Seit dem 20. März streiken rund 65 LKW-Fahrer auf der A5-Raststätte Gräfenhausen in Südhessen. Sie fordern die vollständige Auszahlung ihrer Löhne, die ihnen seit Monaten vorenthalten werden. Ihr Streik ist ein Beispiel an Kampfentschlossenheit, doch er braucht eine unabhängige Perspektive und die aktive Unterstützung von Arbeitern in Deutschland und ganz Europa.
Die Trucker stammen aus Georgien, Usbekistan und Tadschikistan. Schon seit fünfeinhalb Wochen streiken sie nun gegen den polnischen Speditionsunternehmer Łukasz Mazur, der die Transportketten Agmaz, Lukmaz und Imperia betreibt. Sie transportieren europaweit Güter im Auftrag von Großkonzernen wie Volkswagen, Ikea, General Electric, DHL. Die Fahrer fordern nicht nur ihre ausstehenden Löhne, sondern eine insgesamt faire Bezahlung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen.
Ein junger Fahrer, der sich dem Streik erst vor kurzem angeschlossen hat, berichtete am Freitag zum Beispiel (und er legte den Journalisten seine Kontoauszüge vor) dass er seit November auf Europas Straßen unterwegs sei und bisher insgesamt nur 1.000 Euro Arbeitslohn erhalten habe – für fünf Monate Arbeit! Ein anderer erklärte: „Theoretisch darf ich nach fünf Tagen auf der Straße zwei Tage pausieren – und im Hotel duschen und schlafen. Davon habe ich seit Jahren nur geträumt. Stattdessen lebe ich seit Monaten auf vier Quadratmetern in meiner Führerkabine, weit weg von meiner Familie.“
Die Streikenden hatten Mazur eine Frist bis zum vergangenen Freitagmittag gesetzt, um die noch ausstehenden Löhne zu bezahlen. Doch er ließ sie verstreichen. Auf Anfrage des ZDF erklärte der polnische Unternehmer über Video, er sei seinen vertraglichen Pflichten nachgekommen: Mehr Geld werde es von ihm nicht geben.
Mazur hatte zunächst, am Karfreitag Vormittag, ergebnislos versucht, den Streik gewaltsam zu brechen und die LKWs mit Ersatzfahrern von der Raststätte wegzuholen. Als dies nicht gelang, ließ er sich darauf ein, Zahlungen an einzelne Fahrer zu überweisen, allerdings nicht vollständig und nicht für alle. Insgesamt 200.000 Euro soll er bisher für Fahrer der 65-köpfigen Gruppe überwiesen haben, doch 97.858 Euro fehlen noch.
Wie Anna Weirich vom Beratungsnetzwerk Faire Mobilität des DGB bestätigte, hat der Spediteur den Fahrern nicht nur viel Geld, sondern auch die üblichen Vertragsdokumente vorenthalten. Weirich hilft als Übersetzerin ins Russische regelmäßig vor Ort bei den telefonischen Verhandlungen (während Journalisten und Besucher sich meist über unterschiedliche Übersetzungstools mit den Streikenden verständigen).
Auch Edwin Atema von der holländischen Gewerkschaft FNV, der für die LKW-Fahrer die Verhandlungen führt, hat bestätigt, dass die Fahrer keine Papiere, keine Abrechnungen und Dokumente bekommen haben. „Es ist wie moderner Menschenhandel“, sagte Atema.
Täglich halten Unterstützer und Reisende an der Raststätte an, bringen Kuchen oder andere Lebensmittel, schenken den Streikenden Zigaretten. Italienische Trucker haben ein Video aufgenommen, um ihre streikenden Kollegen in Gräfenhausen zu unterstützen.
Aber es kommt auch weiter zu Auseinandersetzungen, wie zum Beispiel letzte Woche, als das Unternehmen General Electric drohte, seine Fracht, die sich in einem der Fahrzeuge befindet, polizeilich abholen zu lassen. Eine Spedition namens LOG hatte sich in dieser Sache bei der südhessischen Polizei gemeldet und eine Umlade-Aktion am Freitag, 21. April, 14:00 Uhr angekündigt. Als die Streikenden ihre Entschlossenheit deutlich machten, die Herausgabe der Ware zu verhindern, wurde die Aktion vorerst wieder abgeblasen.
Dies zeigt jedoch, wie brisant der Konflikt sich entwickeln kann, und wie dringend seine Ausweitung ist. Die Fahrer können sich dabei weder auf die deutsche Polizei noch auf die Gewerkschaften verlassen. Sie können ihren Kampf nur führen, wenn sie andere Fahrer und Arbeiter zu ihrer Verteidigung mobilisieren.
Zwar heucheln hessische IG Metall- und Verdi-Funktionäre „Solidarität“ mit den streikenden Truckern, und sie organisieren zusammen mit den Kirchen materielle und medizinische Unterstützung. Aber gleichzeitg isolieren den Streik bewusst und hoffen, dass er sich totläuft.
Die DGB-Gewerkschaften fürchten, dass der Streik Schule macht und wollen eine größere Streikbewegung um jeden Preis verhindern. Das haben sie gerade im Tarifkampf der Postarbeiter und beim öffentlichen Dienst bewiesen: Trotz großer Kampfbereitschaft sind sie dabei, den Beschäftigten im öffentlichen Dienst einen üblen Ausverkauf aufzuzwingen. Sie tun alles, um die Arbeitskämpfe in Deutschland von dem Widerstand in Frankreich gegen Macrons Rentenkürzungen zu trennen.
Die Gewerkschafter, die vor Ort Kontakt mit den Streikenden haben, appellieren nicht an deren hessische Kollegen, um einen gemeinsamen Arbeitskampf gegen Ausbeutung aufzunehmen. Sie appellieren an die kapitalistischen Konzerne, für welche die Trucker fahren. Sie fordern Unternehmen wie VW, Ikea oder Deutsche Post DHL, die sich der polnischen Spedition direkt oder indirekt bedienen, dazu auf, endlich die Gesetze einzuhalten und „Verantwortung“ zu übernehmen.
Derartige Appelle sind nicht nur zahnlos, sondern aus dem Mund der Gewerkschaften zynisch und verlogen. Für die üblen Ausbeutungsbedingungen sind sie direkt verantwortlich. In Deutschland haben die Gewerkschaften nicht nur die Einführung der Hartz-Gesetze mitgetragen, die Millionen Arbeiter und ihre Familien zu bitterer Armut verdammt haben; sie arbeiten zusammen mit Regierung und Unternehmen die Mechanismen aus, mit denen die Angriffe auf Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden.
Nach den EU-Bestimmungen und laut dem Lieferkettengesetz, das seit Januar in Deutschland gilt, sind die Konzerne zwar auch für Bedingungen und Löhne der Fahrer von Subunternehmen verantwortlich. Allerdings haben die genannten Konzerne auf Nachfragen mehrerer Zeitungen rundheraus geleugnet, mit Łukasz Mazur überhaupt zusammenzuarbeiten. Sie verstecken sich hinter einem undurchschaubaren Dschungel von Subunternehmen und Scheinfirmen etc. Wie der Spiegel schreibt: „Der Fall wirft ein Licht auf eine Branche, die innerhalb der EU zwar reguliert ist, deren Regeln aber durch Geschäfte mit Subunternehmen und durch Lohngefälle unterlaufen werden.“ Und weiter: „Die Kette an Subunternehmern wird oft so kompliziert, dass sie kaum mehr nachzuvollziehen ist.“
Die Fahrer wollen ihren Streik erst dann beenden, wenn alle ihr Geld vollständig erhalten haben. Auf der Pressekonferenz der Streikenden am Freitagnachmittag sagte ein Fahrer, sie würden notfalls in den Hungerstreik treten, bis die Forderungen erfüllt seien. „Wir haben jetzt keine Angst mehr“, sagte ein anderer Trucker.
Was sie benötigen, ist ein unabhängiges Aktionskomitee, das ihren Kampf – unabhängig von Verdi, der IG Metall und dem gesamten DGB – mit demjenigen ihrer Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Branche und in der europäischen Arbeiterklasse vernetzt. Es ist der einzige Weg, wie ihre große Kampfbereitschaft zu einer wirklichen Verbesserung der Verhältnisse führen kann.