BAG-Urteil: Kein gleicher Lohn für gleiche Arbeit

Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) mit Sitz in Erfurt, dem höchsten deutschen Arbeitsgericht, von Ende Mai hat ausdrücklich bekräftigt, dass der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für Leiharbeiter nicht gelten muss.

Die Klage einer Leiharbeiterin wurde damit, trotz eines vorausgehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), in dritter Instanz abgewiesen. Das Urteil ist nicht nur ein Ausdruck von Klassenjustiz. Es zeigt auch, dass sich diese wesentlich auf die Rolle der Gewerkschaften stützt, ohne die dieses System moderner Sklavenarbeit in dieser Form gar nicht möglich wäre.

„Gerecht geht anders!“ – Beschäftigte eines Subunternehmers der Lufthansa wehren sich gegen Ungleichbezahlung, Rhein-Main Airport 2016 (Foto: WSWS)

Grundsätzlich wird bei der Leiharbeit ein Leiharbeiter dem Entleiher für einen begrenzten Zeitraum zur Arbeitsleistung überlassen. Der Leiharbeiter ist bei einem Verleiher (Personaldienstleister, Zeitarbeitsunternehmen) als Mitarbeiter über einen Arbeitsvertrag angestellt. Dazu schließen Verleiher und Entleiher einen sogenannten Arbeitnehmerüberlassungsvertrag (AÜV, AÜ-Vertrag).

Leiharbeit ist zwar gern als Einstieg in reguläre Beschäftigungsverhältnisse vermarktet worden. In der Praxis haben Unternehmen sie aber meist eingesetzt, um Löhne und Rechte zu unterlaufen, die sich ihre „Stammbelegschaft“ erkämpft hatte. Um diese Praxis einzudämmen, wurde 1972 - unter Bedingungen einer internationalen Welle militanter Klassenkämpfe - das „Arbeitnehmerüberlassungsgesetz“ (AÜG) eingeführt.

Im Zuge der sogenannten Hartz-Reformen, der berüchtigten Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder (SPD), wurde das AÜG weitgehend geschleift. Das erklärte Ziel bestand darin, einen Billiglohnsektor aufzubauen. Dies gelang auch: In Deutschland hat die herrschende Elite seither den größten Billiglohnsektor Westeuropas geschaffen.

Die Anzahl der Leiharbeiter stieg von etwa 300.000 im Jahr 2003 auf fast 900.000 zehn Jahre später. Heute liegt sie mit 816.00 laut Statista etwas darunter, und Deutschland befindet sich demnach unter den Top Ten der Länder mit der höchsten Anzahl der Leiharbeiter auf Platz 8.

Leiharbeiter verdienen deutlich weniger als Angehörige von Stammbelegschaften. Laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit zum Stichtag 31. Dezember 2021 lag das mittlere monatliche Bruttoentgelt von Vollzeitbeschäftigten bei 3.516 Euro, das der Leiharbeiter jedoch nur bei 2.083,- Euro. Demnach verdienten die Leiharbeiter 2021 im Vergleich mit den „normal“ Beschäftigten im Schnitt gut 40 Prozent weniger!

Ein Schlüsselelement war dabei der zynisch so benannte „Equal Treatment Grundsatz“ im AÜG. Er besagt, dass für Zeitarbeiter dieselben wesentlichen Arbeitsbedingungen gelten sollen wie für Stammbeschäftigte – mit der folgenden gesetzlichen Ausnahme: „Ein Tarifvertrag kann vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen“. Im Klartext: Nur wenn die Gewerkschaften mit den Unternehmerverbänden aushandeln, dass Leiharbeiter schlechter gestellt werden als die Stammbelegschaft, darf vom Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ abgewichen werden.

Nach einer zynischen „Reform“ des AÜG 2017 zur Zeit der Großen Koalition unter Federführung von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) darf diese tariflich – also mit den Gewerkschaften – vereinbarte Schlechterstellung bis zu neun Monate dauern – unter bestimmten Bedingungen auch bis zu 15 Monate. Nach einer Studie der IG Metall aus demselben Jahr 2017 ist das für die allermeisten Unternehmer vollkommen ausreichend: Im zweiten Halbjahr 2016 hatten nach wie vor 58 Prozent der Leiharbeitsverhältnisse nur eine Dauer von bis zu drei Monaten; weitere 24 Prozent der Leiharbeitsverhältnisse hatten eine Dauer von drei bis neun Monaten.

Eine weitere Ausdehnung der Leiharbeit segnete das BAG unter Verweis auf Öffnungsklauseln für Tarifverträge mit einem Urteil vom September 2022 ab. Das BAG erklärte: „Bei einer vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung kann in einem Tarifvertrag der Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche abweichend von der gesetzlich zulässigen Dauer von 18 Monaten eine andere Überlassungshöchstdauer vereinbart werden. Diese ist auch für den überlassenen Arbeitnehmer und dessen Arbeitgeber (Verleiher) unabhängig von deren Tarifgebundenheit maßgebend.“

Im entschiedenen Fall hatte die IG Metall eine Überlassungsdauer von bis zu 48 (!) Monaten mit den Unternehmern vereinbart. Dies sei auch für den Kläger verbindlich, erklärten die Bundesarbeitsrichter dem Leiharbeiter – obwohl dieser nicht einmal Mitglied der IG Metall war.

Dann hatte im vergangenen Dezember der Europäische Gerichtshof (EuGH) sein Urteil über Leiharbeit gefällt. Er hatte klargestellt, dass Leiharbeiter grundsätzlich den gleichen Schutz und die gleichen Bedingungen wie ihre fest angestellten Kollegen verdienen. Dem EuGH-Urteil zufolge dürfen Leiharbeiter nur dann schlechter bezahlt werden, wenn diese Ungleichbehandlung im Tarifvertrag ausgeglichen wird – etwa durch zusätzliche Freizeit.

Die BAG-Richter, die dem EuGH diese Frage vorgelegt hatten, haben in der aktuellen Entscheidung von Ende Mai mit ihrer typischen juristischen Spitzfindigkeit darauf reagiert: Ein solcher Ausgleich sei der gesetzliche Anspruch auf die Fortzahlung von Entgelt in entleihfreien Zeiten. In anderen Worten: Als „ausgleichenden“ Vorteil werteten die Richter den Umstand, dass in der Zeit, in der ein Leiharbeiter gerade nicht an irgendein Unternehmen ausgeliehen wird, das Zeitarbeitsarbeitsunternehmen, bei dem er angestellt ist, ihm den vereinbarten Lohn weiterhin zahlen muss.

Man sollte meinen, dass das eine Selbstverständlichkeit wäre: In den allermeisten Unternehmen muss der Lohn den Stammbeschäftigten auch dann weitergezahlt werden, wenn der Unternehmer für seine Beschäftigten gerade nichts zu tun hat. Für die BAG-Richter ist es dennoch ein „Ausgleich“ dafür, dass für gleiche Arbeit weniger Geld bezahlt werden darf.

Im Fall der Klägerin ist der Unterschied erheblich: Statt 13,64 Euro brutto pro Stunde, wie vergleichbare Beschäftigte der Stammbelegschaft, erhielt sie gerade mal 9,23 Euro, ein Drittel weniger pro Stunde.

Die BAG-Richter machten gar kein Hehl daraus, dass sie sich der Rolle der Gewerkschaften voll bewusst sind. Wie die tagesschau berichtete, mussten sich die Gewerkschaften „vom Richter des Bundesarbeitsgerichts Rüdiger Linck die Frage gefallen lassen, warum sie überhaupt Tarifverträge abschließen, die schlechtere Bezahlung erst ermöglichen. Ohne die Tarifverträge würde ‚Equal Pay‘ schließlich gelten. Die Antwort blieb aus.“

Kein Wunder, dass die Tarifbindung nirgends so hoch ist wie in der Leiharbeit: sie liegt dort bei 98 Prozent. Die Leiharbeit verdeutlicht die korporatistische Rolle der Gewerkschaften. Diese sind aufs Engste mit dem Staat und den Unternehmen verflochten und spielen eine Schlüsselrolle dabei, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern und die extreme Ausbeutung der Arbeiter zu organisieren.