Frankreich: landesweite Unruhen nach Polizeimord an Siebzehnjährigem in Nanterre

In Paris und zahlreichen weiteren Städten in ganz Frankreich kam es in zwei Nächten in Folge zu Unruhen, nachdem der siebzehnjährige Autofahrer Nahel M. am Dienstag von der Polizei erschossen wurde. Laut Angaben der Polizei hatte er sich bei einer Polizeikontrolle in dem Pariser Vorort Nanterre geweigert, sein Fahrzeug anzuhalten.

Die Staatsanwaltschaft von Nanterre erklärte am Mittwoch, sie habe zwei Verfahren eingeleitet: eines wegen „Weigerung, das Fahrzeug anzuhalten“ und „versuchter vorsätzlicher Tötung eines Beamten“, das von der Polizei Nanterre und dem Inlandsgeheimdienst durchgeführt werden soll; das zweite für „vorsätzliche Tötung durch Beamte“, das vom Generaldirektor der Nationalen Polizei (IGPN) durchgeführt werden soll. Ein weiterer Minderjähriger, der auf dem Rücksitz des Fahrzeugs saß, wurde verhaftet, ein dritter Fahrgast konnte vom Schauplatz des Polizeimordes fliehen.

Anfangs behauptete die Polizei, der Fahrer des Autos, eines gemieteten Mercedes AMG, habe zwischen 8:00 und 8:30 Uhr morgens wiederholt gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen. Als Motorradpolizisten versuchten, das Auto anzuhalten, soll der Fahrer beschleunigt haben und auf die Polizisten zugefahren sein. Um nicht überfahren zu werden, habe einer der Polizisten dem Fahrer in die Brust geschossen.

Doch in den sozialen Netzwerken tauchten schon kurze Zeit später Videos auf, die das Narrativ der Polizei als blanke Lügen entlarven. Sie zeigen zwei Polizisten, die ein gelbes Auto auf der François-Arago-Straße in Nanterre anhalten. Einer davon lehnt sich gegen die Windschutzscheibe und richtet seine Waffe auf den Fahrer. Als dieser sein Auto wieder startet, erschießt ihn der Polizist aus nächster Nähe von der Seite. Einige Meter weiter stößt das Auto gegen ein Plakatwand und bleibt stehen.

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Berichten zufolge könnte es sich bei den Polizisten, die Nahel angehalten und getötet haben, um Mitglieder derselben motorisierten Polizeieinheit BRAV (Brigaden für die Unterdrückung von Gewaltakten) handeln, die Anfang des Jahres mit brutaler Gewalt gegen die Rentenproteste vorgegangen waren.

Nach dem Polizeimord versammelten sich am Dienstagabend Demonstrierende vor der Polizeiwache von Nanterre und riefen „Gerechtigkeit für Nahel“ und „Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit.“ Yanis, der vor dem Rathaus von Nanterre dabei gewesen war, erklärte gegenüber Le Parisien: „Im Grunde haben wir die Polizei vorher schon gehasst, aber das bestätigt uns darin nur. Wir sind wütend, wir verstehen es nicht. Was Nahel passiert ist, war jenseits jeder Verhältnismäßigkeit, und wir sind einfach nur wütend.“

Später am Abend kam es in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in weiten Teilen von Paris und in vielen Städten im ganzen Land zu Unruhen, u.a. in Toulouse, Roubaix und Colmar. In den Pariser Vororten Nanterre, Clichy-sous-Bois, Asnieres und Colombes versammelten sich Demonstranten; in Nanterre und Mantes-la-Jolie wurden städtische Gebäude gestürmt und in Brand gesetzt.

Der Anwalt von Nahels Familie, Yassine Bouzrou, sagte am Mittwoch, seine Klienten verklagten die Polizei wegen „vorsätzlicher Tötung“ und der „Erstellung falscher öffentlicher Dokumente“. Er erklärte: „Die erste Schilderung war eine Lüge, und wurde in einem Polizeibericht über die normalen Kanäle veröffentlicht.“

Die französischen Polizeibehörden setzten anfangs auf Dreistigkeit und versuchten, möglichst viele ihrer Lügen über Nahel gegen die zunehmende öffentliche Empörung zu verteidigen. Am Mittwochmorgen verurteilte Innenminister Gerald Darmanin die „innerstädtische Gewalt“, die vor allem im Departement Hauts-de-Seine um Nanterre herum ausbrach, und rief zur Ruhe auf. Er berichtete weiter, die Polizei habe 31 Personen verhaftet, „24 Polizisten wurden verwundet“, und „etwa 40 Autos“ und ein Anbau des Rathauses in Mantes-la-Jolie seien angezündet worden.

Die Pariser Polizeipräfektur weigerte sich anfangs, den für Nahels Tod verantwortlichen Polizisten anzuklagen. Diese Präfektur ist der wichtigste Komplize des Innenministeriums bei der Unterdrückung von Streiks und der Gelbwesten- und Rentenproteste gegen Präsident Emmanuel Macron.

„Diese Aktion ist überraschend“, erklärte der Pariser Polizeipräfekt Laurent Nuñez. „Erst wurde eine Polizeikontrolle verweigert, dann eine polizeiliche Durchsuchung, bei der ein Schuss abgegeben wurde. Die Ermittlungen müssen die Umstände der polizeilichen Anhaltung, die Geschehnisse kurz davor und die Vorgänge im Inneren des Wagens vollständig aufklären. Wir müssen die Unschuldsvermutung respektieren. Wenn es einen Fehler gab, wird er sanktioniert werden.“

Angesichts der zunehmenden Empörung der Bevölkerung über den auf Video dokumentierten Polizeimord mussten die Behörden jedoch rasch den Kurs wechseln. Der international bekannte französische Schauspieler Omar Sy und mehrere Fußballstars, darunter Paul Bogba und Kylian Mbappe, verurteilten den Mord; Mbappe twitterte: „Frankreich leidet. Diese Lage ist inakzeptabel. All meine Gedanken gehen zu Nahels Familie und Freunde – er war ein Engel, der uns viel zu früh verlassen hat.“

Premierministerin Elisabeth Borne und Macron selbst versuchten, sich mit heuchlerischen Stellungnahmen von Nahels Ermordung zu distanzieren. Borne erklärte: „Heute herrschen Erschütterung, Trauer und Wut. Das Justizsystem muss reagieren ... Die erschütternden Bilder, die wir gesehen haben, zeigen ein Eingreifen, das eindeutig nicht den Verhaltensregeln unserer Sicherheitskräfte entspricht.“

Später rief Macron selbst in einer kurzen Rede zur Ruhe auf. Er erklärte, nichts rechtfertige den Tod eines Jugendlichen, und bezeichnete den Polizeimord als „unerklärlich und unentschuldbar“, rief aber die Allgemeinheit auf, ruhig zu bleiben und „nicht in Flammen aufzugehen“. Laut dem Innenministerium wurden im Raum Paris in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag 2.000 schwer bewaffnete Bereitschaftspolizisten mobilisiert.

Am Mittwochabend eskalierten die Unruhen jedoch, und zwar nicht nur in Paris, sondern auch in Lyon, Lille, Toulouse, Bordeaux und Rennes. Selbst Macrons riesiges Polizeiaufgebot war überfordert. Die Polizisten schossen mit Tränengas und Gummigeschossen auf Jugendliche, die sich mit Feuerwerk und Molotowcocktails wehrten.

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Die Unruhen breiteten sich auf den gesamten Raum Paris aus. In den Vororten Trappes, Neuilly-sur-Marne und Dammarie-les-Lys stürmten Jugendliche Polizeiwachen und steckten sie in Brand. Auch in den 14., 15. und 19. Arrondissements der Pariser Innenstadt kam es zu Unruhen.

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Auch in Fresnes heulten die Sirenen, als Demonstranten versuchten, ein großes Gefängnis zu stürmen und dessen Tore in Brand setzten.

Der Wutausbruch über diesen Polizeimord ist ein Ausdruck der scharfen Klassenspannungen, die die Gesellschaft in Frankreich und ganz Europa auseinanderreißen. Er zeigt, wie tief verhasst die Regierung Macrons ist, nachdem er seine Rentenkürzungen gegen Massenproteste und den überwältigenden Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt hat. Allgemein herrscht die Ansicht, dass Macron eine illegitime Regierung führe, die gegen die Bevölkerung regiere und die demokratischen Grundrechte mit Füßen trete.

Macrons Behauptung, der Mord an Nahel sei „unerklärlich“, ist eine politische Lüge. In Wirklichkeit ist er das Ergebnis seiner brutalen Politik zur Verteidigung der Kapitalistenklasse. Er hat unter faschistischen Polizisten die brutalste, reaktionärste Gesinnung geschürt und nutzt sie als soziale Basis gegen die Arbeiterklasse. Während Macrons gesamter Präsidentschaft sind diese Polizeieinheiten bisher eingesetzt worden, um den Widerstand der Arbeiterklasse gegen seine Angriffe auf grundlegende Rechte zu unterdrücken und seine Politik der Umverteilung von Milliarden Euro an Sozialausgaben in die Nato-Aufrüstung und in den Krieg mit Russland durchzusetzen.

Die Macron-Regierung zeichnet Polizeieinheiten aus, wenn sie für so skandalöse Vorfälle verantwortlich sind wie den Tod der 80-jährigen Zineb Redouane, die am Fenster ihrer Wohnung von einem Tränengaskanister im Gesicht getroffen wurde, oder für den Tod der 76-jährigen Genevieve Legay während der Gelbswestenproteste. Diese ständige offizielle Förderung von Polizeigewalt durch die Regierung selbst hat den ungeheuerlichen Mord an Nahel erst möglich gemacht.

Wie schon beim Kampf gegen die Rentenkürzungen im Frühjahr muss sich auch jetzt der Kampf auf den Sturz Macrons durch die Arbeiterklasse richten. Das ist der einzige Weg, der zum Erfolg führt.

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