Der Besuch, den Bundeskanzler Olaf Scholz am Freitag dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden im Weißen Haus abstattete, war in mehrerer Hinsicht außergewöhnlich: Scholz flog allein, ohne die sonst üblichen Journalisten und Wirtschaftsvertreter; er traf sich mit dem Präsidenten eine gute Stunde lang ohne Mitarbeiter unter vier Augen; anschließend gab es keine gemeinsame Pressekonferenz, und Scholz trat nach einem kurzen Interview mit CNN sofort wieder den Rückflug an.
Auch wenn über den Inhalt des Treffens wenig bekannt ist, sind zwei Dinge offensichtlich: Es handelte sich um äußerst wichtige Fragen, und es sollte absolut nichts darüber an die Öffentlichkeit dringen. Sowohl der Präsident wie der Kanzler waren um höchste Geheimhaltung bemüht. Sonst hätte Scholz mit Biden telefoniert und nicht die lange, beschwerliche Reise nach Washington angetreten.
Es gibt nur eine Erklärung dafür, dass Scholz‘ persönliche Anwesenheit erforderlich war und der Inhalt des Treffens strikt geheim gehalten wurde: Die beiden sprachen über eine massive Ausweitung des Ukrainekriegs, die Scholz persönliche Zustimmung verlangte.
Scholz hatte vor seiner Abreise in einer Regierungserklärung im Bundestag versprochen, die Ukraine zu unterstützen „so lange, wie das nötig ist“ – eine Formulierung, die für Mittel in unbeschränkter Höhe steht, seit Mario Draghi damit 2012 die Öffnung der Geldhähne der Europäischen Zentralbank begründete.
Biden hatte sich zuvor bei Besuchen in der Ukraine und Polen ähnlich geäußert. Am Rande des Scholz-Besuches kündigten die USA dann weitere Waffenlieferungen im Umfang von 400 Millionen Dollar an, darunter hocheffektive Raketen vom Typ Himars.
Sowohl die Biden- wie die Scholz-Regierung stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie und ihre Vorgänger haben ihr gesamtes politisches Prestige und gewaltige Finanzmittel aufgewendet, um den militärischen Konflikt mit Russland zu provozieren und bis zur militärischen Niederlage des riesigen, rohstoffreichen Landes zu treiben.
Doch inzwischen ist die Front in der Ukraine trotzt massiver Unterstützung der Nato zum Stillstand gekommen. Der Abnutzungskrieg kostet Woche für Woche auf beiden Seiten das Leben tausender junger Soldaten, was vor allem die Ukraine nicht lange aushalten kann.
In den USA, Deutschland und ganz Europa schmilzt die öffentliche Unterstützung für den Krieg. Während es kaum Sympathie für Putin und seinen reaktionären Angriff gibt, glauben immer weniger der offiziellen Propaganda, dass die Nato für „Freiheit“ und „Demokratie“ kämpfe und ein Waffenstillstand erst nach einem vollständigen Rückzug Russlands möglich sei.
Vor allem entwickelt sich eine gewaltige Bewegung der Arbeiterklasse, die nicht länger bereit ist, die Kriegskosten zu tragen, während sich die Kriegsprofiteure an den Börsen hemmungslos bereichern. In Großbritannien, Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern streiken und protestieren seit Wochen Millionen gegen die Senkung von Reallöhnen und Renten, die Zerschlagung des Gesundheitssystems und andere Formen des Sozialabbaus. Ein Generalstreik bahnt sich an.
In den USA ziehen die Gewerkschaften und die Biden-Administration den geballten Hass der Arbeiterklasse auf sich, weil sie ihr – wie jüngst die UAW bei Caterpillar – einen Knebelvertrag nach dem anderen aufzwingen.
Auf internationaler Ebene weigern sich China und Indien trotz massiven Drucks von Seiten der USA und Europas beharrlich, Position gegen Russland zu beziehen. Das war auch auf der jüngsten G20-Außenministerkonferenz in Neu-Delhi wieder der Fall.
Biden und Scholz läuft die Zeit davon. Führen sie in absehbarer Zeit keine Wende im Kriegsgeschehen herbei, verlieren sie die Kontrolle. Das aber erfordert Mittel, für die es keine öffentliche Unterstützung gibt: Langstreckenraketen, Kampfflugzeuge und „Boots on the Ground“ (Nato-Bodentruppen).
Sie bereiten nichts weniger als einen dritten Weltkrieg vor, bei dem auch Atomwaffen zum Einsatz kommen. Deshalb legten sie solchen Wert darauf, den Inhalt des Treffens geheim zu halten.
Wurde Scholz gebeten, der Entsendung von Nato-Truppen in die Ukraine oder vielleicht nach Weißrussland zuzustimmen? Ging es darum, endgültig grünes Licht für die Lieferung von Kampfjets zu geben? Wollte Biden eine Garantie, dass deutsche Streitkräfte in den Kampf geschickt werden? Nichts kann ausgeschlossen werden, und die Medien stellen keine Fragen.
Dennoch steht außer Zweifel, dass Biden und Scholz bei ihrem Treffen über eine solche Eskalation des Kriegs sprachen und entsprechende Beschlüsse fassten. Der Spiegel, der über gute Drähte zu Regierungskreisen verfügt, bezeichnet das Treffen als „Kriegsgipfel“.
„Die Visite von Scholz war als ‚Arbeitsbesuch‘ angekündigt,“ schreibt das Nachrichtenmagazin. „In Wahrheit ist der Kanzler für einen Kriegsgipfel nach Washington gereist. Offenkundig treibt sowohl Scholz als auch Biden um, dass der Ukrainekrieg schon im zweiten Jahr steht und noch immer völlig unklar ist, wie er enden soll.“
Eine weitere Eskalation des Kriegs durch die Nato erfordert auch, dass Deutschland und die USA grundlegende geopolitische und wirtschaftliche Differenzen, die sich mit dem Ukrainekrieg weiter verschärft haben, vorübergehend zurückstellen. Das betrifft vor allem das Verhältnis zu China und Bidens „Inflation Reduction Act“. Die USA versuchen China wirtschaftlich zu isolieren und bereiten einen Krieg gegen das bevölkerungsreiche Land vor, das für Deutschland der wichtigste außereuropäische Wirtschaftspartner neben den USA ist. Der „Inflation Reduction Act“ gilt in Europa als Handelskriegsmaßnahme zur Abwerbung europäischer Unternehmen.
Bei einem kurzen Fototermin vor dem Treffen überhäuften sich Biden und Scholz gegenseitig mit Komplimenten. Die Szene erinnerte an zwei Mafia-Paten, die sich vorübergehend versöhnen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
„Ich möchte dir für deine starke und beständige Führung danken. Das meine ich aufrichtig,“ schmeichelte Biden. „Neben der militärischen Unterstützung war auch die moralische Unterstützung, die du den Ukrainern gegeben hast, von großer Bedeutung.“ Scholz habe bei der Steigerung der deutschen Verteidigungsausgaben und der Abkehr von der Abhängigkeit von russischer Energie „historische Veränderungen“ vorangebracht.
Scholz nannte das deutsch-amerikanische Verhältnis so gut wie seit vielen Jahren nicht mehr. Es sei wichtig gewesen, dass beide Länder nach Kriegsbeginn bei der Unterstützung für Kiew „gemeinsam gehandelt“ hätten. „Jetzt ist es sehr wichtig, dass wir die Botschaft aussenden, dass wir das weiterhin tun werden, solange es dauert und solange es nötig ist.“
Es ist anzunehmen, dass Biden und Scholz gegenseitige Deals vereinbart haben, von denen die Öffentlichgkeit besser nichts erfährt: „Ich stimme der Lieferung von Kampfjets zu und du setzt uns im Handel mit China nicht unter Druck“, usw.
Der Kriegsgipfel in Washington erinnert an die Geheimdiplomatie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Die imperialistischen Mächte schlossen damals zahlreiche geheime Verträge, die 1914 maßgeblich zur Eskalation des Ersten Weltkriegs beitrugen. Die Öffentlichkeit erfuhr davon erst, als sie die Regierung von Lenin und Trotzki nach der Oktoberrevolution 1917 die Geheimverträge veröffentlichte.
Der Kriegsgipfel von Biden und Scholz und die damit verbundene Geheimhaltung unterstreichen, dass der Nato-Krieg in der Ukraine und die Gefahr einer nuklearen Katastrophe nicht durch pazifistische Appelle an die kriegsführenden Regierungen aufgehalten werden können. Diese reagieren nicht auf öffentlichen Druck, sondern fühlen sich allein den Reichen und Mächtigen in Konzernen und Banken verantwortlich.
Sie werden durch die unlösbaren Gegensätze des Kapitalismus getrieben – die Verschärfung der Klassengegensätze und den Kampf um Rohstoffe, Absatzmärkte und Weltmacht – und taumeln, wie vor einem Jahrhundert, wieder Richtung Weltkrieg und Diktatur.
Der Kampf gegen diesen Wahnsinn erfordert den Aufbau einer internationalen Bewegung der Arbeiterklasse, die den Kampf gegen Krieg mit dem Kampf gegen seine Ursache, den Kapitalismus, und für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft verbindet.
Die objektiven Voraussetzungen dafür entwickeln sich auf der ganzen Welt mit der Verschärfung des Klassenkampfs sehr schnell. Doch subjektiv befinden sich die Kapitalisten noch im Vorteil: Sie sind sich ihrer Interessen bewusst, sitzen an den Hebeln der Staatsmacht und verfügen über eine Vielzahl von Hilfskräften – von den rechten und angeblich linken Parteien über die Gewerkschaften bis zu den kriegstrunkenen Medien.
Die Lösung des subjektiven Faktors gewinnt daher größte Bedeutung – der Aufbau neuer Arbeiterparteien, die ein sozialistisches und internationalistisches Programm vertreten, der Aufbau der Sozialistischen Gleichheitspartei und ihrer Schwesterparteien im Internationalen Komitee der Vierten Internationale.
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