Perspektive

Das US-Urteil zur Abtreibungspille: Ein weiterer Meilenstein im Angriff auf die demokratischen Rechte

Gerichtsgebäude in Texas, in dem das Verbot des Abtreibungsmittel Mifepriston verhängt wurde [AP Photo/Justin Rex]

In seinem Urteil vom 8. April hat Bundesbezirksrichter Matthew Kacsmaryk die Zulassung der Abtreibungspille Mifepriston aufgehoben, die die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel vor Jahren erteilt hatte. Das Urteil ist der schärfste Angriff auf das demokratische Recht auf Abtreibung seit der Entscheidung des Obersten Gerichts vom letzten Sommer, das Urteil im Fall Roe v. Wade aufzuheben.

Wenn die Entscheidung nicht in einem Eilverfahren wieder aufgehoben wird, wird sie katastrophale Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung armer Frauen und Frauen aus der Arbeiterklasse haben. In den zwanzig Jahren seit der Zulassung des Verfahrens haben fünf Millionen Menschen die Zweierkombination aus Mifepriston und Misoprostol angewendet. In den letzten Jahren haben diese Medikamente den chirurgischen Eingriff als häufigstes Abtreibungsverfahren überholt. Schätzungsweise 500.000 Frauen haben im Jahr 2022 Mifepriston angewendet.

Kacsmaryk hatte sich auf den Comstock Act gestützt, ein barbarisches Gesetz aus dem Jahr 1873, das die Versendung von Materialien, die in irgendeiner Weise mit Sex oder Abtreibung zu tun haben, per Post oder durch gewerbliche Spediteure unter Strafe stellte. Damit öffnete der Richter Tür und Tor für rechtliche Anfechtungen nicht nur der Abtreibungspille, sondern jeder Art von Abtreibung und auch der Verhütung.

Die Entscheidung habe tiefgreifende Auswirkungen auf die gesamte Pharma- und Biotechnologiebranche, heißt es in einem am Montag veröffentlichten offenen Brief, den 400 CEOs und andere Führungskräfte unterzeichnet haben. Sie weisen darauf hin, was es bedeutet, wenn das das Urteil eines nicht-fachkundigen Richters über das wissenschaftliche Fachwissen der Behörde für Lebens- und Arzneimittel (Food and Drug Administration, FDA) gestellt wird. Damit wird eine Büchse der Pandora geöffnet, und auch Impfstoffe und andere lebensrettende Behandlungen können künftig öffentlich angefochten werden.

Nach den vom Richter festgelegten Grundsätzen könnten Anti-Vax-Gruppen einstweilige Verfügungen gegen das Austeilten von Impfstoffen beantragen, die bei der Corona-Pandemie zahllose Leben gerettet haben. Sie könnten auch die Ausgabe von Impfstoffen gegen Kinderkrankheiten unterbinden, die zu Unrecht mit Autismus in Verbindung gebracht werden.

Kacsmaryk ist ein fanatischer Abtreibungsgegner, den Donald Trump in den Bundesgerichtshof berufen hatte. Zuvor war er fünf Jahre lang als Rechtsberater für eine christlich-fundamentalistische Gruppe tätig gewesen. Er hat einfach seine katholisch-konservativen Ansichten in ein Gesetz gegossen. Das stellt einen groben Verstoß gegen die Trennung von Kirche und Staat dar, wie sie im ersten Zusatzartikel der US-Verfassung verankert ist.

Der Richter hat sich über Rechtsgrundsätze hinweggesetzt, zum Beispiel dass eine Klagebefugnis, d. h. eine tatsächlich erlittene Verletzung vorliegen muss, und nicht nur ideologische Einwände gegen eine bestimmte Entscheidung oder ein Gesetz. Er ignorierte zudem eine offensichtliche Tatsache: 23 Jahre nach der Entscheidung der FDA, Mifepriston als sicher und wirksam zuzulassen, ist auch die Verjährungsfrist (sechs Jahre) längst abgelaufen.

Die Art und Weise, mit der dieser Fall vor Kacsmaryk gebracht wurde, zeigt deutlich, dass das Urteil das Ergebnis einer politischen Verschwörung gegen die demokratischen Rechte ist. Rechtsgerichtete Gruppen haben sich eine besondere Taktik der Richterwahl zu eigen gemacht: Dabei werden Fälle in kleinen Gerichten in Texas mit nur einem einzigen Richter eingereicht, um sicherzustellen, dass sie den Richter bekommen, den sie wollen – d.h. einen, der sicher zu ihren Gunsten entscheidet.

Auf diese Weise wurde schon eine Vielzahl reaktionärer Entscheidungen herbeigeführt. Damit greifen sie die Rechte von Einwanderern an, verbieten die kostenlose medizinische Versorgung von Homosexuellen und setzen andere Ziele fundamentalistischer Bigotterie durch. Auch Verwaltungsmaßnahmen der Biden-Regierung werden so wieder aufgehoben.

Das Weiße Haus hat bisher darauf reagiert, indem es sich diesen gerichtlichen Übergriffen fügte, anstatt sie anzufechten und das jeweilige Verfahren als unrechtmäßig zu entlarven. Biden und die Demokratische Partei kümmern sich nicht um die Hunderttausenden von Frauen aus der Arbeiterklasse, denen das einfachste und risikoärmste Verfahren für einen Schwangerschaftsabbruch verweigert wird, und denen vielleicht bald überhaupt keine Abtreibungsmöglichkeit mehr bleibt.

Die privilegierte obere Mittelschicht, die zusammen mit der Wall Street und dem Pentagon die soziale Basis der Demokratischen Partei bildet, wird für sich leicht eine Lösung finden. Unbekümmert um die juristische Konterrevolution, die die Ultrarechte in den Vereinigten Staaten betreibt, werden die Frauen dieser Schicht in der Lage sein, weiterhin Abtreibungsdienste in Anspruch zu nehmen, sei es durch private Mittel oder notfalls durch Reisen in ein anderes Land.

Es ist bemerkenswert, dass aus dieser Schicht der Identitätspolitik, der Fragen von Rasse, Geschlecht und sexueller Orientierung doch so wichtig sind, kaum eine Reaktion erfolgte, als der Supreme Court mit der Aufhebung des Urteils von Roe v. Wade kurzerhand das Recht auf Abtreibung abschaffte. Auch auf die jüngste richterliche Gräueltat kommt von ihnen kaum eine Reaktion.

Biden hat seit dem versuchten Staatsstreich vom 6. Januar immer wieder betont, dass ihm eine „starke“ republikanische Partei wichtig sei. Damit hat er den grundlegend autoritären und antidemokratischen Kurs bestätigt, den Trump und seine Anhänger sowie die republikanische Partei insgesamt eingeschlagen haben.

Jetzt tritt das Wesen dieser „starken republikanischen Partei“ deutlich zutage: Ein von Trump ernannter Richter fällt ein wütendes antidemokratisches Urteil, und das Justizministerium wird beim zuständigen US-Bundesberufungsgericht (Fifth Circuit Court), bei dem sechs von 18 Richtern von Trump ernannt worden sind, Berufung einlegen. Schließlich wird es sich noch an den Supreme Court wenden, wo sechs von neun Richtern Republikaner sind, darunter drei von Trump Ernannte.

Wes Geistes Kind die Mehrheit der Richter am Obersten Gerichtshofs (Supreme Court) sind, das hat sich letzte Woche gezeigt: Enthüllungen zufolge verbrachte Richter Clarence Thomas, der sturste der neun Richter, regelmäßig verschwenderische Urlaube in Begleitung des texanischen Milliardärs Harlan Crow, der für alles bezahlte. Dem Gericht oder der Öffentlichkeit hat Thomas diese lukrativen Gefälligkeiten nie mitgeteilt.

Der Richter am Obersten Gerichtshof hat die Kritik an seinen „Familienausflügen“ zurückgewiesen und sie als „persönliche Gastfreundschaft“ einiger seiner „liebsten Freunde“ bezeichnet. Am Montag berichtete das Magazin Rolling Stone, dass Crow eine große Sammlung von Nazi-Memorabilien besitze, darunter mehrere Gemälde von Adolf Hitler und ein vom Autor selbst signiertes Exemplar von „Mein Kampf“. Es sei in Leinen gebunden, und ein Hakenkreuz und Insignien der NSdAP seien aufgeprägt. Hat dieser „engste Freund“ Richter Thomas vielleicht auf seinen Nazi-Hort eingeladen?

Gegen diese reaktionäre Kabale wird weder die Regierung Biden noch die Demokratische Partei auch nur einen Finger rühren. Ihr einziges politisches Anliegen ist es, die Republikanische Partei für den Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland in der Ukraine an Bord zu halten. Wenn die Demokraten behaupten, das Recht auf Abtreibung zu verteidigen, dann nur, um einer Regierung und einer Partei, die sich von jedem Fünkchen Sozialreform verabschiedet haben, einen „linken“ Deckmantel zu verschaffen. In Wirklichkeit stecken sie auf Kosten der Arbeiterklasse Hunderte von Milliarden in den derzeitigen Krieg gegen Russland und die Vorbereitungen für einen künftigen Krieg mit China.

Es gibt einen noch wichtigeren Grund für Biden, eine starke republikanische Partei aufrechtzuerhalten, selbst wenn sie einen faschistischen Amoklauf gegen demokratische Rechte betreibt. Biden versucht, die Republikanische Partei zu stärken, um einen Zusammenbruch des kapitalistischen Zweiparteiensystems zu verhindern, denn dies würde es der Arbeiterklasse ermöglichen, als unabhängige politische Kraft aufzutreten.

Das Potenzial für einen solchen Aufschwung des Klassenkampfs hat sich in der ersten Streikwelle in den Jahren 2021 und 2022 gezeigt, als es in der Industrie, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, im Schienenverkehr, in den Häfen und in anderen kritischen Wirtschaftssektoren zu Arbeitskämpfen kam. Wenn es um Klassenfragen geht, wie beim Kampf von 110.000 Bahnarbeitern gegen brutale Ausbeutung und Reallohnkürzungen, lässt Biden die Maske des „Freundes der Arbeit“ fallen. Dann  macht er deutlich, dass er in Wirklichkeit der Freund des Gewerkschaftsapparats ist, auf den er baut, um die Arbeiterklasse zu unterdrücken. Wenn dieser Apparat seinen Rückhalt benötigt, ist Biden zur Stelle. Im vergangenen Dezember hat er das Gesetz zum Verbot eines Bahnstreiks und zur Durchsetzung eines von den Arbeitern bereits abgelehnten Vertrags unterzeichnet.

Jugendliche und Arbeiter, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzen wollen, müssen sich an diese wachsende Bewegung der Arbeiterklasse wenden. Das Recht auf Abtreibung ist, wie alle demokratischen Rechte, eine Klassenfrage. Die Arbeiterklasse als Ganzes muss die Rechte von Arbeiterinnen verteidigen und als integralen Bestandteil ihres Klassenkampfs gegen die Konzerne und den kapitalistischen Staat durchsetzen.

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