Auf der ganzen Welt behaupten kapitalistische Regierungen und Zentralbanken, dass Zinserhöhungen notwendig seien, um die „Inflation zu bekämpfen“. Damit sollen Lohnforderungen unterdrückt werden. Ein Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entkräftet diese Behauptung. Tatsächlich werden große Teile der Weltwirtschaft durch diese Zinspolitik jedoch zurzeit in die Rezession getrieben.
Der im November veröffentlichte ILO-Weltlohnbericht, der „Global Wage Report 2022-23“, zeigt, dass die Reallöhne bereits jetzt immer stärker sinken, während die Preise so schnell steigen wie seit vier Jahrzehnten nicht mehr.
Dennoch verbreiten die Hüter des internationalen Kapitals weiterhin die große Lüge, dass die Forderungen der Arbeiter für die Inflationsspirale verantwortlich seien und deshalb unterdrückt werden müssten.
An der Spitze des Klassenkriegs der Zentralbanker steht der Vorsitzende der Federal Reserve, Jerome Powell. Letzte Woche erklärte der Chef der US-Notenbank in einer großen Rede an der Brookings Institution: „In der Zukunft werden wahrscheinlich ein sehr wichtiger Teil der [Inflations-]Geschichte die Lohnerhöhungen sein.“
Er betont, dass auf dem Arbeitsmarkt ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage bestehe. Ihm zufolge gehen selbst begrenzte Erhöhungen der Nominallöhne – die deutlich unter der Inflationsrate liegen – über das hinaus, was die Fed als vereinbar betrachtet mit Blick auf ihr selbst gestecktes Inflationsziel von 2 Prozent.
Nach dem ILO-Bericht zeigen die für dieses Jahr verfügbaren Daten, dass die steigende Inflation das Reallohnwachstum in vielen Ländern in den negativen Bereich abrutschen lässt. Dies verringert die Kaufkraft der Mittelschicht und trifft einkommensschwache Gruppen besonders hart, heißt es in dem Bericht.
Die Krise der steigenden Lebenshaltungskosten kommt zusätzlich zur Covid-19-Krise, die in vielen Ländern die einkommensschwachen Gruppen am stärksten getroffen hat.
„In Ermangelung angemessener politischer Maßnahmen“, so der Bericht, „könnte es in naher Zukunft zu einem drastischen Rückgang des Realeinkommens von Arbeitern und ihrer Familien sowie zu einer Zunahme der Ungleichheit kommen, was die wirtschaftliche Erholung gefährden und möglicherweise weitere soziale Unruhen schüren würde.“
Dem Bericht zufolge zeigten die globalen Daten für die erste Hälfte dieses Jahres einen „auffälligen Rückgang der monatlichen Reallöhne“. Diese sanken um 0,9 Prozent, was den ersten negativen Wert seit der ersten Ausgabe des Weltlohnberichts im Jahr 2008 darstellt.
Der Rückgang war in den Volkswirtschaften der G20-Nationen, in denen 60 Prozent der Lohnempfänger der Welt leben, wesentlich stärker und wird für die ersten sechs Monate dieses Jahres auf 2,2 Prozent geschätzt.
Am stärksten war der Rückgang in Nordamerika, den USA und Kanada. Der Reallohnzuwachs lag im Jahr 2021 bei Null und fiel dann in den ersten sechs Monaten dieses Jahres auf minus 3,2 Prozent. In der Europäischen Union, wo in den Jahren 2020 und 2021 wegen der Pandemie Lohnkostenzuschüsse gezahlt wurden, stiegen die Reallöhne leicht an, lagen aber in der ersten Hälfte dieses Jahres bei minus 2,4 Prozent, womit alle vorherigen begrenzten Zuwächse zunichte gemacht wurden.
Der Bericht verweist auch auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die in den Daten zu den Durchschnittslöhnen nicht erfasst sind.
Die Analyse ergibt: „Die Kombination aus Arbeitsplatzverlust, kürzeren Arbeitszeiten und Anpassungen der Stundenlöhne während der Krise hat in vielen Ländern zu einer Häufung von Einkommensverlusten bei Lohnempfängern und ihren Familien geführt.“
Die Zusammenstellung von Daten aus 28 Ländern, die verschiedene Regionen und Einkommensgruppen repräsentieren, zeigt, dass die Gesamtlohnsumme im Jahr 2020 um 1 bis 26 Prozent sank. Der durchschnittliche Rückgang betrug dabei 6,2 Prozent, was einem Verlust von drei Wochenlöhnen für jeden durchschnittlichen Arbeiter entspricht.
In 21 Ländern, für die Daten für 2020 und 2021 vorlagen, entsprach der Rückgang der Gesamtlöhne dem Verlust von vier Wochenlöhnen pro Arbeiter im Jahr 2020 und zwei Wochenlöhnen im Jahr 2021, also einem kumulierten Verlust von sechs Wochenlöhnen über zwei Jahre.
Die Standarddoktrin der kapitalistischen Wirtschaft besagt, dass die Reallöhne nur dann steigen können, wenn die Produktivität zunimmt. Das heißt, die Arbeiterklasse und das Kapital können sich den Anstieg der Wirtschaftsleistung „teilen”.
Diese Fiktion wird durch die Daten der ILO entlarvt. Sie machen deutlich, dass das Wirtschafts- und Finanzsystem ein institutionalisierter Mechanismus zur Abschöpfung allen zusätzlich erwirtschafteten Reichtums in die Kassen der Konzerne und der Finanzoligarchie ist.
Dem Bericht zufolge ist das Reallohnwachstum in 52 Ländern mit hohem Einkommen seit dem Jahr 2000 geringer als das Produktivitätswachstum, und die Erosion der Reallöhne in der ersten Hälfte dieses Jahres in Verbindung mit dem positiven Produktivitätswachstum hat die Kluft vergrößert.
„Tatsächlich erreichte die Kluft zwischen Produktivitäts- und Lohnwachstum im Jahr 2022 mit einem Produktivitätswachstum, das 12,6 Prozent über dem Lohnwachstum lag, den größten Wert seit Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts“, so der Bericht.
Wie Rana Foroohar, Kolumnistin der Financial Times, in einem Kommentar zu dem Bericht feststellt: „Die Menschen arbeiten härter und besser. Aber sie ziehen einfach nicht so viel monetären Nutzen aus ihren Bemühungen, wie sie es in der Vergangenheit getan hätten.“
Die angebliche „Rechtfertigung“, die Powell und andere Zentralbanker für die Zinserhöhungen anführen, lautet, dass diese Maßnahmen notwendig seien, um eine Lohn-Preis-Spirale zu verhindern, die ein noch schlechteres Ergebnis wäre.
Dem ILO-Bericht zufolge zeigen jedoch „empirische Belege“, dass die Nominallöhne nicht mit der Inflation Schritt halten, und „die Kluft zwischen Lohn- und Produktivitätswachstum vergrößert sich weiter, wobei die Arbeitsproduktivität steigt … und die Löhne real sinken“.
„Daher“, so der Bericht weiter, „scheint es in vielen Ländern Spielraum für Lohnerhöhungen zu geben, ohne dass es zu einer Lohn-Preis-Spirale kommt.“
Mit anderen Worten: Die Daten legen nahe, dass „Vernunft“ die Oberhand gewinnen und die kapitalistische Wirtschaft irgendwie dazu gebracht werden sollte, zumindest einen Teil des gesamten Reichtums der Arbeiterklasse zu gönnen, die ihn schließlich hervorgebracht hat.
Dies ist vergleichbar mit der Behauptung, dass ein Atomkrieg - eine allgegenwärtige Gefahr, die sich aus dem Krieg der USA und der Nato gegen Russland in der Ukraine ergibt - nicht stattfinden werde, weil die Folgen zu schrecklich wären, und sich die herrschenden Klassen deshalb zurückziehen würden.
Solche Argumente ignorieren die Tatsache, dass die Geopolitik nicht von Rationalität, sondern vom Streben der imperialistischen Mächte nach globaler Vorherrschaft bestimmt wird.
Auch im Bereich der Wirtschaft ignoriert der Appell an die Vernunft die Tatsache, dass die kapitalistische Wirtschaft nicht im Interesse der Bevölkerung funktioniert, sondern dem unaufhörlichen Streben nach Profit unterliegt.
In den letzten drei Jahrzehnten und insbesondere in den letzten 15 Jahren haben die Zentralbanken Billionen Dollar in das Finanzsystem gepumpt, um dessen Zusammenbruch zu verhindern, angefangen mit der globalen Finanzkrise von 2008 und beschleunigt nach der Krise Anfang 2020, als die Pandemie zuschlug.
Dadurch ist ein Berg von fiktivem Kapital entstanden, das aus Schulden und stark aufgeblähten Aktien- und Vermögenswerten besteht. Dieses fiktive Kapital verkörpert keinen realen Reichtum, sondern ist vielmehr ein Anspruch auf den Reichtum, der der Arbeiterklasse im Produktionsprozess entzogen wird.
Nun fällt diese Entwicklung in Form einer steigenden Inflation – das Ergebnis einer verfehlten Corona-Politik, einer schier unbegrenzten Versorgung mit billigem Geld und des Krieges gegen Russland in der Ukraine – auf ihre Verursacher zurück. Die herrschende Klasse versuchen, die von ihr selbst geschaffene Krise zu lösen, indem sie die Arbeiterklasse dafür zahlen lässt.
Dies ist sicherlich nicht das Ansinnen der ILO – sie will eine irgendwie begrenzte Reform und „vernünftigere“ Maßnahmen erreichen. Aber ihr Bericht, der auf „empirischen Beweisen“ beruht, unterstreicht die Notwendigkeit für die Arbeiterklasse, ihr eigenes unabhängiges Programm zu verfolgen. Nur so kann die zunehmende Krise des Profitsystems durch den Kampf für ein internationales sozialistisches Programm gelöst werden.