenntnis zum Ersten Verfassungszusatz ablegt. Das Gericht hat die Bigotterie der Webdesignerin damit rechtfertigt, dass ihre „Religionsfreiheit“ höher stehe.

Die große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung unterstützt sowohl den Schuldenerlass für College-Studierende als auch die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben – und auch das Recht auf Abtreibung. Die perversen und reaktionären Entscheidungen sind das Ergebnis einer zutiefst undemokratischen Struktur, in der das, was die große Mehrheit für richtig hält, systematisch den Interessen einer winzigen herrschenden Elite geopfert wird.

Während die Militärausgaben zur Finanzierung des Kriegs gegen Russland in der Ukraine ständig steigen und auch die Aufrüstung im Pazifik gegen China eskaliert, verzichten die Institutionen des amerikanischen Kapitalismus nachgerade darauf, den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Bevölkerung zu dienen und ihren Willen umzusetzen.

Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten ist weit davon entfernt, ein neutraler politischer Schiedsrichter zu sein und die Verfassungsnormen unparteiisch auszulegen. Vielmehr hat er sich als die Speerspitze der politischen Reaktion erwiesen.

Hier geht es nicht nur um die persönliche Korruption einzelner Mitglieder des Gerichts. Viele der „Rechtsprechenden“ unterhalten engste Beziehungen zu wohlhabenden Sponsoren, die sie im Gegenzug für richterliche Gefälligkeiten mit Bestechungsgeldern überhäufen. In jüngster Zeit wurde aufgedeckt, dass sowohl Clarence Thomas als auch Samuel Alito von milliardenschweren „Amigos“ verschwenderische Urlaube und andere finanzielle Vergünstigungen erhalten haben.

Der Supreme Court ist eine zutiefst undemokratische Institution. Die neun Richter sind nicht gewählt und werden auf Lebenszeit ernannt. Sie unterliegen keinem Ehrenkodex und keiner unabhängigen Kontrolle und sind praktisch unabsetzbar. Kein Richter des Obersten Gerichtshofs wurde jemals angeklagt.

Von den sechs Richtern, die die rechtsgerichtete Mehrheit bilden, wurden fünf von Präsidenten ernannt, die selbst nicht vom Volk gewählt worden waren. Sowohl George W. Bush, der John Roberts und Samuel Alito ernannte, als auch Donald Trump, der Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett ernannte, hatten die Mehrheit der Stimmen verfehlt und wurden nur dank dem Electoral College, einer weiteren undemokratischen Institution, zum Präsidenten gewählt. Im Fall von Bush griff der Oberste Gerichtshof im Jahr 2000 direkt ein, um eine Neuauszählung der Stimmzettel in Florida zu stoppen, was ihm die Präsidentschaft bescherte.

Das Electoral College selbst, eine Art Wahlmännergremium, basiert auf einer noch undemokratischeren Einrichtung, dem Senat der Vereinigten Staaten. Für den Senat stellt jeder der 50 Bundesstaaten, unabhängig von der Bevölkerungszahl, zwei Senatoren. Ein Staat wie Kalifornien mit 39 Millionen Einwohnern hat die gleiche Vertretung wie Wyoming oder Vermont mit 583.000 bzw. 647.000 Einwohnern. Damit können solche kleinen Staaten leicht von rechtsgerichteten Wirtschaftsinteressen dominiert werden.

Der antidemokratische Charakter des politischen Systems zeigt sich am deutlichsten an der Präsidentenrolle selbst. Bush, Obama, Trump und Biden haben allesamt schnell gehandelt, als es in den Finanzkrisen 2008–2009, 2020 und 2023 darum ging, der Wall Street aus der Patsche zu helfen und der Finanzoligarchie Hunderte von Milliarden und sogar Billionen zur Verfügung zu stellen.

Noch undemokratischer ist die Rolle des Militärs und der Geheimdienste, die den Großteil des nationalen Staatsapparats ausmachen. In den letzten 78 Jahren hat jeder Präsident Krieg geführt, ohne dass der Kongress die in der Verfassung vorgeschriebene Kriegserklärung ausgesprochen hätte. In vielen Fällen gab es nicht einmal das Feigenblatt eines Kongressbeschlusses, um die Anwendung militärischer Gewalt zu billigen.

Die beiden großen kapitalistischen Parteien – die Demokraten und die Republikaner – sind für dieses Vorgehen mitverantwortlich. Sowohl Demokraten wie Republikaner haben im Weißen Haus und im Kongress illegale Kriege geführt oder unterstützt, Regierungen unterwandert, Militärputsche unterstützt und Spionage im großen Stil betrieben, und zwar nicht nur weltweit, sondern auch innerhalb der Vereinigten Staaten.

Die beiden heutigen Spitzenkandidaten für das Amt des Präsidenten im Jahr 2024 sind: Einerseits der republikanische Ex-Präsident Donald Trump, der eine Verschwörung anzettelte, um die Wahlen im Jahr 2020 umzudrehen und die Verfassung zu zerfetzen; Und andererseits der demokratische Präsident Joe Biden, der in der Ukraine einen Krieg gegen Russland führt und systematisch eskaliert, welcher in seinen eigenen Worten zum „nuklearen Armageddon“ führen könnte.

Das Zweiparteiensystem ist schon an sich eine wichtige demokratiefeindliche Institution. Die amerikanischen Konzerne nutzen sie, um jede Herausforderung ihrer Macht und ihres Reichtums zu ersticken. Das gesamte politische System, einschließlich der Medien, dieser Sprachrohre des Staats und der Geheimdienste, ist darauf ausgelegt, jede Infragestellung der Demokraten und Republikaner - beides Parteien der herrschenden Elite - von vorneherein auszuschließen.

Der Staat ist ein Instrument der Klassenherrschaft; das haben die Marxisten schon vor langer Zeit erkannt. Heute liegen dem Zusammenbruch der demokratischen Herrschaftsformen in den Vereinigten Staaten zwei wesentliche objektiven Faktoren zugrunde: erstens der endlose Krieg im Ausland, der inzwischen in den Sog des totalen Krieges geraten ist, und zweitens das schwindelerregende Ausmaß der sozialen Ungleichheit.

Jeder Versuch, diese Institutionen zu reformieren – Umstrukturierung des Supreme Court, Abschaffung des Electoral College, Beendigung der Tyrannei der kleinen Bundesstaaten im Senat, Einschränkung der nahezu absoluten Macht des „Oberbefehlshabers“ – setzt unmittelbar die Notwendigkeit voraus, die Arbeiterklasse massenhaft gegen die Konzern- und Finanzinteressen zu mobilisieren, denen diese Institutionen dienen.

Mit andern Worten: Die Überwindung des undemokratischen Charakters des Staates ist eine revolutionäre Frage, und sie erfordert die politische Mobilisierung der Arbeiterklasse und die Schaffung neuer, wirklich demokratischer Formen der Arbeitermacht. Nur so wird es möglich sein, die Diktatur der Finanzelite zu brechen und die Gesellschaft auf der Grundlage von Gleichheit und Sozialismus neu zu organisieren.

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